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Tagesanbruch: Im Nato-Staat Türkei eskaliert ein brisanter Streit


Was heute wichtig ist
Raketengrüße aus Moskau

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 31.05.2019Lesedauer: 6 Min.
Meinung
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Getarnte russische S-400-RaketenVergrößern des Bildes
Getarnte russische S-400-Raketen (Quelle: Vitaly Nevar/TASS)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Wer in diesen Tagen die deutsche Innenpolitik verfolgt, kommt an dem Credo nicht vorbei: CDU und SPD befinden sich in der Krise, die Volksparteien erreichen die Jungen und die Mittelalten nicht mehr, sie verpassen globale Trends wie die Digitalisierung und das Aufbegehren gegen die Klimakrise, sie finden keine Antworten auf viele soziale und kulturelle Brüche in unserer Gesellschaft. Die Kritik bläst den Parteichefinnen und ihren Adlaten mit Windstärke 12 ins Gesicht, und zumindest 9, 10 davon mögen durchaus berechtigt sein. Aber Kritik bietet ja immer die Möglichkeit, das eigene Handeln zu hinterfragen und neue Wege einzuschlagen.

Heute dürfen wir trotzdem mal ein paar Windstärken drosseln. Wie riskant es ist, wenn Volksparteien ihre Bindungskraft verlieren, wenn das parlamentarische System in Klein- und Kleinstparteien zersplittert, macht uns gerade ein Land vor, das uns besonders nahesteht. In Israel ist die Regierungsbildung sieben Wochen nach der Parlamentswahl gescheitert. Wahlsieger Benjamin Netanjahu ist es nicht gelungen, eine Koalition zu schmieden, und da er seinen Kontrahenten Benny Gantz partout von der Macht fernhalten will, lässt er das Volk kurzerhand erneut abstimmen. Vordergründig geht es bei dem Streit um die Frage, ob ultraorthodoxe Juden Wehrdienst leisten sollen. Netanjahus Likud wollte mit drei anderen Parteien koalieren – eine beantwortete die Frage mit: unbedingt! Die anderen beiden wetterten: auf keinen Fall!

Hintergründig geht es um Netanjahus Angst vor dem Verlust der Immunität und einem Korruptionsverfahren – vor allem aber zeigt uns dieses unwürdige Schauspiel, was aus einem politischen System wird, in dem zahlreiche Kleinparteien ausschließlich die Anliegen ihrer jeweiligen Klientel durchpauken wollen. Wenn die in einer Demokratie wesensnotwendige Kompromissfindung nicht mehr möglich ist, weil jeder nur noch an sich selbst denkt, dann leidet früher oder später das ganze Land: versäumte Reformen, aufgeschobene Entscheidungen, politischer Stillstand. So gesehen können wir den deutschen Volksparteien eigentlich nur wünschen, dass sie wieder in Schwung kommen. Genug Wind ist ja da.


WAS STEHT AN?

Würde man es mit leichter Feder beschreiben, könnte man es einen Hightech-Wettkampf nennen: Eines der leistungsfähigsten Flugabwehrsysteme der Welt, bestehend aus russischen S-400-Raketen, tritt gegen den modernsten Kampfjet unserer Zeit an, die US-amerikanische F-35. Austragungsort: der türkische Luftraum. Eingesetzte Waffen: Drohungen, Winkelzüge und Sanktionen. Showdown: jetzt.

Im Juli will Russland damit beginnen, die S-400 an die Türkei auszuliefern. Vor nicht einmal zwei Jahren hatte Ankara den Kaufvertrag unterschrieben und damit innerhalb der Nato für einen Riesenwirbel gesorgt. Ein Mitglied der Allianz deckt sich mit modernster Waffentechnik direkt beim Gegner Russland ein? Bis dahin undenkbar. Nun steht der Deal vor der Vollendung, und der Druck im Kessel steigt. Bis zum Ende der ersten Juni-Woche müsse die Türkei von der Vereinbarung zurücktreten, sonst würden Sanktionen verhängt, keift man in Washington. Angesichts der Wirtschaftskrise am Bosporus ist das eine Drohung mit großen Zähnen. Auch militärisch beißen die US-Amerikaner zu: Die Vorbereitungen zur Auslieferung des Tarnkappenjägers F-35, von dem die türkische Luftwaffe ebenfalls 100 Exemplare bestellt hat, wurden abgeblasen.

Mir doch egal, tönt Präsident Erdogan. Türkische Soldaten hätten die Ausbildung an dem russischen System bereits begonnen, der Deal sei besiegelt, und die F-35 werde er früher oder später auch noch irgendwie bekommen. So ganz ohne Grund sagt er das nicht. Denn pikanterweise ist die Türkei in die Entwicklung und Produktion des Wunderflugzeugs eingebunden, liefert Teile des Rumpfes, des Fahrwerks und wichtige Komponenten der Cockpitausstattung. Drohungen? Pah! Ach ja, und übrigens werde die Türkei gemeinsam mit den Russen das Nachfolgesystem der S-400 entwickeln, brüstete sich Erdogan neulich in Moskau. Ätsch, Amerika!

Aber warum eigentlich die ganze Aufregung? Ist es wirklich so schlimm, wenn neben dem üblichen Nato-Equipment auch noch ein, zwei russische Raketenbatterien in den Kasernen rumstehen? Ja, ist schlimm, heißt es übereinstimmend aus der Nato. Denn wenn die Radare der S-400 den Himmel erfassen, sammeln sie fleißig Daten über das Flugverhalten des hypermodernen US-Jets – der für russische Systeme eigentlich unsichtbar bleiben soll. Und die Raketen aus dem Osten werden in die IT-Systeme der türkischen Luftraumüberwachung eingestöpselt, wodurch die Nato den Abfluss hochsensibler Daten gen Moskau befürchtet.

