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Deutsche Krisenpolitik: Annalena Baerbocks größtes Problem


Deutsche Krisenpolitik
Baerbocks größtes Problem

MeinungEin Essay von Patrick Diekmann

03.02.2022Lesedauer: 8 Min.
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Annalena Baerbock: Mit der Strategie einer "wertegeleiteten Außenpolitik" weckt die Außenministerin trügerische Erwartungen.Vergrößern des Bildes
Annalena Baerbock: Mit der Strategie einer "wertegeleiteten Außenpolitik" weckt die Außenministerin trügerische Erwartungen. (Quelle: imago-images-bilder)

Frieden ist auch in Europa nicht mehr garantiert. Das globale Kräftegleichgewicht verschiebt sich, demokratische Werte werden angegriffen. Die Bundesregierung will reagieren – mit einer fragwürdigen Strategie.

Es steht viel auf dem Spiel, da dürfen wir uns gar nichts vormachen. Die Bevölkerungen in Deutschland und anderen westlichen Staaten haben sich an eine globale Ordnung gewöhnt, in der Frieden selbstverständlich scheint. Doch diese Ordnung wird an mehreren Fronten angegriffen.

Großmächte wie China oder Russland sehen ihre Chance gekommen, eine neue Ordnung zu etablieren und die zögerlichen sowie innerlich zerstrittenen Demokratien drohen zum großen Verlierer dieser Entwicklung zu werden. Wenn der Westen nicht endlich aufwacht und zusammenrückt, könnte es schon zu spät sein.

Russland droht mit einer Invasion in der Ukraine, China lässt immer wieder Kampfflugzeuge in Richtung Taiwan starten und macht kein Geheimnis daraus, dass es sich die kleine Insel in den kommenden Jahren einverleiben möchte. In Zentralasien sind die Taliban zurück an der Macht in Afghanistan, die Terrormiliz IS gewinnt wieder an Stärke: in Irak und in Teilen Westafrikas.

Das alles ist erst der Anfang. Immer schneller verschiebt sich das Kräftegleichgewicht zwischen den Staaten. Der Westen ist auf dem Rückzug – und mit ihm seine Idee von einer freiheitlich-demokratischen Ordnung.

Deutschland ringt um eine Strategie

Die Politik verliert sich unterdessen in Richtungsstreitigkeiten. In Deutschland hat sich die neue Bundesregierung – als Reaktion auf die Gefahr – eine "wertegeleitete" Außenpolitik in den Koalitionsvertrag geschrieben. Deren Gesicht ist Außenministerin Annalena Baerbock, die bereits begonnen hat, diese politische Vorstellung offensiv in der Welt zu vertreten.

Mehr demokratisch-freiheitliche Werte in der Außenpolitik, das ist eine schöne Idee – aber irgendwie auch ein Luftschloss. Baerbock hat ein großes Problem: Sie kommt für eine derartige Strategie mindestens ein Jahrzehnt zu spät.

Außenpolitik ist in ihrem Wesen oft pragmatisch, deutsche Werte haben keine allgemeine Gültigkeit. Das grundlegende Dilemma an Baerbocks Strategie ist aber, dass sie von einer globalen Ordnung ausgeht, die nicht mehr existiert. Von einem geeinten Westen, der gemeinsam viel wirtschaftliches und militärisches Gewicht besitzt und der bereit dazu ist, an weit entfernten Orten auf der Welt aktiv zu werden, um diese Ordnung zu verteidigen.

In Wahrheit ist der Westen in vielen außenpolitischen Fragen zerstritten, und viele Länder sind so mit der inneren Zerrissenheit ihrer Gesellschaften beschäftigt, dass der Blick auf globale Zusammenhänge verschwommen ist.

Schlechte Vorzeichen

Um das westliche Dilemma besser zu verstehen, lohnt ein Blick auf die gegenwärtige weltpolitische Lage – und auf eine neue Blockbildung, die gefährlicher für demokratische Strukturen ist als die aus dem Kalten Krieg.

