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Lockerung und die Folgen: Corona ist mit Deutschland noch nicht fertig


Lockerung und die Folgen
Corona ist mit Deutschland noch nicht fertig

MeinungEin Gastbeitrag von Philipp Kohlhöfer

Aktualisiert am 21.03.2022Lesedauer: 6 Min.
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Die aktuellen Zahlen der Corona-Pandemie verheißen nichts Gutes.Vergrößern des Bildes
Die aktuellen Zahlen der Corona-Pandemie verheißen nichts Gutes. (Quelle: imago-images-bilder)

Die Corona-Pandemie geht ihrem Ende zu. Jedenfalls bei uns. Doch leichtsinnig sollten wir jetzt ganz sicher nicht werden. Denn das Virus könnte noch etwas auf Lager haben.

Game over. Das war's. Obwohl es am Ende etwas zäh ist und langwierig wurde, ist der zweite Teil von Corona so gut wie vorbei. Die Fortsetzung hat mehr geboten als der erste Teil, mehr Tote, mehr Zerstörung, mehr Aufregung, kennt man ja von Fortsetzungen. Die Geschichte von SARS-CoV-2 war insgesamt recht ärgerlich und unlogisch – wie bei Star Wars etwa.

Dennoch: Das Coronavirus ist so gut wie besiegt. Erst einmal.

Neulich habe ich auf diversen Impfgegner-Telegram-Kanälen die Zeit totgeschlagen. Jetzt kommt alles raus, wurde da erzählt. Wir haben gewonnen. Die Wahrheit kommt ans Licht, Drosten, Lauterbach, das RKI und die WHO und natürlich Bill Gates, alles wird aufgedeckt. Am Ende wird die ganze Welt sehen, dass es doch eine Bevölkerungsreduktion geben sollte, die jetzt aber erst mal ausgefallen ist, was doch nur ein Trick ist, von den globalen Eliten ... arghhh.

Philipp Kohlhöfer ist Autor und Kolumnist und lebt in Hamburg. Er arbeitet unter anderem für das Magazin "Geo" und das Forschungsnetz Zoonotische Infektionskrankheiten, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Kohlhöfer verfasst zudem Drehbücher und entwirft Kommunikationskonzepte. Für eine Geschichte im Pazifik wurde er beschossen, für eine andere marschierte er tagelang durch den Regenwald. 2021 hat er den Bestseller "Pandemien. Wie Viren die Welt verändern" veröffentlicht.

Die Wahrheit ist natürlich eine andere: Wenn jetzt im März die Maßnahmen auslaufen, ist das kein Sieg diverser verstrahlter Demonstranten, die stolz sind auf ihre Ignoranz, sondern es zeigt schlicht, was wissenschaftlich alles möglich ist, wenn ein großer Teil der Welt bei der Bekämpfung eines Krankheitserregers zusammenarbeitet. Insgesamt stimmt das hoffnungsvoll, mich zumindest, weil man das theoretisch wiederholen und auf jedes andere Problem anwenden könnte – politischer Wille vorausgesetzt.

Was zu der Frage führt: Und nun? Die bloße Feststellung "Die Endemie ist da" bringt uns nicht weiter. Weil die Frage nach dem Ende der Pandemie und dem Beginn der Endemie nicht das medizinische Ende meint. Es meint: "Wann kann alles wieder so sein wie vorher?" Es meint das soziale Ende. Eine Endemie ist, wenn eine Krankheit in einer bestimmten Gegend relativ häufig auftritt.

Dadurch ist die Zahl der Infizierten in der Regel mehr oder weniger konstant. Wie bei den Masern etwa. Oder der Malaria. Letztere tötet jährlich immer noch rund 400.000 Menschen – was schon viel weniger ist als noch vor wenigen Jahren. 2004 etwa starben rund 1,8 Millionen Menschen an der Krankheit. Obwohl sie endemisch ist.

Dabei ist aber das Ende einer Pandemie nicht wirklich definiert. Zwar tritt ein medizinisches Ende ein, wenn die Zahl der Erkrankten stark zurückgeht. Viele Menschen sind dann immun geworden, entweder durch eine Impfung oder durch die Infektion oder sie sind tot. Vielleicht wirken mittlerweile auch Medikamente und drücken die Zahl der schweren Erkrankungen.

