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Grünen-Chefin Baerbock: "Geflüchtete haben kein Urlaubsticket gebucht"


Grünen-Chefin Annalena Baerbock
"Geflüchtete haben ja kein Urlaubsticket gebucht"

Von Patrick Diekmann, Ruediger Schmitz

Aktualisiert am 24.02.2018Lesedauer: 7 Min.
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Annalena Baerbock: Die 38-Jährige wurde am 27.01.2018 zur neuen Parteivorsitzenden der Grünen gewählt.Vergrößern des Bildes
Annalena Baerbock: Die 38-Jährige wurde am 27.01.2018 zur neuen Parteivorsitzenden der Grünen gewählt. (Quelle: dpa-bilder)

Der Familiennachzug als rote Linie: Die neue Grünen-Chefin Annalena Baerbock spricht im Interview mit t-online.de über die Zukunft der Grünen, Klimaschutz und über Flüchtlingspolitik. Aus ihrer Sicht verstößt eine Obergrenze klar gegen Menschenrechte.

Ein Interview von Rüdiger Schmitz-Normann und Patrick Diekmann.

t-online.de: Frau Baerbock. Sie leben in Potsdam und kandidieren im dortigen Bundestagswahlkreis. Die Grünen sind in Ostdeutschland sehr schwach. Was macht Ihre Partei in den neuen Bundesländern falsch?

Annalena Baerbock: Wenn man genauer hinschaut, sieht es etwas anders aus. In Dörfern und Städten, die wachsen, da wachsen auch wir Grüne. Bei mir in Potsdam sind wir deutlich zweistellig. In den strukturschwachen Regionen bleibt es für uns schwierig, Fuß zu fassen. Im Durchschnitt landen wir im Osten dann bei fünf oder sechs Prozent.

Das ist im Vergleich zum Rest von Deutschland sehr wenig. Woran liegt das?

Unsere ostdeutschen Wurzeln als Partei liegen in der Bürgerrechts-, Friedens- und Umweltbewegung der ehemaligen DDR. Wir sind nicht wie andere als ehemalige System- oder Blockpartei nach der friedlichen Revolution gestartet. Wir konnten auf keine Struktur zurückgreifen, sondern mussten über viele Jahre unsere Präsenz in der Fläche neu aufbauen. Noch heute komme ich immer wieder mit Menschen in strukturschwächeren Regionen ins Gespräch, die mir sagen, dass ich die erste Grüne sei, mit der sie sprechen.

Annalena Baerbock ist Parteivorsitzende von Bündnis 90/ Die Grünen und sitzt seit 2013 im Deutschen Bundestag. Die 38-Jährige war Direktkandidatin ihrer Partei in Brandenburg und lebt zusammen mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Potsdam.

Was wollen Sie tun, um die Grünen im Osten stärker zu verankern?

In den Dörfern und Gemeinden sein. Auch da, wo es wehtut.

Wo tut es denn weh?

Es ist wichtig, dass wir nicht nur in die städtischen Hochburgen gehen, wir müssen auch in die strukturschwachen Regionen. Wir brauchen den direkten Kontakt zu den Menschen. Und wir müssen die Themen aufgreifen, die die Leute vor Ort bewegen. Was tun wir dagegen, dass der letzte Bahnhof in der Region geschlossen wird oder die nächste Hebamme 70 Kilometer entfernt ist? In Brandenburg heißt das auch: Wie gelingt der Kohleausstieg so, dass Leute danach noch Arbeit haben? Auch das Thema Armutsbekämpfung drückt gewaltig.

Die Präsenz vor Ort ist Ihnen also genauso wichtig wie die Inhalte?

Viele Menschen kehren der Parteipolitik den Rücken, weil im öffentlichen Raum der Ort für die politische Debatte fehlt. Die Dorfkneipe, wo auch mal der Bürgermeister vorbeikommt. Ich persönlich habe es jetzt nicht so mit Stammtischen, aber mir ist es wichtig, im Alltag mit den Menschen im Gespräch zu sein. In der Berufsschule, beim Frauentreff oder beim Seniorenklub.

Ein Thema, das viele Menschen im Osten bewegt, ist der Kohleabbau, ein wichtiger Wirtschaftszweig. Die Grünen fordern den Ausstieg, deshalb werden sie im Osten ausgepfiffen. Warum schafft es Ihre Partei nicht, den Kohlearbeitern Perspektiven zu geben?

Naja, zunächst einmal ist Ostdeutschland keine komplette Kohleregion. Es gibt drei Kohlegebiete in fünf sehr großen ostdeutschen Bundesländern: In der Lausitz zwischen Brandenburg und Sachsen, das mitteldeutsche Revier zwischen Halle und Leipzig und als drittes und kleinstes rund um Helmstedt. In Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen gibt es gar keinen Tagebau.

