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Coronavirus: OK Boomer, Jugendliche haben ein Recht auf Party!


Recht auf Party?
Die Jugend muckt auf wegen Corona – zu Recht!

  • Lamya Kaddor
MeinungVon Lamya Kaddor

Aktualisiert am 03.09.2020Lesedauer: 6 Min.
Meinung
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Eine Frau feiert mit Mundschutz (Symbolfoto): Der Hauptgrund für die Missachtung jugendlicher Bedürfnisse liegt in unserer Gesellschaftsstruktur.Vergrößern des Bildes
Eine Frau feiert mit Mundschutz (Symbolfoto): Der Hauptgrund für die Missachtung jugendlicher Bedürfnisse liegt in unserer Gesellschaftsstruktur. (Quelle: getty-images-bilder)

Die Empörung war groß, als sich junge Menschen in Deutschland nicht an Corona-Regeln hielten. Das Problem war hausgemacht, sagt unsere Kolumnistin. Die Politik muss sich grundlegend ändern.

Die Corona-Krise hat viele Leidtragende hervorgebracht. Über eine Gruppe jedoch wird vergleichsweise wenig gesprochen, und wenn, dann ohne jegliches Verständnis, dafür mit heftigen Vorwürfen. Es geht um Jugendliche oder junge Erwachsene. Man hält ihnen Sorglosigkeit vor, wenn sie trotz Corona feiern wollen. Egoismus. Verantwortungslosigkeit. Asoziales Verhalten. Nach dem Motto: Bei diesen verwöhnten Wohlstandskindern prangt Corona doch höchstens noch auf der Bierflasche.

Gibt es ein Recht auf Party in der Corona-Krise? Die Beastie Boys deuteten die Antwort 1986 bereits an: "You gotta fight for your right to party". Und selbst, wenn die Rap-Rocker es damals ironisch meinten, haben sie doch einen Punkt gemacht: Selbstverständlich muss es ein Recht auf Party geben. Nicht gesetzlich selbstredend, aber moralisch sehr wohl.

Quasi mit Beginn des Lockdowns im Frühjahr diskutierte die Öffentlichkeit darüber, wie man trotz aller Corona-Einschränkungen im Sommer Urlaube realisieren könne – zur Entspannung und Zerstreuung gestresster und geplagter Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer und Eltern.

Bedürfnisse wurden missachtet

Was ebenfalls geplagte und gestresste junge Leute zwischen Prüfung, Ausbildung, Studium und den alltäglichen Herausforderungen der Adoleszenz zur Entspannung und Zerstreuung machen könnten, interessierte indes niemanden. Für ihre Entwicklung ist das jedoch ganz wichtig: Die Unbeschwertheit des Lebens kann man nur in jungen Jahren genießen. Dazu gehört Freundinnen und Freunde treffen und feiern gehen. Das kann ein Staat nicht dauerhaft unterbinden. Diskotheken und Clubs waren die ersten, die schließen mussten und werden die letzten sein, die wieder normal öffnen dürfen.

Der Hauptgrund für die Missachtung jugendlicher Bedürfnisse liegt in unserer Gesellschaftsstruktur. Politikerinnen und Politiker, Journalisten und Journalistinnen, Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft, die in der Regel einem Thema Öffentlichkeit verschaffen könnten, sind für gewöhnlich dem Alter entwachsen, in dem man Party macht. Ihr Blick aufs Leben geht längst in eine andere Richtung: Familie, Beruf, Altersabsicherung. Ihre Sturm- und Drangzeit ist passé, ihre Realität eine andere geworden.

Ü30-Menschen dominieren die Bevölkerung

Das gilt auch für den größten Teil der deutschen Gesellschaft. Junge Leute zwischen 15 und 30 Jahre haben gerade mal einen Anteil von 17 Prozent an der Bevölkerung. Die Ü-30 dominieren Deutschland zu mehr als zwei Drittel. Teens und Twens dürfen für ihre Belange also nicht mit sonderlich viel Empathie ihrer Mitmenschen rechnen, da die meisten um sie herum mit ihrer Lebenswelt kaum noch etwas gemein haben.