Viren zu den Ohren raus

Denn, siehe HIV und Cholera, zwei Pandemien, die aktuell laufen, die wir in Europa aber vergessen haben, oder eben auch SARS-CoV-2 im Frühjahr 2022: Die Zahl der Erkrankten hat nicht zwingend etwas mit dem Gefühl "Pandemie" zu tun. Eine Pandemie kann genauso sozial enden: Die Krankheit ist zwar noch weit verbreitet, aber keiner hat mehr Lust auf sie. Am Ende hören die Menschen schlicht auf, sich Sorgen zu machen und die Infektion wird Teil des Risikos, das sich "Leben" nennt.

Das ist menschlich, irgendwann muss es ja auch mal weitergehen. Und weil Omikron zweifellos zu weniger schweren Verläufen führt und niemand mehr Lust auf den ganzen Mist hat, sind wir in Europa im Moment irgendwo zwischen den beiden Polen, "medizinisches Ende" und "soziales Ende".

Ich habe schon lange keine Lust mehr auf Pandemie. Mittlerweile kommen mir Viren zu den Ohren raus, die Maske nervt und ich bin sehr fürs Öffnen. Ich bin aber noch mehr dafür, auch mal zwei Meter vorauszudenken und bin immer wieder überrascht, wie wir das als Spezies so gar nicht hinbekommen.

Denn das wahrscheinlichste Szenario ist, dass Covid-19 zu einer Art zweiten Grippe wird. Nur: Damit wäre es zwar endemisch, und würde in jedem Winter zurückkommen, aber es wäre eben alles andere als harmlos. Auch die Influenza macht manche Menschen schwer krank, teilweise sterben Zehntausende an dem Virus und in manchen Jahren bringt es das Gesundheitssystem an die Grenzen der Belastbarkeit. Nur: Weil wir uns daran gewöhnt haben, tolerieren wir das.

Mutationen, Mutationen, Mutationen

Nur gibt es keine wirkliche Definition von "endemisch". "Endemisch" sagt weder etwas aus über die totale Anzahl der Infizierten noch über den Schweregrad ihrer Erkrankung. Eine Endemie kann zu einer starken Belastung des Gesundheitssystems führen oder harmlos sein. Häufig oder selten. Das Einzige, was man sagen kann, ist, dass es in einer Endemie kein exponentielles Wachstum mehr gibt.

Aber wird die Lage wirklich relativ entspannt bleiben? Das Genom von SARS-CoV-2 umfasst 30.000 Basenpaare, was bedeutet, dass die Zahl der möglichen Mutationskombinationen unvorstellbar groß ist. Zwar führen die meisten Mutationen ins Nichts und schaden dem Virus. Es ist außerdem unwahrscheinlich, dass das Virus so stark mutiert, dass unsere Immunität gegen schwere Infektionen auf null zurückgesetzt wird.

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Andererseits: Omikron hat mehr als fünfzig Mutationen angehäuft, davon mehr als dreißig allein in seinem Spike-Protein. In einer Studie von Mitte Januar beschreiben Forschende unter anderen aus Südafrika, den USA und Deutschland, dass Omikron nicht nur viele, sondern zudem auch ungewöhnliche Mutationen umfasst.

Die Mutationen für sich allein genommen, so geht es weiter, hätten die Fitness des Virus voraussichtlich verringert. Alle zusammen allerdings bewirken das Gegenteil. Und das ist nicht mal ungewöhnlich. Auch die Spanische Grippe wurde nur durch die Kombination verschiedener Mutationen zum dem Superkiller, bei dem es uns noch heute gruselt – mindestens einhundert Mal tödlicher als jedes andere Grippevirus.

Veteran in Sachen Impfung

Das heißt nun keinesfalls, dass es wahrscheinlich ist, dass SARS-CoV-2 im nächsten Winter zu einem Superkiller mutiert. Denn obwohl die möglichen Kombinationen unvorstellbar groß sind, sind sie nicht unbegrenzt. Ein Spike-Protein muss immer noch aussehen wie ein Spike-Protein. Abgesehen davon muss das Virus einer immer besser werdenden Immunantwort ausweichen, die im Laufe der Zeit mit verschiedenen Varianten konfrontiert worden ist. Aber solange es weiterhin viele Neuinfektionen gibt, global gesehen, kann sich SARS-CoV-2 natürlich weiterentwickeln.