Die Aufrichtigkeit dieser Besorgnis, insbesondere seitens der US-Amerikaner, leidet ein bisschen darunter, dass Washington übrigens, wo wir doch zufällig gerade von Flugabwehr sprechen, auch etwas Attraktives im Angebot hätte: schicke Patriot-Raketen! Okay, ein bisschen teurer als das Zeug aus Russland, aber Qualität hat eben ihren Preis. Im Zuge des Pokers um die S-400 gab es schon das eine oder andere Sonderangebot. Und apropos, die Wirtschaftssanktionen könnte man dann ja auch gleich abräumen, eine Hand wäscht die andere. Drohen und verkaufen, das können die US-Amerikaner gut, wie wir spätestens seit der Affäre um Huawei wissen.

Dennoch: Es geht nicht nur um Waffen, Geld, Geschäft und Sicherheit. In einer zerrütteten Ehe streitet man sich eben auch über die richtige Art, die Zahnpastatube auszuquetschen. Ähnlich ist das in der Beziehung der Türkei zur Nato, bei der wir uns die russischen Raketen als die Zahnpasta vorstellen dürfen. Unvergessen, wie Erdogan einst Politiker von CDU, SPD und Grünen als "Feinde der Türkei" beschimpfte und unseren Nachbarn in den Niederlanden einen "verkommenen Charakter" vorwarf. Die USA wiederum unterstützen in Syrien kurdische Milizen, die Ankara für Terroristen reinsten Wassers hält. Und der türkische Staatsfeind Nummer eins, Erdogans einstiger Weggefährte Fethullah Gülen, residiert ungestört in Pennsylvania. Zwischenzeitlich waren die Beziehungen zur Türkei so schlecht, dass US-Amerikaner und Deutsche sogar ihre Luftabwehrraketen zum Schutz der Nato-Außengrenze aus der Türkei abzogen. Welche waren das noch mal? Ah, Patriot. Schau an.


Heute geben sich die Weltmächte in Berlin die Klinke in die Hand. Gerade erst mit Doktorwürde aus Harvard zurückgekehrt, bekommt Angela Merkel Besuch vom US-amerikanischen Außenminister Mike Pompeo (das ist der, der neulich seine Antrittsvisite in Berlin kurzfristig absagte). Wichtigstes Thema ist der Streit über das Atomabkommen mit dem Iran. Nach der Großmacht aus dem Westen empfängt Merkel die andere aus dem Osten: Chinas Vizepräsident Wang Qishan macht der Kanzlerin seine Aufwartung. Auch da werden wir nette Bilder von Händeschüttlern zu sehen bekommen. Was wir nicht sehen werden (aber trotzdem wissen): Dieser Besuch ist gerade heute brisant. Denn an diesem Freitag treten die chinesischen Sonderzölle auf Importe aus den USA im Wert von 60 Milliarden US-Dollar in Kraft. Sie sind Pekings Vergeltung für die Anhebung der US-Sonderzölle auf chinesische Waren im Wert von 200 Milliarden US-Dollar. Die USA und China befinden sich im Krieg. Dass vor dem -krieg noch das Wort Handel- steht, beruhigt uns nur mäßig.


Viel große Weltpolitik also heute. Was vielen von uns dennoch wichtiger sein dürfte: Der Sommer beginnt! Uns erwartet das erste richtig heiße Wochenende des Jahres. Da kann man im Spreewald Schiffchen fahren, im Freibad plantschen, auf der Terrasse grillen – oder einfach nur im Liegestuhl liegen und die Turbulenzen rund um den Globus für ein paar Stunden vergessen. Dann schmeckt das Bierchen gleich noch besser.


WAS LESEN?

Nach den vielen Stimmverlusten bei der Europawahl rumort es in der CDU. Der Jurist Christian Säfken hat öffentlich seinen Austritt aus der Partei erklärt und dafür viel Zuspruch bekommen. Der frühere Generalsekretär Ruprecht Polenz sieht in der CDU zwar ebenfalls vieles kritisch, hält einen Austritt aber für grundfalsch. Was liegt also näher, als die beiden miteinander diskutieren zu lassen? Eben. Meine Kollegen Tim Kummert und Lars Wienand haben das Streitgespräch moderiert.


Ja, die Wahlbeteiligung bei der Europawahl war groß – aber sind es wirklich politische Themen, die die meisten Menschen hierzulande umtreiben? Mein Kollege Henning Seelmeyer hat sich einfach mal da umgehört, wo sich eigentlich nie ein Politiker blicken lässt: in einer Kleingartenkolonie.


Österreich hat jetzt erstmals eine Interims-Kanzlerin – aber das beruhigt die Lage in unserem aufgewühlten Nachbarland allenfalls vordergründig. Was geschieht hinter den Kulissen, wie taktiert der abgesetzte Sebastian Kurz – und wer hat wirklich das Strache-Video filmen lassen? Unser Kolumnist Gerhard Spörl ist in Wien den Spuren des Politskandals nachgegangen.


WAS AMÜSIERT MICH?

Ja, es sind wilde politische Zeiten in diesem unseren Land.

Ich wünsche Ihnen einen kurzen Freitag und ein langes Wochenende. Den Tagesanbruch-Podcast übernimmt morgen Peter Schink, am Montag schreibt Florian Wichert für Sie. Ich melde mich dann am Dienstagmorgen wieder zurück.

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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