1. Bröckelnde Ordnung nach dem Kalten Krieg

Nach dem Zerfall der Sowjetunion fühlte sich die Nato als Sieger des Kalten Krieges, die westlichen Staaten handeln seither international in einem Sieger-Selbstverständnis: Die wirtschaftliche und militärische Vormachtstellung wird genutzt, um international Anreize dafür zu schaffen, dass sich Staaten dieser freiheitlich-demokratischen Ordnung anschließen.

Der Kommunismus schien besiegt und das alte Feindbild verschwand langsam. Die Weltwirtschaft vernetzte sich weiter und Unternehmen erschlossen neue Märkte in Staaten, die vormals in der Einflusssphäre des Warschauer Paktes waren. Das brachte vielen westlichen Staaten – auch Deutschland – mehr Wohlstand. Das Credo: Wandel durch Handel.

Diese Strategie funktionierte in einigen osteuropäischen Ländern, weil die Europäische Union und die Nato diese Staaten aus eigenen sicherheitspolitischen Interessen auch politisch eingebunden hat. Zudem herrschte als Erbe des Kalten Krieges noch immer ein Misstrauen gegenüber Russland und speziell in Zentraleuropa war man froh darüber, mehr Länder zwischen sich und dem Nachfolger der Sowjetunion zu haben.

Die sicherheitspolitische Einbindung von Russland und China passierte jedoch bestenfalls halbherzig. Zwar war man ständig im Austausch – im UN-Sicherheitsrat oder auf den G8- und G20-Gipfeln. Aber die Nato sah nicht die Notwendigkeit, Moskau und Peking in die eigene Sicherheitsarchitektur zu integrieren. Die beiden Großmächte fühlten sich bei Interventionen im Kosovo, im Irak, in Afghanistan oder in Libyen vom Westen regelmäßig übergangen.

Das ist keinesfalls eine Rechtfertigung für die militaristische Außenpolitik, die Russland und China betreiben und damit kleinere Nachbarstaaten bedrohen. Aber in beiden Großmächten ist die Verletzung des nationalen Selbstbewusstseins tief verankert – in Russland durch das Ende der Sowjetunion, in China seit den schweren Blessuren der Kolonialzeit.

Die Folge: Das bevölkerungsreichste und das flächengrößte Land der Erde sind der Meinung, dass der Westen ihnen nicht die Rolle in einer globalen Ordnung einräumt, die ihnen ihrem Verständnis nach zusteht. Deswegen lehnen die politischen Führungen die freiheitlich-demokratische Ordnung ab.

Natürlich muss der Westen nicht auf jede Großmachtfantasie Rücksicht nehmen, aber im Siegestaumel nach dem Kalten Krieg wurde das Problem politisch nicht ernst genug genommen.

2. Das unmoralische Angebot aus Peking

Dabei zeigt ein Blick auf die Weltkarte, dass sich nur in wenigen Staaten Demokratien nach westlichem Vorbild gebildet haben – auch Meinungsfreiheit ist weiterhin ein absolutes Privileg. Die Strategie "Wandel durch Handel" ist gescheitert; oder zumindest droht diese Idee zu scheitern, falls die westlichen Demokratien nicht reagieren.

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Unter der Führung von China hat sich ein neuer Block entwickelt, der die demokratische Grundordnung offen infrage stellt. Der chinesische Präsident Xi Jinping macht allen Staaten ein Gegenangebot: Wir bringen euch wirtschaftlichen Wohlstand und Investitionen. Dabei ist uns völlig egal, wie ihr es mit Demokratie und Meinungsfreiheit haltet.

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Das ist selbst attraktiv für Russland. Zwar hat auch der Kreml zahlreiche Konflikte mit Peking, und Moskau gibt sein Selbstverständnis als größter Gegenpol zu den USA nur höchst widerwillig an die Volksrepublik ab. Aber für Präsident Putin ist China das kleinere Übel. Beide Mächte teilen ein ähnliches Verständnis von einer globalen Ordnung – und ihre Ablehnung der westlichen Werte.