Wir reden hier immerhin über 10.000 Arbeitsplätze in Ostdeutschland.

Natürlich stellt sich in den betroffenen Revieren die Frage nach der Zukunft der Arbeitsplätze. Daher bin ich immer wieder im Austausch mit den Betriebsräten und mache deutlich, warum die Klimaziele so zentral sind und dass wir als Grüne den Kohleausstieg nicht übers Knie brechen, sondern analog zu den Klimazielen mit den Regionen gestalten wollen. Es ist ein schrittweiser Prozess: Es geht darum, den Arbeitern Perspektiven zu geben. Die Transformation kann nur in einem Dialog zwischen Gewerkschaften und Umweltverbänden sozialverträglich funktionieren. Dennoch darf man die Angst vor dem Verlust von Arbeit und auch der Identität nicht unterschätzen. Das entlädt sich dann in Wut. Deshalb gehe ich da hin, auch wenn ich ausgepfiffen werde.

Die Menschen haben Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Was bedeutet „sozialverträglich“ ganz konkret?

Einen schrittweisen Kohleausstiegsplan vorzulegen, über den man mit den Betriebsräten diskutieren kann. Wenn man, wie von uns Grünen vorgeschlagen, im kommenden Jahrzehnt schrittweise Kohleblöcke vom Netz nimmt und berücksichtigt, dass bei uns in der Lausitz fast die Hälfte der Beschäftigten in dieser Zeit in Rente gehen, sprechen wir über rund 4.000 direkt Beschäftigte. Ein Teil von ihnen wird weiter in der Tagebausanierung gebraucht. Für die anderen brauchen wir, wie auch beim Ausstieg aus dem Steinkohlebergbau, öffentliche Mittel, um sie bei der Umschulung und Weiterbildung zu unterstützen.

Es betrifft aber nicht nur Kohlearbeiter. Was ist mit anderen Betroffenen?

Auch die Zulieferer müssen wir beim Umstieg begleiten. Dafür braucht es einen Strukturwandelfonds, den wir Grünen bei den Jamaika-Sondierungen erfolgreich eingebracht hatten. Der steht jetzt mit 1,5 Milliarden Euro auch im Koalitionsvertrag von Union und SPD. Darauf bin ich stolz.

Die Jamaika-Sondierungen sind aber gescheitert. Streit gab es mit FDP und Union unter anderem bei der Flüchtlingspolitik. Sie kamen der Union entgegen, indem sie de facto eine Obergrenze von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr akzeptiert haben. Warum haben Sie die grüne Weltoffenheit in dem Punkt aufgegeben?

Das ist eine Mär. Wir haben einem Richtwert für die Kommunen zugestimmt, damit die planen können, wie viele finanzielle Mittel sie bekommen oder wie viele Kitaplätze sie brauchen. Das ist etwas anderes als eine Obergrenze. Zudem haben wir uns massiv für den Familiennachzug eingesetzt und dafür heftig mit Union und FDP gestritten. Geflüchtete haben ja kein Urlaubsticket nach Deutschland gebucht, sondern es sind Menschen aus Kriegsgebieten, wo täglich Bomben abgeworfen werden. In Syrien rollen gerade türkische Panzer in Afrin ein, das syrische Regime bombardiert Ost-Ghuta auf so barbarische Weise, dass selbst Unicef die Worte fehlen. Deswegen kommt es auf jeden Tag an, an dem die Familienzusammenführung ausgesetzt ist.

Aber auch Sie waren bei der Flüchtlingspolitik kompromissbereit.

Ohne Kompromisse kann Politik nicht funktionieren. Aber beim Familiennachzug gab es für uns eine rote Linie. Mit uns hätte es keine Verlängerung der Aussetzung des Familiennachzuges gegeben. Außerdem muss das Grundrecht auf Asyl weiterhin gelten. Es kann rechtlich keine Obergrenze geben, denn die gibt es bei den Genfer Flüchtlingskonvention auch nicht.

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Für die Union war die Obergrenze nicht verhandelbar. Also hätten die Grünen die Jamaika-Koalition deswegen platzen lassen?

Als Völkerrechtlerin kann ich nicht meine Hand für Dinge heben, die aus meiner Sicht klar Menschenrechte brechen.

Und die anderen Verantwortlichen bei den Grünen sahen das ähnlich?

Wir haben als 14er-Team gemeinsam für unsere Partei verhandelt. Entschieden hätte dann der Parteitag, aber dem konnten wir ja gar kein Ergebnis vorlegen, weil Christian Lindner beleidigt den Stift weggeworfen hatte, bevor bei den zentralen Fragen die Dinge überhaupt aufgeschrieben werden konnten.

