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Unfall in China: Schockierendes Video löst Moraldebatte aus


Überfahrene Frau spaltet China
"Unsere Moral ist so tief gesunken"

ap, Gerry Shih

Aktualisiert am 12.06.2017Lesedauer: 4 Min.
Das Video einer Frau, die von einem Taxi angefahren und einem zweiten Auto überrollt wurde, sorgt in China für Diskussionen zum moralischen Verfall innerhalb der Gesellschaft.Vergrößern des BildesDas Video einer Frau, die von einem Taxi angefahren und einem zweiten Auto überrollt wurde, sorgt in China für Diskussionen zum moralischen Verfall innerhalb der Gesellschaft. (Quelle: YouTube)
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Ein Video, das einen tödlichen Verkehrsunfall zeigt, hat in China eine Debatte über Sitten und Anstand ausgelöst. Die Passanten, die dem Unfallopfer nicht geholfen haben, seien ein Spiegel der Gesellschaft, meinen viele.

Das Taxi fährt zu schnell, der Fahrer übersieht die junge Frau. Die Wucht des Aufpralls lässt sie durch die Luft fliegen. Mitten auf der belebten Kreuzung bleibt sie liegen. Mehrere Dutzend Menschen gaffen oder laufen einfach weiter, als ob nichts geschehen wäre. Eine volle Minute vergeht. Dann überfährt eine Geländelimousine das bewusstlose Opfer.

Das Video des tödlichen Unfalls in der chinesischen Stadt Zhumadian kursierte vergangene Woche in den sozialen Medien. Innerhalb von 24 Stunden wurde es mehr als fünf Millionen Mal aufgerufen. Die spontane Reaktion der Internet-Nutzer: wütende Tiraden an die Adresse der mehr als 40 Fußgänger und Autofahrer, die der jungen Frau nicht geholfen haben. Doch für viele Chinesen ist das 94 Sekunden dauernde Video, das inzwischen zensiert wurde, mehr als die Dokumentation eines kaum begreiflichen Einzelfalls - nämlich der Beweis für die Verkommenheit ihrer Gesellschaft.

Ein Land ohne Moral?

Nach außen präsentiert sich China als prosperierende Volkswirtschaft und aufstrebende Weltmacht, aber moralisch liegt offenbar einiges im Argen. Egal ob am Küchentisch oder via Messenger: Wenn es in den Unterhaltungen um "suzhi" und "dixian" geht, also um Charakterstärke und Unrechtsbewusstsein, sehen viele Chinesen schwarz.

Man klagt über ein Land, in dem Hersteller wissentlich vergiftete Babynahrung und gefälschte Impfstoffe auf den Markt bringen, in dem Restaurantköche verdorbenes Öl verwenden und Lebensmittelläden falsche Eier oder falschen Reis verkaufen. Es kursieren Geschichten von Betrügern, die Passanten auf der Straße um Hilfe bitten und dann Verletzungen vortäuschen, um Geld zu erpressen - infolge dessen ist die Hilfsbereitschaft rapide gesunken.

"Das ganze Land hat ein Problem: Unsere Moral ist so tief gesunken", klagt der Schriftsteller Tian You. Im Hinblick auf den Unfall in Zhumadian, der sich laut Polizei bereits am 21. April ereignete, räumt er ein: "Wenn ich ganz ehrlich bin, ich frage mich, ob ich es gewagt hätte, der Frau zu helfen."

Sittenverfall ist nichts Neues

Das Video löste eine öffentliche Diskussion aus, die sich sogar auf die staatlichen Medien erstreckte. Die Jugendliga der Kommunistischen Partei verbreitete die Aufnahmen über den Microblogging-Dienst Weibo und appellierte an die Abonnenten ihres Kanals, sich nicht so gleichgültig zu verhalten wie die Unfallzeugen. In einem Meinungsbeitrag auf china.com wurden die Leser aufgerufen, über das tragische Ereignis nachzudenken.

Andere holten gleich zum Rundumschlag aus. So schrieb der Kolumnist der Zeitung "Chengdu Econoic Daily": "Ist die Moral unserer Gesellschaft in den vergangenen zehn Jahren besser oder schlechter geworden? Was ist mit unserer Zukunft, sind Sie zuversichtlich? Mich sollten Sie besser nicht fragen, denn ich bin es nicht."

Die allgemeine Sorge um einen Verfall der Sitten ist in China nichts Neues. Seit den ersten Reformen in Richtung Marktwirtschaft in den 1980er Jahren hört man insbesondere von den Älteren Klagen über einen moralischen Niedergang, während die jüngeren Chinesen sich zum Beispiel fragen, warum andere Ländern weniger Probleme mit gefälschten Produkten haben.

Gesellschaft fehlt ein "Moralsystem"

Viele Dinge, die die Mittelschicht desillusionieren, sind nach Ansicht chinesischer Wissenschaftler auf mangelnde staatliche Regulierung zurückzuführen sowie auf die Folgen des schnellen Wirtschaftswachstums. Im Westen könne man sich auf die drei Säulen Gesetz, Glaube und Moral stützen, sagt Ma Ai von der Universität für Politik und Recht in Peking. "Unser Rechtssystem holt auf, aber uns fehlt die Religion", sagt Ma, "und es hat sich kein neues Moralsystem etabliert, nachdem China sich weg von einer traditionellen, kollektivistischen Gesellschaft entwickelt hat."

Die Chinesen sind in dieser Hinsicht durchaus selbstkritisch. Bereits im Jahr 2009 veröffentlichte die Zeitung "Renmin Ribao", das Sprachrohr der Kommunistischen Partei, einen Beitrag unter der Überschrift: "Fehlt dem chinesischen Volk das Mitgefühl?" Illustriert war der Text mit dem Foto eines Hundes, der auf einer belebten Straße neben einem verletzten Artgenossen steht.

Der Autor stellte die provokante Frage, ob ein Mensch wohl dasselbe tun würde. Im Jahr 2011 gab es eine nationale Debatte, nachdem ein zweijähriges Mädchen in der Provinz Guangdong von einem Lastwagen angefahren worden war und mehrere Minuten lang tödlich verletzt auf der Straße lag, ohne dass jemand zu Hilfe kam.

Bürgern fehlen religiöse Werte

Einer Umfrage aus dem Jahr 2014 zufolge erachten Chinesen den Mangel an Glaube und Moral als größtes gesellschaftliches Problem. So mancher sieht die Ursachen dafür in der jüngsten politischen Vergangenheit des Landes: Das kommunistische Regime habe lange Zeit traditionelle und religiöse Werte unterdrückt und die Stabilität über die Gerechtigkeit gestellt.

"Unser politisches System reguliert nicht die Dinge, die es regulieren sollte, und zugleich steuert es Dinge, die es nicht steuern sollte", kritisiert der Journalist Zhang Wen. In seinem eigenen Bekanntenkreis hätten viele das Gefühl, sich "emotional zurückgezogen" zu haben. "Wir sind zu Individuen geworden, entfremdet, und tun alles, um voranzukommen", sagt Zhang. "Es ist kein Spielraum da, um sich um andere zu kümmern."

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