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Zehn Jahre Syrien-Krieg – Wer wegsieht, macht sich mitschuldig


Tagesanbruch
Die Tore zur Hölle

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 13.03.2021Lesedauer: 4 Min.
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Syrer in einem Flüchtlingslager bei Aleppo (Archivbild).Vergrößern des Bildes
Syrer in einem Flüchtlingslager bei Aleppo (Archivbild). (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

wer sich tagtäglich mit ein und demselben Thema beschäftigt, verliert bald andere Ereignisse aus dem Blick, sogar wenn sie eigentlich wichtiger sind. Am Montag jährt sich der Ausbruch des Syrien-Konflikts zum zehnten Mal, aber zwischen all den Corona-Schlagzeilen geht die Aufmerksamkeit für die humanitäre Katastrophe unter.

Die brutale Reaktion des Assad-Regimes auf den Aufstand der Menschen in Dera'a, Homs, Hama, Aleppo und weiteren Städten, der Bürgerkrieg, bei dem man schon bald nicht mehr zwischen Guten und Bösen unterscheiden konnte, Folter und Exekutionen in Geheimgefängnissen, Giftgasangriffe auf Zivilisten, Hungersnöte, zerbombte Städte und Dörfer, die zynische Einmischung der Russen, Türken, Saudis, Amerikaner, Israelis: Es gibt kaum ein Leid, dem das syrische Volk in dieser Dekade des Horrors nicht ausgesetzt worden ist. Die fragile Balance zwischen all den Nationalitäten, Kulturen, Sprachen und Interessen in diesem Vielvölkerstaat ist der Gewalt und der Gemeinheit geopfert worden. Während meines Studiums in Damaskus vor 23 Jahren traf ich einen Diplomaten, der schon damals prophezeite: Sollte es hier mal zu einem Bürgerkrieg kommen, dann werden die Tore zur Hölle geöffnet.

Bis heute stehen diese Tore sperrangelweit offen: Täglich sterben Kinder, bibbern Frauen in Zelten aus Plastikplanen, werden Männer zu Tode gemartert. Aber die Welt scheint sich damit abgefunden zu haben, diplomatische Initiativen sind rar, und es fehlt an Geld für die Flüchtlinge in den Elendslagern in Idlib, Jordanien, der Türkei und dem Libanon. Hilfsorganisationen wie Unicef, Ärzte ohne Grenzen und die Syrien-Hilfe tun ihr Möglichstes, jeder Euro Spendengeld hilft. Aber auch das befreit uns Europäer nicht von unserer moralischen Mitverantwortung für dieses Desaster. Wer wegsieht, wenn andere leiden, macht sich mitschuldig.

Manchmal jedoch bietet sich eine Gelegenheit zu helfen, und von so einer Gelegenheit möchte ich Ihnen heute erzählen. In Damaskus lernte ich damals einen netten jungen Mann kennen: Khaled war Ingenieur, lernte nebenher am Goethe-Institut Deutsch und schwärmte für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft. Wir blieben in Kontakt, später besuchte er uns in Hamburg, und wir trafen ihn, seine Frau Maya und die Kinder auf weiteren Syrien-Reisen wieder. Ihre Gastfreundschaft war überwältigend.

Dann begann der Krieg, und als Khaled fürchten müsste, von Assads Schergen zum Militärdienst gezwungen zu werden, als die Lebensmittel rarer und teurer wurden und dann auch noch eine Rakete neben der Schule von Khaleds und Mayas Sohn einschlug, beschloss die Familie zu fliehen. Der Weg durchs Kriegsgebiet, vorbei an Checkpoints der Assad-Soldaten, von Dschihadisten und Warlords kostete sie Angstschweiß und Dollars. Aber sie schafften es bis nach Istanbul, wo sie Unterschlupf fanden, jedoch nicht arbeiten durften. Die Monate verstrichen, das Geld wurde knapper, der Frust wuchs. Irgendwann waren die beiden drauf und dran, eines der überfüllten Flüchtlingsboote zu besteigen, um die gefährliche Überfahrt nach Griechenland zu wagen. In mehreren Telefonaten konnten wir sie davon abhalten.

Was tun? Auf einer Geburtstagsfeier erzählte ich meinem Onkel von Khaleds Schicksal – und er hatte eine Idee: In Süddeutschland kannte er einen Unternehmer mit großer Firma und großem Herz, der suchte doch immer Ingenieure! Also bat er ihn darum, eine Arbeitsanforderung auszustellen, mit der Khaled in Deutschland einreisen und später seine Frau und die Kinder nachholen konnte.

Inzwischen lebt die Familie seit Jahren in Stuttgart, Khaled arbeitet wieder als Ingenieur, Maya führt eine Eisdiele, die Kinder haben eine deutsche Schule besucht. Nicht alles ist perfekt, aber die Familie hat überlebt, verdient ihr eigenes Geld – und hat gelernt, dass Deutschland ein gastfreundliches Land ist, das Bedrängten in der Not hilft. So, wie im 20. Jahrhundert eben auch viele Deutsche die großzügige Hilfe anderer Länder erfahren haben.

Selbst im größten Elend gibt es Möglichkeiten zu helfen: Das hat mir diese Erfahrung gezeigt, und ich finde, das ist trotz all der Schrecken eingedenk des zehnten Jahrestags des Syrien-Krieges eine positive Nachricht. Deshalb sprechen mein Kollege Marc Krüger und ich in unserem heutigen Podcast auch darüber – sowie natürlich ausführlich über die brisante Lage in Deutschland. Hören Sie bitte hinein, es ist unsere 100. Wochenendausgabe:

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Als Wochenendmusik empfehle ich Ihnen heute ein Lied der großen libanesischen Sängerin Fairouz: "Für Damaskus" hat sie es genannt, darin erinnert sie an die Pracht dieser einst so schönen, heute vom Krieg gezeichneten Stadt. Wenn Sie mir einen Gefallen tun mögen, dann denken Sie heute doch wenigstens ein paar Minuten lang an die Menschen in Syrien. Mitgefühl ist nämlich der erste Schritt zur Hilfe.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein nachdenkliches Wochenende. Am Montag kommentiert mein Kollege Sven Böll den Ausgang der Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, von mir lesen Sie am Dienstag wieder. Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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