Nun stecken die Grünen in einem Dilemma. Im Bund ist die Regierungsbeteiligung geplatzt. Seit 2017 regieren sie nicht mehr in NRW und Niedersachsen. 2018 könnte Hessen dazukommen. Dazu beigetragen hat auch die Schwäche der SPD. Ist die Bindung an die CDU für die Grünen die einzige Chance, um mittelfristig gestalten zu können?

Wir können nur aus eigener Kraft Gestaltungsmöglichkeiten erkämpfen. Nicht, wenn wir uns an eine andere Partei ketten. Das beweisen wir in den Ländern: Dort regieren wir in ganz unterschiedlichen Konstellationen.

Wie? Rechnerisch erscheint es auf Bundesebene nicht möglich.

Die letzten Monate und die Stimmungsschwankungen einzelner Parteien haben uns doch gezeigt, dass man jetzt nicht darauf schließen kann, was in ein paar Monaten kommt. Für uns bedeutet das, unseren Kurs als progressive, sozialökologische, linksliberale Kraft zu schärfen.

Werden Sie als Grüne durch die notwendigen Kompromisse automatisch konservativer, wenn Sie auf Bundesebene mit der Union regieren wollen?

Nein, überhaupt nicht. Dann sind wir noch mehr gefragt als sozialökologisches, linkes Korrektiv. Ich kämpfe für starke Grüne. Das sind wir nicht, wenn wir anderen Parteien hinterherlaufen.

Aber Kompromisse machen Sie schon gern. Zum Beispiel beim Kohleausstieg.

Wenn man nicht die absolute Mehrheit bei Wahlen erreicht, dann muss man mit anderen verhandeln, um Inhalte durchzusetzen. Ansonsten kann man nicht gestalten, nichts verändern. Und mal ehrlich: Das Kohlethema unterstreicht doch gerade, was passiert, wenn Grüne nicht mit am Verhandlungstisch sitzen. Wir waren angetreten, zehn Gigawatt abzuschalten. Die Union ist aufgrund unseres Drucks letztlich zu sieben Gigawatt bereit gewesen. Mit dem Kompromiss hätten wir den Kohleausstieg rechtssicher und unumkehrbar eingeleitet, was für den Klimaschutz essenziell ist. Mit der SPD statt uns Grünen am Tisch gibt es nun null Gigawatt Abschaltung bei der Kohle. Ein massiver Schaden für das Pariser Klimaabkommen.

Können Sie beim Klimaschutz also mit der Union mehr erreichen als mit der SPD?

Wir haben uns auch mit CDU und FDP wochenlang gestritten. Als Brandenburgerin habe ich unter einer Rot-Roten Landesregierung ausreichend Erfahrungen gesammelt, wie fest sich die SPD an das Thema „Kohle“ klammert. Aber Armin Laschet in NRW zeigt ja derzeit auch, wie wenig er von den Klimazielen und einem schrittweisen Kohleausstieg hält, wenn Grüne das nicht am Verhandlungstisch einfordern.

Sie teilen sich nun den Parteivorsitz mit Robert Habeck. Sind Sie als Vorsitzende eher Gestalter oder eher Sprachrohr?

Ich mache Politik, um zu gestalten, um unser Land gerechter zu machen und unsere Erde auch für unsere Kinder zu erhalten. Deswegen schreiben wir als Grüne ein neues Grundsatzprogramm. Unsere zentrale Rolle als Parteivorsitzende ist, diesen Prozess so zu gestalten, dass Menschen Lust haben, mit uns über die großen Zukunftsherausforderungen zu diskutieren. Ich sehe Robert Habeck und mich als Spielmacher der grünen Mannschaft, und wir möchten möglichst viele zum Mitspielen anregen und auch die Menschen am Spielfeldrand begeistern.

Sie beide bilden damit erstmals bei den Grünen eine Realo-Doppelspitze. Wie wollen Sie die Linken in der Partei mitnehmen?

Wir sind als Parteivorsitzende der gesamten Partei gewählt. Das bedeutet, mit allen Akteuren unserer Partei im engen Austausch zu stehen. Für mich ist die Vielfalt unserer Partei eine Stärke, gerade wenn wir jetzt die Zukunftsfragen diskutieren: Wie gestaltet sich das Arbeitsleben in einer digitalisierten Welt und wie das soziale Sicherungsnetz? Wie bekommen wir die Klimakrise ansatzweise in den Griff und verhindern, dass sie nicht zu einem weltweiten Konfliktverschärfer wird? All das können wir nicht allein auf Basis alter Konzepte diskutieren, weil wir sonst keine neuen Lösungen finden.

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Baerbock.

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