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Gerhard Schröder: Es kommt auf die Wirtschaft an – und nicht auf Klimaschutz


Klartext vom Altkanzler
Es kommt auf die Wirtschaft an – nicht nur auf den Klimaschutz

MeinungGerhard Schröder

Aktualisiert am 01.07.2021Lesedauer: 6 Min.
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Gerhard Schröder: Der Altkanzler räumt der Wirtschaft Priorität ein, und nicht dem Klimaschutz.Vergrößern des Bildes
Gerhard Schröder: Der Altkanzler räumt der Wirtschaft Priorität ein, und nicht dem Klimaschutz. (Quelle: Imago/Montage t-online)

Die Wahlprogramme der Parteien zeigen: Sie wollen lieber das Erreichte verwalten, statt die Zukunft zu gestalten. Dabei braucht Deutschland dringend einen Modernisierungsschub.

Die Corona-Pandemie hat zu einem massiven Wirtschaftseinbruch geführt. Wahrscheinlich werden wir das Vorkrisenniveau erst 2022 wieder erreichen. Weil uns das Wachstum von zwei Jahren fehlt, erleiden wir beträchtliche Wohlstandsverluste. Die werden wir noch schmerzlich spüren.

Und sie erhöhen den Reformdruck in Deutschland. Wenn ich allerdings die Programme der Parteien für die anstehende Bundestagswahl analysiere, bin ich mir nicht sicher, ob das wirklich schon alle verstanden haben. Auch der in der vergangenen Woche vorgelegte Programmentwurf von CDU und CSU hat keinen Modernisierungsanspruch, sondern will das Erreichte verwalten, statt die Zukunft zu gestalten.

Auf die Wirtschaft kommt es an

Alle Parteien vermitteln den Eindruck, dass Klimaschutz das absolut wichtigste Thema sei, dem sich alles andere unterzuordnen habe. Ja, ohne Zweifel ist Klimaschutz wichtig, aber er darf nicht verabsolutiert werden, auch wenn das Bundesverfassungsgericht in einer etwas anmaßenden Art dies vorzuschreiben versucht.

Wer diese Bundestagswahl gewinnen will, der muss sich das alte Wahlkampfmotto von Bill Clinton ins Gedächtnis rufen: "It's the economy, stupid." (Auf die Wirtschaft kommt es an, Dummkopf.) Clinton lag in den Umfragen bei der Präsidentschaftswahl 1992 anfangs nur auf dem dritten Platz und konzentrierte seine Kampagne auf dieses Thema.

Wer wie die Grünen mit einer übersteigerten Klimaschutzpolitik die Deindustrialisierung Deutschlands vorantreibt und damit Millionen Jobs gefährdet, wird sicherlich ein bestimmtes, eher wohlhabendes, großstädtisches und akademisiertes Wählerklientel erreichen. Aber das reicht nicht, und das darf auch nicht der Anspruch für Volksparteien wie SPD und Union sein, die nur dann Wahlsiege einfahren konnten, wenn sie sich um die Mitte der Gesellschaft gekümmert haben.

Und die Mitte der Gesellschaft sind diejenigen, die jeden Morgen aufstehen und in den Fabriken, Verwaltungen und Geschäften arbeiten gehen, ihre Steuern zahlen und die von der Gesellschaft definierten Regeln einhalten. Sie haben einen Anspruch darauf, dass ihre Interessen zählen. Und deshalb müssen die Parteien für die Bundestagswahl am 26. September neben dem Klimaschutz vor allem die Wirtschaft und die Zukunftsfragen, die für eine moderne und erfolgreiche Industriegesellschaft entscheidend sind, in den Fokus rücken.

Da sind zunächst die Veränderungen in der Weltpolitik und -wirtschaft. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht zwischen die entscheidenden Fronten des 21. Jahrhunderts geraten: Auch wenn ich die Auseinandersetzung zwischen den USA und China nicht als Krieg bezeichnen würde, so kommt sie doch dem Status eines neuen Kalten Krieges nahe. Die USA werden zweifellos eine Supermacht bleiben, aber China will eben auch eine werden. Dieser Prozess kann nicht verhindert werden und wird nicht konfliktfrei ablaufen.

