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Erdbebenkatastrophe: "Leid der Kinder ist nicht in Worte zu fassen"


Dramatische Lage im Erdbebengebiet
"Sonst kommt es zu einer zweiten Katastrophe"

InterviewVon Liesa Wölm

Aktualisiert am 11.02.2023Lesedauer: 6 Min.
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Antakya, Türkei: Ein Südkoreanisches Rettungsteam rettet ein Kleinkind aus den Trümmern eines Hauses.Vergrößern des Bildes
Antakya, Türkei: Ein südkoreanisches Rettungsteam rettet ein Kleinkind aus den Trümmern eines Hauses. (Quelle: dpa)

Sechs Tage nach den verheerenden Erdbeben haben die Rettungskräfte kaum noch Hoffnung, Überlebende zu finden. Und es droht bereits die nächste Katastrophe.

Es sind Bilder und Geschichten, die unter die Haut gehen: Ein Vater hält die Hand seiner 15-jährigen Tochter – tot, unter Trümmern begraben. Ein Mädchen spricht mit Rettungskräften, eingeklemmt unter dicken Betonplatten, im Arm hat sie ihren kleinen Bruder. Ein Mann, der ein neugeborenes Baby aus einem zerstörten Haus rettet – soeben von der Mutter getrennt, die ihren schweren Verletzungen erlag.

Die Erdbeben in der Türkei und in Syrien bringen tragische Einzelschicksale mit sich. Tag für Tag wird das Ausmaß offensichtlicher. Bis Sonntagmorgen meldeten die Länder mehr als 25.000 Tote und mehr als 80.000 Verletzte. Die Zahlen steigen stündlich. Hier lesen Sie alles zu den neuesten Entwicklungen.

Vor Ort kämpfen Hilfsorganisationen nicht nur gegen die Zeit, sondern auch gegen die Politik. Denn die Katastrophe ereignete sich zum Teil in einer ohnehin schon kriegsgebeutelten Region: Nordsyrien. Rudi Tarneden, Pressesprecher von Unicef Deutschland, spricht über die größten Herausforderungen und was passieren muss, damit die Hilfe bei allen ankommt.

t-online: Herr Tarneden, wie geht es den Menschen, insbesondere im Nordwesten Syriens?

Rudi Tarneden: Das Beben trifft eine Bevölkerung, die ohnehin schon schwer gebeutelt ist. Es ist eine Katastrophe in einer Katastrophe. Allein im Großraum Aleppo können derzeit rund 100.000 Menschen nicht in ihre Häuser zurückkehren, denn viele Gebäude sind komplett zerstört. Und die Menschen, deren Häuser noch stehen, gehen nicht zurück aus Angst vor Nachbeben und dass die Statik, die bereits durch den Krieg schwer gelitten hat, nicht halten wird.

Was passiert nun mit den Betroffenen?

Ein Drittel dieser Menschen ist in Moscheen oder Schulen untergekommen. Sie füllten sich blitzschnell. Am Morgen nach den Erdbeben waren sieben Schulen komplett voll mit Menschen, am Abend waren es 120. Die Menschen suchten dort die erste Zuflucht. Sie hatten teilweise nur das dabei, was sie am Leib trugen. Die heftigen Beben waren enorm traumatisierend.

Unicef

ist das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (United Nations Children's Fund). Unicef Deutschland wurde 1953 als Verein gegründet, sein Auftrag: Die Rechte für jedes Kind zu verwirklichen, unabhängig von seiner Hautfarbe, Religion oder Herkunft. Gemeinsam mit Partnerorganisationen unterstützt Unicef unter anderem die syrischen und türkischen Familien und leistet umfangreiche humanitäre Hilfe. Hier können Sie an die Organisation spenden.

Vor welchen Herausforderungen stehen die Retterinnen und Retter insbesondere in dieser Region?

Es ist nur ein Grenzübergang von der Türkei nach Syrien für internationale Hilfstransporte geöffnet – das reicht nicht aus. Im Januar gelang es im UN-Sicherheitsrat lediglich, die Öffnung bis Juni zu vereinbaren. Das ist in Anbetracht der derzeitigen Situation zu kurz. Die Unicef-Kolleginnen und -Kollegen vor Ort berichten, dass die Versorgung von vier Millionen Menschen in dem Gebiet auch ohne das Erdbeben nicht gesichert war.