Das unmoralische Angebot führt viele Regierungen in Versuchung: besonders auf dem afrikanischen und asiatischen Kontinent, aber ebenso in einigen Staaten Südamerikas. Denn viele Entwicklungs- und Schwellenländer wurden durch westliche Unternehmen ausgebeutet, die Wunden der Kolonialisierung sind tief. China verspricht ihnen nun eine Alternative – diese Staaten wechseln von der einen Abhängigkeit in die nächste.

3. Das gespaltene Europa

China bietet allerdings nicht bloß einen Gegenentwurf an. Es befeuert, gemeinsam mit Russland, auch aktiv die Schwächen der westlichen Gemeinschaft.

Die beiden Staaten versuchen, die EU politisch zu spalten, um die Nato zu schwächen und in ihrem Sinne die USA zu isolieren. Sicherheitspolitisch haben sie keinen Respekt vor der EU.

Ihre Strategie gestaltet sich wie folgt:

  • China schafft eine intensive wirtschaftliche Abhängigkeit zwischen der Volksrepublik und vielen europäischen Staaten. Peking versucht dabei, sich in die Infrastruktur einzukaufen: Die Finanzkrise im Jahr 2007 nutzte man, um beispielsweise portugiesische Unternehmen zu übernehmen. Griechenland verkaufte zum Beispiel den Hafen von Piräus an die Volksrepublik.
  • Russland versorgt dagegen viele europäische Staaten mit Rohstoffen – durch die Ostseepipeline Nord Stream 2 steht auch Deutschland im Fokus. Medial versucht Moskau außerdem, über Fernsehen und soziale Medien Einfluss auf die Meinungsbildung zu nehmen.

Vor allem China hat mit Erfolg so starke wirtschaftliche Abhängigkeiten aufgebaut, dass Sanktionen gegen die Volksrepublik für die meisten Staaten nur unter extremen Schmerzen für die eigene Wirtschaft möglich wären. Einzelne Länder haben zudem inzwischen zu wenig Gewicht, um China ernsthaften Schaden zuzufügen. Eine deutsche Außenpolitik müsste auch deshalb in eine gemeinsame europäische Politik eingebettet sein. Doch die gibt es nicht – ein zentrales Problem für Annalena Baerbock und ihren außenpolitischen Plan. Dass Vorstöße für eine gemeinsame Sicherheitspolitik oder gar eine europäische Armee erfolglos blieben, werten die Machthaber in Peking und Moskau als Schwäche.

Zumal auch inhaltlich zwischen vielen europäischen Staaten Uneinigkeit herrscht. Das sieht man besonders in Deutschland: Die SPD stand lange hinter Nord Stream 2 und hat mit Gerhard Schröder einen Ex-Bundeskanzler in ihren Reihen, der Lobbyarbeit für seinen Freund Wladimir Putin macht.

4. Die geschwächte Supermacht

Ärgerlich ist Europas Schwäche zudem für die Vereinigten Staaten. Sie sind unter Druck und möchten die Verantwortung mit ihren Partnern teilen. Nicht zuletzt forderten die letzten drei US-Präsidenten Barack Obama, Donald Trump und Joe Biden oft, dass alle Nato-Partner das Zwei-Prozent-Ziel bei den Militärausgaben einhalten. Doch für höhere Rüstungsausgaben gibt es in vielen europäischen Staaten keine gesellschaftliche Mehrheit. Unter anderem deshalb bemühen sich die USA auch um neue Verbündete wie Indien mit seinen knapp 1,4 Milliarden Einwohnern.

Das Problem der Vereinigten Staaten: Die Amerikaner sind ebenfalls kriegsmüde und lehnen neue Auslandseinsätze ab. Die Bereitschaft in der US-Bevölkerung, als Weltpolizei aufzutreten und die Rohstoffsicherheit für das eigene Land zu verteidigen, ist schwach. Auch hier gilt: Das Feindbild Kommunismus ist besiegt, der Sieg über islamistische Terroristen wurde verkündet und der aktuelle Angriff auf die freiheitlich-demokratische Ordnung wird nicht ernst genug genommen.