Was heißt das für Deutschland? Zunächst einmal, dass wir verstehen müssen, dass kein europäischer Staat allein auch nur ansatzweise in der Liga der USA und China mitspielen kann. Nur die EU als Ganzes hat die Chance, auch uns Deutsche als gleichberechtigten Player in der weltweiten Wirtschaft und Politik im Spiel zu halten.

Dabei müssen wir aber eine eigenständige Rolle finden und diese dann auch tatsächlich spielen. Wir dürfen uns nicht in die Auseinandersetzung zwischen den USA und China darüber, wer die wahre Nummer eins ist, reinziehen lassen. Natürlich sind wir sicherheitspolitisch von den USA abhängig, aber wirtschaftspolitisch eben auch von China. Es würde der deutschen Industrie massiv schaden, wenn wir uns von den USA für ihre Zwecke in aggressiver Weise vereinnahmen lassen würden. Schließlich sollten wir uns nicht täuschen: Joe Biden ist weitaus freundlicher als Donald Trump, aber genauso hart in der Sache.

Diese fünf Reformen brauchen wir jetzt

Die Folgen der Pandemie und des Konflikts zwischen den USA und China werden unsere Zukunft also auf jeden Fall beeinflussen. Aber wir werden die weitere Entwicklung nicht allein beeinflussen können. Dafür hängt sie von zu vielen Faktoren ab.


Gerhard Schröder war von 1998 bis 2005 Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. An der Spitze einer rot-grünen Bundesregierung setzte er damals unter anderem umfassende Sozialreformen (Hartz-Gesetze) durch. Der 77-Jährige arbeitet heute als Rechtsanwalt in Hannover, wo er mit seiner Frau, der südkoreanischen Wirtschaftsexpertin Soyeon Schröder-Kim, lebt. Außerdem ist er Aufsichtsratsvorsitzender des russischen Energiekonzerns Rosneft und der Pipeline Nord Stream.

Was wir aber in Deutschland beeinflussen können, ist die Antwort auf die Frage, ob wir unsere eigenen Hausaufgaben machen. Wir haben uns ja in der Corona-Krise vergleichsweise ordentlich geschlagen. Das hat auch damit zu tun, dass wir früher als andere Länder wichtige Reformen angepackt haben. Aber es ist auch immer deutlicher erkennbar, dass mehr als anderthalb Jahrzehnte nach Verabschiedung der Agenda 2010 ein beträchtlicher Teil der Reformdividende aufgezehrt ist.

Wir brauchen deshalb für die nächste Wahlperiode einen umfassenden Ansatz neuer Reformen. Müsste ich heute eine Agenda 2030 formulieren, würde ich folgende fünf Schwerpunkte setzen:

Erstens: Rentenpolitik wird bei uns vor allem als Verteidigungspolitik für diejenigen betrieben, die Rentner sind. Wir brauchen deshalb deutlich mehr Flexibilität im System. Damit meine ich nicht unbedingt ein höheres Rentenalter. Aber wer länger arbeiten will, muss es auch dürfen. Und es ist doch klar, dass es auch weiterhin Unterschiede geben muss. Ein Dachdecker kann eben nicht so lange arbeiten wie ein Buchhalter. Entscheidend ist auch, dass es künftig keine Spontanreformen wie die Rente mit 63 oder die Mütterrente mehr gibt, mit denen Leistungen verfrühstückt werden, die noch nicht erbracht wurden.