Die Hilfsmittel aus den dort ansässigen Unicef-Lagern werden derzeit schnell verteilt, weil der Bedarf groß ist. Doch das bedeutet auch, dass sich die Lager leeren und die Helferinnen und Helfer unter Druck stehen, sie wieder aufzufüllen. Wenn dafür nur ein halbes Jahr Zeit bleibt, ist die Versorgung vieler Familien bedroht. Es ist aber ein Hoffnungszeichen, dass am Donnerstag der erste UN-Konvoi nach Nordwest-Syrien reinfahren konnte.

Viele Menschen lebten auch vor dem Erdbeben bereits in großer Armut, in Flüchtlingslagern oder provisorischen Unterkünften. Einige sind mehrfach geflüchtet.

Das Leid dieser Menschen, besonders der Kinder, ist nicht in Worte zu fassen. Es ist schlicht unerträglich. Es ist ein Gebot der Menschlichkeit, ihre Grundversorgung sicherzustellen.

Bürgerkrieg in Syrien

Die Arabische Republik Syrien ist offiziell ein sozialistisch-volksdemokratischer Staat mit einem Präsidenten an der Staatsspitze, doch seit 2000 herrscht Staatspräsident Baschar al-Assad als Diktator in dem Land. 2011 gab es zunächst friedliche Proteste der Bevölkerung für mehr Freiheit und gegen die Diktatur. Das Regime ging daraufhin mit Gewalt gegen die Bevölkerung vor. Es kam zum Bürgerkrieg, der immer noch anhält. Immer mehr Kriegsparteien, unter ihnen die Terrorgruppe "Islamischer Staat" und Russland, haben sich an diesem Krieg beteiligt. Mehr als 500.000 Menschen starben bei den Kämpfen, mehr als fünf Millionen Menschen sind aus Syrien geflohen. Weitere sechs Millionen Menschen leben als Geflüchtete im eigenen Land.

Syriens Machthaber Assad besteht darauf, dass die Hilfen über sein Regime laufen. Das birgt die Gefahr, dass sie nicht in den Gebieten ankommen, die die Rebellen kontrollieren. Wie lässt sich das Problem im Sinne der Bevölkerung lösen?

Dass die Katastrophe grenzübergreifend ist, ist eine sehr besondere Situation. Es ist eine politisch-diplomatische Offensive notwendig, um die kontinuierliche humanitäre Versorgung voranzutreiben. Es ist wichtig, die Politik beiseitezulassen und der humanitären Hilfe Vorrang zu geben – wie es auch Generalsekretär António Guterres gesagt hat. Es muss nun international an einer Lösung gearbeitet werden.

Was müsste die Bundesregierung dafür tun?

Das Allerwichtigste ist jetzt, dass die Bundesregierung zusammen mit den Staaten der Europäischen Union die humanitäre Hilfe in den kommenden Monaten weiter unterstützt und zugleich alle diplomatischen Kanäle nutzt, um den Zugang zu Nordsyrien zu verbessern. Außenministerin Baerbock hat sich bereits in diesem Sinn geäußert, das ist wichtig. Wir brauchen eine stabile Versorgungspipeline für die Menschen.

In der Türkei gibt es große Kritik an Präsident Erdoğan wegen seines Krisenmanagements. Spitzt sich die Lage deshalb womöglich noch weiter zu?

Die Türkei hat in den vergangenen Jahren viel in der Katastrophenvorsorge gemacht. Auf eine Katastrophe dieser Größenordnung kann man sich aber wohl kaum wirklich vorbereiten. Es ist nicht der Moment, um über Fehler oder Verantwortlichkeiten zu sprechen. Die Trauer und die Verzweiflung der Menschen sind mehr als verständlich. Jetzt ist es wichtig, sich auf die Hilfe zu konzentrieren.


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Die Auswirkungen gehen noch viel weiter.


Rudi Tarneden, Unicef Deutschland


Bilder von Kindern unter Trümmern gehen um die Welt. Noch ist nicht klar, wie viele von ihnen ohne Eltern aufwachsen werden. Welche Folgen hat das Erlebte für junge Menschen?

