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Neues Grundsatzprogramm der Grünen: Der Versuch, Demokratie neu zu erfinden


Grundsatzprogramm der Grünen
Ein neuer Vorschlag für ein Update der Demokratie

Eine Analyse von Jonas Schaible

28.03.2019Lesedauer: 4 Min.
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Die Vorsitzenden der Grünen Annalena Baerbock und Robert Habeck: Eine erste Version des neuen Grundsatzprogramms ist fertig.Vergrößern des Bildes
Die Vorsitzenden der Grünen, Annalena Baerbock und Robert Habeck: Eine erste Version des neuen Grundsatzprogramms ist fertig. (Quelle: Jens Schlueter/Getty Images)

Zerfall des Westens, Erderhitzung, Frust: Die Grünen reagieren auf Umbrüche mit einem neuen Grundsatzprogramm. Besonders das neue Selbstverständnis ist radikal.

Man erntet aktuell selten Widerspruch, wenn man behauptet, die Zeiten seien aufgewühlt, im Umbruch, hochpolitisch. Das ist einerseits oft gedankenlos dahingesagt. Andererseits stellt die Erderhitzung wirklich die industriegesellschaftliche Lebensart an sich infrage. Der Westen als Weltordnungsmacht wackelt. Der oft angekündigte Aufstieg Chinas hat begonnen. Die Parteiensysteme in Europa geraten in Unordnung. Vieles ändert sich grundsätzlich.

Daher überrascht es nicht, dass auch Parteien in sich gehen. Gleich zwei erarbeiten neue Grundsatzprogramme: Die CDU – und die Grünen, deren aktuelles Programm noch aus dem Jahr 2002 stammt. Heute legt der Parteivorstand auf einem Konvent in Berlin einen 65-seitigen Zwischenbericht vor. Es ist der erste Aufschlag, nach einem Jahr Arbeit.

Was die Parteichefs Robert Habeck und Annalena Baerbock als neues Selbstbild vorschlagen, ist einerseits unerhört profan und andererseits unerhört ambitioniert. Man kann den Entwurf als Vorschlag lesen, wie man in diesen Zeiten die Demokratie zurück zu sich selbst führen kann. Und damit zugleich als Absage an zwei andere populäre Konzepte der Erneuerung der Demokratie.

Klare Werte, ein neues Selbstbild

Die Analyse der Herausforderungen ist dialektisch formuliert: Immer gibt es ein paar Absätze "Einerseits" und dann ein paar Absätze "Andererseits". Einerseits schimmern die revolutionär-marxistischen Ursprünge der Grünen durch. Andererseits verdeutlicht die Struktur den unbedingten Pragmatismus, den Habeck und Baerbock der Partei vorlebend verordnet haben. Die Grünen sollen alle Perspektiven berücksichtigen – immer die Wirklichkeit im Blick, anschlussfähig nach allen Seiten.

Dabei sollen sie allerdings von "Werte(n), die uns einen" ausgehen. Die fünf Seiten mit diesen Werten sind der nicht verhandelbare programmatische Überbau, von den Chefs diktiert. Der Rest kann und soll in den kommenden anderthalb Jahren noch debattiert werden. Zu diesen sechs wichtigsten Werten zählt auch: das Selbstverständnis als "Bündnispartei".

Nur auf den ersten Blick gewöhnlich

Hinter diesem Wort verbirgt sich eine Idee, die über die Grünen hinausweist. Dabei ist im Bericht das Konzept nur vage erklärt: "Wir sind aus vielfältigen Wurzeln zusammengewachsen. ... Neue Menschen, neue Milieus sowie neue Perspektiven und Interessen kommen hinzu". Das gelte nicht nur für Wähler und Mitglieder, sondern auch für andere gesellschaftliche Gruppen. "In einem Bündnis zu arbeiten bedeutet, die Unterschiedlichkeit der Menschen und ihre Andersheit anzuerkennen, sich immer wieder in den anderen hineinzuversetzen", so steht es in der Einleitung. "Wir richten uns an die Breite der Gesellschaft und nehmen das demokratische Gemeinwesen als Ganzes in den Blick", sagt Baerbock.

Einerseits ist das völlig trivial, die Beschreibung der Demokratie an sich, eine Aneinanderreihung von Selbstverständlichkeiten. Andererseits sind Offenheit, Anerkennung von Unterschieden und Zusammenarbeit mit Gegnern im demokratischen Alltag wirklich nicht so selbstverständlich. Andererseits also steckt mehr darin, als es zunächst scheint.

Die neue Schlüsselkompetenz von Parteien

Denn die real existierende Demokratie hat mittlerweile feste Formen angenommen. Parteien vertreten abgegrenzte Gruppen. Sie prägen Identität und besetzen eindeutige Positionen. Sie haben bekannte Verbündete (die Sozialdemokraten etwa Gewerkschaften, die Grünen Umweltverbände) und Gegner. Aber Gesellschaft verändert sich. Parteibindungen lockern sich. Milieus differenzieren sich aus. Neue Gruppen werden sichtbar und fordern Gehör. Viele Menschen fühlen sich unzureichend repräsentiert. Das System scheint in Teilen der Wirklichkeit nicht gerecht zu werden. "Die Gesellschaft wird immer differenzierter, alte Milieus lösen sich auf. Da müssen wir neue Bündnisse schmieden", sagt Habeck.