Hinzu kommt eine fehlende oder schwache Lobby. Zwar gibt es beispielsweise einen Bundesverband deutscher Discotheken und Tanzbetriebe (BDT), doch der liegt im Dornröschenschlaf. Die letzte und bisher einzige Pressemitteilung dieses Jahr stammt vom 25. Mai. Der letzte Eintrag auf Facebook vom 19. Oktober 2019. Halt. Seit vergangener Woche hängt sich der BDT an die für den 9. September in Berlin geplante Demo "#alarmstuferot" zur Rettung der Veranstaltungswirtschaft. Immerhin.

Auch von den Jugendorganisationen der Parteien kommt wenig bis gar nichts zum Thema Freizeitmöglichkeiten in der Corona-Pandemie. JU, Julis, Jusos, Grüne- oder Linksjugend lavieren irgendwo zwischen unausgereiften Forderungen, Schulterzucken und Ablehnung, wie jüngst eine Umfrage der dpa zeigte. Sie orientieren sich bei ihren Themensetzungen weitgehend an den großen Leitlinien ihrer Mutterparteien.

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Dabei sollten gerade sie stärker Themen und Bedürfnisse von Jugendlichen erspüren, aufgreifen und diese mittels ihrer Brückenfunktion zu jenen im mittleren und höheren Erwachsenenalter transferieren, statt überwiegend jungen Leuten die Bedürfnisse und Themen der Erwachsenen nahezubringen. Wenn sich schon politische Jugendorganisationen das nicht auf die Fahnen schreiben, wer dann? "Das Gefühl, dass die Politik nicht genug für sie tut, haben beide jugendlichen Lager", sagt der renommierte Jugendforscher Klaus Hurrelmann mit Blick auf Corona-Krise, "die gut Gebildeten und weitgehend Zufriedenen ebenso wie die schlecht Situierten."

Recht auf Feiern? Blicken Sie doch mal in Ihre Jugendzeit

Wer ein "Recht auf Feiern" nicht nachvollziehen kann, sollte kurz in sich gehen. Als ich 16 Jahre alt war, war es selbstverständlich, dass ich mich mit Freundinnen und Freunden treffen konnte, wo ich wollte. Für manche von uns war es völlig selbstverständlich, jedes Wochenende und zum Teil noch in der Woche Party bis 6 Uhr morgens zu machen. Wie hätten wir wohl reagiert, wenn das damals von einem auf den anderen Tag unterbunden worden wäre? Eine gewisse Zeit hätten wir es wohl akzeptiert. Aber nach mehreren Monaten ohne Aussicht auf ein Ende, was dann?

Vermutlich hätten wir es so gemacht, wie die jungen Leute heute. Wir wären "cornern" gegangen, hätten uns an Straßenecken oder auf öffentlichen Plätzen versammelt. In der Hasenheide in Berlin. In der Altstadt von Stuttgart oder Frankfurt am Main. Auf dem Parkplatz von McDonalds. Auf dem Spielplatz. Etc. Trotzdem hätte sich der Frust bei einigen von uns dadurch wohl nicht ganz abbauen lassen. Unter den bekannten Hitzköpfen aus unserer Jugend (wir alle haben Gesichter vor dem geistigen Auge) wären gewiss einigen die Sicherungen durchgebrannt. Zur Erinnerung: Bereits in den 50er Jahren prügelten sich Jugendliche ganz ohne Corona mit Polizisten durch Innenstädte. Damals sprachen sie von "Halbstarken".

Zur Gesellschaftspolitik gehört Jugendpolitik dazu. Das lehrt die Geschichte und wir sollten die Lektionen begreifen. Ein gesunder Staat lässt sich nicht ohne die Jugend bauen. Wir brauchen sie, und sie braucht uns.

Arroganz und Häme sind deplatziert

Doch was kann man tun? Angesichts der Gefahren durch Corona einfach alles laufen zu lassen, ist unmöglich. Discos, Clubs und Partylocations schlicht wiedereröffnen, plump auf Abstand, Hygiene und Alltagsmasken verzichten, geht nicht. Exzesse wie in der Hasenheide kann die Polizei nicht dulden. Das moralische "Recht auf Party" steht in Konkurrenz zum tatsächlichen Recht auf körperliche Unversehrtheit. Hier zieht Feiern den Kürzeren, denn Letzteres ist bekanntlich im Grundgesetz festgeschrieben.