Es ist schwer zu ermessen, was es mit einem vier- oder fünfjährigen Kind macht, wenn es tagelang in Trümmern festgesteckt hat. Es hat dem Tod ins Auge gesehen, ist von einem auf den anderen Tag in diese verzweifelte Situation geraten. Man sieht den Kindern den Schock und die Angst an, wie die Kolleginnen und Kollegen vor Ort berichten.

Die erheblichen Zerstörungen, die zusammengefallenen Häuser und Straßenzüge – das ist das, was man auf den Bildern sieht. Doch die Auswirkungen gehen noch viel weiter: Den Kindern fehlt es an grundlegenden Dingen, die sie dringend brauchen. Ein Schlafplatz, sauberes Trinkwasser, ausreichend Nahrung, warme und sichere Orte – all das ist für so viele junge Menschen derzeit nicht mehr gewährleistet.

Neben den psychischen Folgen kommen also auch die physischen hinzu.

Genau. Zahlreiche Kinder benötigen gerade dringend medizinische Hilfe. Sie haben Knochenbrüche, Schnitt- oder Platzwunden. All das muss schnell versorgt werden. Denn wenn ein Knochenbruch bei einem Kind nicht behandelt wird, kann sich schnell eine Entzündung bilden. Das kann zu erheblichen Komplikationen bis hin zu Amputationen führen.

Wie hilft Unicef vor Ort?

Wir stellen Hilfsgüter bereit, wie etwa warme Decken und Hygieneartikel. Gleichzeitig planen wir mit den Behörden und Partnerorganisationen vor Ort mittelfristige Maßnahmen. Es geht darum, die Bevölkerung und vor allem die Kinder in den kommenden schweren Monaten zu versorgen und zu unterstützen. Sonst kommt es zu einer zweiten Katastrophe – verursacht durch Hunger, Krankheiten und Mangelernährung.

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Was stellt dabei eine besonders große Gefahr dar?

In Syrien ist die Wasserversorgung in weiten Teilen ohnehin schon seit den Jahren des Krieges sehr schlecht. Jetzt sind viele Leitungen geborsten. Es besteht die große Gefahr, sich mit Cholera oder anderen gefährlichen Krankheiten zu infizieren. Besonders für Kinder ist das lebensgefährlich. Aber auch in der Türkei haben die Erdbeben viel zerstört. Unicef nimmt in Zusammenarbeit mit den Behörden die Schäden auf und unterstützt die Reparaturmaßnahmen, um die Wasserversorgung wieder herzustellen – denn ohne Wasser kann niemand überleben.

Der Alltag hat sich für Millionen von Menschen von heute auf morgen komplett verändert. Vielen Kindern fehlen Halt und Sicherheit.

Deshalb organisieren wir in Krisensituationen sogenannte kinderfreundliche Orte. Dort sind die Kinder und Jugendlichen sicher, sie können spielen. In dieser Zeit können sich die Eltern darum kümmern, ihr Leben neu zu organisieren. Zudem haben die Kinder Zugang zu psychosozialer Unterstützung. Oft werden auch junge Menschen gefunden, die Angehörige vermissen oder die sogar ihre komplette Familie verloren haben. Sie müssen registriert und die Suche nach Angehörigen gestartet werden.

Was passiert mit den Waisen?

Sie müssen möglichst schnell mit Verwandten zusammengebracht werden. Das familiäre Umfeld ist der beste und wichtigste Ort, wo Kinder Sicherheit und Geborgenheit erfahren können. Entsprechende Suchmaßnahmen werden mit den Behörden und mit den Partnerorganisationen vor Ort angeschoben.

Im Katastrophengebiet sind derzeit alle Schulen geschlossen, auch dort, wo die Kinder nicht direkt betroffen sind.

Es ist wichtig, möglichst schnell wieder die Schulen zu eröffnen und dort, wo die Beben die Schulen zerstört haben, Alternativen zu schaffen und provisorischen Unterricht anzubieten. Die Schule ist für viele Kinder ein Anker und vermittelt ihnen Stabilität.

Herr Tarneden, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Telefoninterview mit Rudi Tarneden am 9. Februar 2023
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