Auch das deutsche Parteiensystem verändert sich unbestreitbar. Volksparteien schrumpfen. Nischenparteien gewinnen. Neue Parteien entstehen. Mehr Parteien ziehen in die Parlamente ein. Extreme Parteien steigen auf und bilden Sperrminderheiten. Alte Koalitionen verlieren ihre Mehrheit. In einem solchen System wird offensichtlich Bündnisfähigkeit künftig die Schlüsselkompetenz sein: Für eine einzelne Partei, um an die Macht zu kommen. Aber auch fürs System: Demokratie kann nur funktionieren, wenn sich Parteien neuen Koalitionen öffnen.

In Sachsen-Anhalt, wo mühevoll eine schwarz-rot-grüne "Kenia-Koalition" gebildet wurde, konnte man das schon studieren. In Thüringen, Sachsen und Brandenburg im Herbst könnte es wieder zu ungewöhnlichen Koalitionen kommen: Vier-Parteien-Koalitionen. Kooperationen von Linken und CDU. Minderheitsregierungen. Parteien müssen künftig flexibler sein, oder der Staat wird handlungsunfähig. Die Grünen beschreiben das als erste Partei so klar und zutreffend.

Sie stellen fest: So wie es ist, kann es nicht bleiben.

Wichtige Ideen des Grundsatzprogramms:
- Die sechs Grundwerte lauten: Ökologie, Gerechtigkeit, Selbstbestimmung, Demokratie, Frieden und das Selbstverständnis als Bündnispartei.
- Das Papier trägt den Titel: "Veränderung in Zuversicht". Die Grünen wollen keine Miesepeter sein, nicht die Verkünder der Endzeit.
- Technik ist für die Grünen nicht gut oder schlecht. Es kommt drauf an. Selbst Gentechnik erkennen sie unter Umständen als nützlich an.
- Umwelt- und Klimaschutz sei "nicht nur und noch nicht einmal zuallererst um der Natur willen geboten", sondern "um unser Leben als Menschheit in einem vollen Sinn zu bewahren." Es geht nicht um Eisbären, sondern um Menschen.
- Die Grünen bekennen sich vorbehaltlos zur "sozialen und ökologischen Marktwirtschaft", auf der "eine gerechte Gesellschaft" sogar basiere. Heißt: Ohne Markt keine Gerechtigkeit. Aber: Der Staat darf bei ihnen auch stark eingreifen.
- Auch Wachstum lehnen die Grünen nicht ab. Ohne Wachstum der erneuerbaren Energien etwa gibt es keinen Kohleausstieg. "Die Wirtschaft muss Teil der Lösung sein". Sie wollen aber ein neues Konzept von "qualitativem Wachstum".

Keine Heiligsprechung der Volksabstimmung

Dabei distanzieren sie sich zugleich von bisherigen Versuchen, die westlichen Demokratien zu ändern und sich an gesellschaftliche Änderungen anzupassen.

Eine verbreitete Reaktion war die Forderung nach direkter Demokratie, nach Referenden und Bürgerinitiativen – um Demokratie echter, reiner, wahrer zu machen. Doch antidemokratische Parteien haben diese Vorschläge übernommen und auch der Brexit mag zur Ernüchterung beigetragen haben.

Zudem war zuletzt häufiger davon die Rede, Bewegungen könnten starre Parteien ablösen. Bewegungen sind weniger formalisiert als Parteien, weniger strukturiert, offener für neue Teilnehmer. Zwei Versuche, die westliche Demokratie an grundsätzliche Veränderungen anzupassen. Emmanuel Macron mit "En Marche" schien die Vorteile einer beweglicheren Formation bewiesen zu haben. Sebastian Kurz machte es ihm nach.

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Ein dritter Weg

Beides läge als Modell für die Grünen nahe. Sie verstanden sich immer als basisdemokratisch und sind aus sozialen Bewegungen entstanden. Doch Habeck und Baerbock weisen beide Leitbilder zurück. Demokratie, heißt es in dem Papier, brauche "Repräsentanz" und "klar erkennbare Parteien". Bürgerbeteiligung wird nicht verworfen; aber gemeint ist nicht, nur Entscheidungen ans Volk zu geben, sondern dafür zu sorgen, dass wirklich alle Gruppen ins Gespräch und zu Entscheidungen kommen können.

Was Habeck und Baerbock vorschlagen, ist kein grundsätzlicher Umbau der alten repräsentativen Parteiendemokratie, sondern ein Update unter neuen Voraussetzungen. Eine Rückbesinnung auf die Prinzipien, man könnte sagen: Verfassungspatriotismus in einem grundsätzlichen Sinne. Eine Art dritter Weg zwischen dem Rückbau der Repräsentation und dem Rückbau der Parteien als Parteien. Nicht Direktdemokratie, nicht Bewegungsdemokratie, sondern Bündnisdemokratie, die repräsentative Demokratie wieder zu sich zurückführt.


Man muss auch den in der Außendarstellung begabten Grünen-Vorsitzenden einerseits nicht vorbehaltlos glauben, dass sie genau wissen, was das bedeutet, dass sie all das auch umsetzen und wenn doch, dass es funktioniert. Die Unschärfen wirken nicht gewollt. Andererseits ist es zweifellos: ein überraschend grundsätzlicher neuer Vorschlag.

Verwendete Quellen
  • Zwischenbericht des neuen Grundsatzprogramms
  • Eigene Recherchen
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