Wir könnten uns trotzdem entspannen. Wir können ja impfen. Am 16. April 1975 wurde ich gegen die Pocken geimpft. Eingetragen im Impfpass stand "mit Erfolg" und "Vacc.Antig. 1.0". Ich gehöre, meines Wissens, zur letzten Generation, die in Deutschland gegen die Pocken geimpft wurde, weil die Krankheit danach kein Problem mehr darstellte, nicht in Europa, nicht im Rest der Welt.

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Als ich die Spritze gegen die Pocken bekommen habe, war ich zwar noch Kleinkind, aber trotzdem schon Veteran. Gegen Diphterie geimpft und Tetanus, Keuchhusten und Polio. Berufsbedingt mittlerweile auch gegen allerhand anderes unerfreuliches Zeug, Gelbfieber etwa und Tollwut, Hepatitis A und B, Cholera und Typhus und gegen Meningokokken auch.

Außerdem hatte ich mal Malaria, das war sehr unerfreulich und ist nicht empfehlenswert, aber das nutzt mir immunologisch überhaupt nichts, weil das Parasiten sind und eine Infektion keine Immunität verleiht. Und weil man dagegen nicht impfen kann, hätte ich sonst gemacht, bringt mir das auch keinen Fleißpunkt in meinem Impfheftchen.

Quo vadis, Impfpflicht?

Bin ich, als ausgewiesener Impffreund, deswegen für die Impfpflicht? Gute Frage. Ich war lange dagegen, weil ich dachte, dass Argumente ausreichen. Dann war ich dafür, weil das mit den Argumenten eben doch nicht stimmt. Jetzt bin ich wieder tendenziell dagegen, aber eben auch nicht wirklich, denn dazu ist es mir mittlerweile zu egal.

Und ich glaube, dass ich nicht der einzige bin. Ich bin, was das angeht, vermutlich die menschgewordene Ampel: Ich neige zur Verschleppung. Nur wird das Problem ja durch Nichtbeachtung nicht gelöst. Der Rückgang der Impfbereitschaft ist, ja doch, irgendwie verständlich, einerseits. Wenn Maßnahmen helfen und es wärmer wird, schwindet die Bedrohung.

Schwindet die Bedrohung, dann schwindet auch das Gefühl für sie. Was die Aufmerksamkeit für den Erreger verringert. Was wiederum das Gefühl der Bedrohung schrumpfen lässt. Und dann denken diejenigen, die noch nicht geimpft sind: Muss ja nicht sein. Ist ja weg. Andererseits unterschlägt das natürlich, dass es irgendwann wieder Herbst wird, auf den erfahrungsgemäß ein Winter folgt.

Also: Wenn fünf Prozent der Gesellschaft nicht mehr an die Schwerkraft glaubt und vom Dach springen will: Soll man es dann einzäunen? Eher nicht, weil das in keinem Verhältnis mehr steht zu den Dachspringern.

Der Winter wird kommen

Irgendwann ist es halt auch mal gut. Alles an Information ist raus. Jeder, der über Corona und die Impfung Bescheid wissen will, weiß alles. Die Impflücke wird sich ohne Zwang nicht mehr schließen, so realistisch kann man mal sein. Der nächste Winter kommt bestimmt und es sollte wohl eine rechtliche Möglichkeit geben, zu Maßnahmen zurückzukehren, falls noch mal eine besorgniserregende Variante kommt.

In jedem Fall wird das Immunsystem dann aber nicht mehr mit einem völlig neuartigen Virus konfrontiert – zumindest diejenigen, die geimpft sind oder eine frühere Infektion überstanden haben, haben eine Grundimmunität aufgebaut. Und für die hat sich die Sache vermutlich erledigt.

Außerdem habe ich immer noch eine Karte vom Hamburger Musikfestival Dockville von vor zwei Jahren. Langsam wird es Zeit, die mal einzulösen.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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