Zweitens: Wir brauchen viel mehr öffentliche Investitionen. Und zwar nicht nur bei Themen wie dem Klimaschutz, die gerade in Mode sind. Nein, wir benötigen auch mehr Geld für Infrastruktur wie Digitalisierung, Straßen und Schienen. Denn wir sind längst nicht mehr führend. Nicht in Europa und schon gar nicht weltweit. Der Ausbau der Infrastruktur scheitert nicht unbedingt an mangelnden finanziellen Ressourcen, sondern häufig an Genehmigungsverfahren, die im globalen Vergleich ihresgleichen suchen. Es ist abenteuerlich anzunehmen, dieses Ausmaß an Beteiligung und zähen, langwierigen Entscheidungsprozessen sei aufrechtzuerhalten.


Drittens: Unser größter Wettbewerbsvorteil liegt in den Köpfen der Menschen. Deshalb brauchen wir auch deutlich mehr Investitionen in den Bildungsbereich. Denn wir müssen aufpassen, dass unser Bildungssystem, das einmal eines der offensten und modernsten der Welt war, nicht Negativbeispielen wie Frankreich und England immer ähnlicher wird. Das hieße: Die Herkunft entscheidet über Erfolg. Ich befürworte die Herausbildung von Eliten, auch wenn viele diesen Begriff nicht mögen. Aber die entscheidende Frage für mich ist, ob jemand qua Geburt oder qua Leistung zur Elite gehört. Wenn wir dieses Aufstiegsversprechen nicht allen jungen Menschen machen können, sind wir nicht auf der Höhe der Zeit. Und dazu gehört eben auch, dass der Staat diejenigen unterstützt, die zu Hause nicht die notwendige Förderung bekommen.

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Viertens: Wir sind zu schlecht bei der Förderung von Start-ups und anderen jungen Unternehmen. Das hat damit zu tun, dass unsere Banken Risiken zu sehr scheuen und dass die staatlichen Institutionen diese Lücken nicht ausreichend ausfüllen. Wir brauchen auch ein Insolvenzsystem, das eher akzeptiert, dass bei Gründungen auch mal etwas schiefgehen kann. Deshalb benötigen wir einen doppelten Mentalitätswechsel: Wer in Deutschland etwas wagt, das Sinn ergibt, muss erstens in der Lage sein, dieses Wagnis finanziert zu bekommen. Und er muss zweitens, wenn es trotzdem schiefgeht, wieder aufstehen können. Denn Versagen darf nicht länger ein Stempel für die Ewigkeit sein.

Fünftens: Wir brauchen ein wettbewerbsfähiges Unternehmenssteuerrecht. Weil wir im internationalen Vergleich bereits hohe Sätze haben, dürfen wir die Kosten der Pandemie nicht durch eine weitere Belastung der Firmen finanzieren. Die Folge wären nur noch weniger Investitionen. Was mir wichtig ist: Es geht nicht darum, den Wettbewerb um möglichst niedrige Steuersätze zu gewinnen, sondern um möglichst vernünftige. Schließlich muss unser Sozialstaat auch finanziert werden. Und dabei gilt eben: Ein Sozialstaat, der für einen Ausgleich in der Gesellschaft sorgt, hilft auch der Wirtschaft. Gleichzeitig können wir unser hohes Leistungsniveau aber nur erhalten, wenn die Unternehmen erfolgreich sind.

Was Hoffnung macht

Ich habe fünf Punkte definiert, die aus meiner Sicht entscheidend dafür sind, dass wir in Deutschland eine erfolgreiche Zukunft haben. Nun stellt sich natürlich die Frage, ob die Parteien, die ja inzwischen ihre Wahlprogramme veröffentlicht haben, diesen Anforderungen gerecht werden, also aus meiner Sicht auf der Höhe der Zeit sind.

Die knappe Antwort ist: leider nein.

Aber noch haben die Parteien, auch meine eigene, die Chance, diese Zukunftsfragen in den nächsten Wochen in den Vordergrund zu rücken. Wirtschaft und Arbeitsplätze sind das, was aktuell zählt. It's the economy! – Bill Clinton hat die Wahl im Jahr 1992 übrigens haushoch gewonnen.

Die im Gastbeitrag geäußerten Ansichten geben die Meinungen der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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