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Die Spannungen werden sich folglich nicht zur Zufriedenheit aller lösen lassen, aber sie können abgebaut werden. Allein durch mehr Anteilnahme ließe sich ein Anfang gestalten. Wenn junge Leute wahrnehmen könnten, dass die Gesellschaft ihre Probleme und Sorgen immerhin zur Kenntnis nimmt, wird ein allzu lauter Schrei nach Liebe überflüssig. Wer ihre Bedürfnisse dagegen mit Arroganz und Häme abbügelt, fängt sich im glimpflichsten Fall ein spöttisches "OK Boomer" als Antwort ein und im schlimmsten Fall Krawalle, wobei schon solche Respektlosigkeiten gegenüber der Baby-Boomer-Generation, also der Kohorte der bis Ende der 60er Jahre Geborenen, die heute das Sagen im Land hat, die Fronten zwischen den Altersgruppen nur verhärten würden.

Der nächste Schritt besteht in der besseren Einbeziehung von Jugendlichen in politische Entscheidungsfindungen und in das Kommunizieren getroffener Entscheidungen. Dazu gibt es verschiedene Möglichkeiten von politischen Jugendorganisationen über Jugendparlamente bis zur Herabsetzung des Wahlalters. Zu Beginn der Pandemie hatten sich viele Jugendliche überwiegend vernünftig verhalten und die Corona-Maßnahmen akzeptiert. Diese Vernunft hält nicht ewig an, wenn man nicht mal mit ihnen redet.

Was ist mit "Popup-Biergärten" oder "Silent Discos"?

Städte, Gemeinden, Vereine, Verbände müssen sich zusammen mit Virologen und Epidemiologen Gedanken machen, ob und wie man Partys unter Corona-Auflagen realisieren kann.

Vielleicht im Freien, wo die Ansteckungsgefahren geringer sind und Abstände besser eingehalten werden können. Das ginge mit entsprechender Kleidung selbst im Herbst oder Winter. Manche Städte haben "Popup-Biergärten" gestattet.

  • Wie wäre es mit einer "Popup-Disco"?
  • Oder mit einer "Silent Disco" auf dem Schlossplatz?
  • Oder mit Partytischen auf Tanzflächen zu lauter Musik in gut klimatisierten Clubs oder durchlüfteten Partyzelten?

Vielleicht lassen sich mit Hilfe von überschüssigen Corona-Testkapazitäten klassische Party-Events ohne AHA-Regeln in einem überschaubaren Rahmen veranstalten? Morgens testen, abends feiern?

Es müssen alternative Freizeitgestaltungen her

Manche junge Erwachsene fürchten schwerwiegende Covid-19-Erkrankungen nicht, haben de facto ein geringeres Risiko zu erkranken und keine Kontakte zu Risikogruppen; etwa, weil sie außerhalb ihres Wohnorts studieren. Dafür verfügen sie vielleicht über die Corona-Warn-App und sind bereit, ihre persönlichen Daten für eine Party zu hinterlassen. Vielleicht kann man diese jungen Leute, sofern sie volljährig sind, einfach feiern lassen?

Vielleicht sind sie auch bereit, im Gegenzug für eine Party im klassischen Stil anschließend in ein- oder zweiwöchige Quarantäne zu gehen? Das würde zwar Teile der Feierwütigen ausschließen, aber die alten Ü30-Partys richten sich ebenfalls nur an bestimmte Zielgruppen und sind in diesem Sinne unfair.

Solche Ideen sind Ergebnisse eines kurzen Brainstormings. Ich weiß nicht, ob sie tatsächlich realisierbar sind. Ich weiß aber, dass Expertinnen und Experten sich darüber Gedanken machen sollten.

Wo Partys definitiv nicht möglich sind, müssen alternative Freizeitgestaltungen her. Im Zeitalter von Games und Internet sind längst nicht mehr nur Partys ein Thema. Während der Corona-Pandemie wurden jedoch kaum Alternativen entwickelt. Die Überlegungen beschränkten sich darauf, was während Corona zu beschränken ist und was wann wieder unbeschränkt sein könnte. Das reicht nicht.

Ebenso wenig reicht es, nur auf Online-Lösungen zu schielen. Ohne reale Kontakte geht es nicht. Hier ist Kreativität gefragt. Alle sind aufgerufen, ihre Fantasie spielen zu lassen. Jugendliche gehören zur Gesellschaft und müssen beachtet werden. Wir können sie nicht dauerhaft ignorieren, nur weil sie demographisch in der Minderheit sind, und sie am Ende noch beschimpfen, wenn sie aus lauter Frust aus der Reihe tanzen.

Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr aktuelles Buch heißt "Muslimisch und liberal!" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.

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