US-Präsident Joe Biden engagiert sich zwar im Vergleich zu Trump wieder deutlich mehr international und steigerte etwa die Präsenz im südchinesischen Meer. Die USA sind auch noch immer die mit Abstand stärkste Militärmacht, weder China noch Russland würden in einen Konflikt mit ihnen gehen.

Doch Biden, innenpolitisch geschwächt und mit düsteren Umfragewerten, beging auf der Weltbühne schon große Fehler. So stellte der US-Präsident sofort klar, dass man die Ukraine im Kriegsfall auf keinen Fall militärisch unterstützen würde. Damit sicherte er sich zwar im eigenen Land Zustimmung, aber stärkte die Position von Wladimir Putin.

Im schlimmsten Fall stehen die USA vor dem Problem, die jetzige Weltordnung in Asien gegen China und in Osteuropa gegen Russland verteidigen zu müssen. Gleichzeitig muss Biden nach aktuellem Stand um seine Wiederwahl bangen und einen möglichen Gegenkandidaten Donald Trump fürchten. Die Rückkehr des Populisten ins Amt würde einen weiteren Rückzug der USA aus der internationalen Verantwortung bedeuten.

In Summe wirkt die Supermacht USA so schwach wie niemals zuvor. China und Russland sehen darin eine Chance.

Kampf um neue Verbündete

Was also tun? Die westlichen Staaten können nicht mehr davon ausgehen, dass sie durch wirtschaftlichen Druck demokratische Richtlinien sowie die Einhaltung von Menschenrechten von anderen Ländern einfordern können. Sanktionsdrohungen können zwar kurzfristig funktionieren, um Konflikte zu verhindern – beispielsweise im Ukraine-Konflikt. Langfristig ist das jedoch keine vielversprechende Strategie, da sich das wirtschaftliche und militärische Kräftegleichgewicht verschiebt – zuungunsten des Westens.

Deshalb muss eine andere Strategie her. Es muss vielmehr darum gehen, global für demokratische Werte zu werben und gleichzeitig dafür sorgen zu können, dass Wohlstand besser auf der Welt verteilt wird. Denn die Kräfte, die die freiheitlich-demokratische Ordnung angreifen, geben vor allem ein Versprechen: Wohlstand. Es braucht also mehr Angebote des Westens – und eben nicht noch mehr Druck.

Das größte Problem für eine solche "wertegeleitete" Außenpolitik, wie sie der deutschen Bundesregierung und Außenministerin Annalena Baerbock vorschwebt, ist dabei, dass sie nur in Absprache mit den Partnern in EU und Nato möglich ist. Dafür bedürfte es gemeinsamer Positionen in schwierigen Fragen.

Einige Beispiele:

  • Schafft man sich mit wirtschaftlichen Verflechtungen zu Saudi-Arabien einen strategischen Verbündeten im Mittleren Osten und ignoriert, dass das Regime Menschenrechte und Demokratie mit Füßen tritt?
  • Sollte man Waffen an die Ukraine liefern, um einen Angriff für Russland teurer zu machen?
  • Sollte man Taiwan verteidigen, wenn China angreifen würde?

Bei vielen zentralen sicherheitspolitischen Fragen wie diesen gibt es in der westlichen Staatengemeinschaft unterschiedliche Positionen. Welche Werte will Deutschland also vertreten? Das ist bislang unklar und speziell die Bundesrepublik hat als Exportnation besonders die wirtschaftlichen Beziehungen zu China und Russland im Blick, um den eigenen Wohlstand nicht zu gefährden.

Dieser Fokus könnte sich ändern – und wahrscheinlich wird das zukünftig im Ringen mit Russland und China auch notwendig sein. Aber dafür muss Außenpolitik besser erklärt und die deutsche Bevölkerung mitgenommen werden. Es geht nicht um Gut gegen Böse, nicht um eine "wertegeleitete" Ideologie, sondern um einen Kampf zwischen zwei geopolitischen Vorstellungen, von denen eine in Zukunft vorherrschend sein wird. Dieses Problembewusstsein würde aus einer normativen Worthülse eine pragmatische Notwendigkeit machen – und das ist unheimlich wichtig.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
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