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Historiker Kershaw über Russland: "Putin würde seine Vernichtung provozieren"


Historiker Ian Kershaw
"Damit würde Putin seine Vernichtung provozieren"

InterviewVon Marc von Lüpke, Florian Harms

Aktualisiert am 07.11.2022Lesedauer: 7 Min.
Interview
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Wladimir Putin: Die russische Aggression gegen die Ukraine war vorhersehbar, sagt Historiker Ian Kershaw.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Die russische Aggression gegen die Ukraine war vorhersehbar, sagt Historiker Ian Kershaw. (Quelle: Mikhail Metzel/dpa)

Putins Pläne gegen die Ukraine sind gescheitert. Warum der russische Präsident auch in dieser Situation nicht zum äußersten Mittel greifen wird, erklärt der Historiker Ian Kershaw im Interview.

Wladimir Putin führt Krieg und fordert den Westen unverhohlen heraus, im EU-Land Italien regieren mittlerweile Ultrarechte: Können die westlichen Demokratien den Drohungen des Kremls sowie den falschen Versprechungen von Nationalisten und Populisten standhalten? Ja, können sie, sagt mit Ian Kershaw einer der führenden Historiker der Gegenwart. Denn anders als vor rund 100 Jahren seien unsere Gesellschaften heute viel stärker.

Warum Russlands Angriff den Historiker im Gegensatz zu vielen anderen Beobachtern nicht überrascht hat, weshalb Putin trotz schwerer Rückschläge wohl nicht zur Atombombe greifen wird und in welcher Hinsicht unsere Demokratie Reformbedarf hat, erklärt Ian Kershaw im t-online-Gespräch.

t-online: Professor Kershaw, Sie beschreiben die europäische Geschichte als ein Wechselspiel zwischen gegensätzlichen Persönlichkeiten, etwa Hitler und Churchill. Warum gibt es heute keinen dominierenden demokratischen Staatsmann als Gegenspieler zum Aggressor Wladimir Putin?

Ian Kershaw: Europa funktioniert heute ganz anderes als in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Damals konnten die Nationalstaaten Alleingänge unternehmen, die sich oft als fatal erwiesen. Heute sind die meisten Demokratien in die Europäische Union eingebunden. Die politischen Prozesse sind deshalb viel komplexer und verflochtener als vor rund 100 Jahren. Demokratische Staats- und Regierungschefs haben allein keinen so großen Spielraum wie Autokraten und Diktatoren.

Kann Putin also nur deshalb so weit gehen, weil er längst ein Diktator ist?

Zumindest gibt es in Russland kaum jemanden in hoher Stelle, der ihm widerspricht.

Sind die konsensorientierten Entscheidungsprozesse der Demokratien angesichts des Krieges in der Ukraine eine Schwäche?

Den westlichen Demokratien haftet der Ruf an, langsam zu reagieren. Aber sie sind heute viel stärker als noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Solange die USA das Lager gegen Putin anführen, sind sie stark genug, ihm standzuhalten. Hoffen wir nur, dass Donald Trump nicht wiedergewählt wird und ins Weiße Haus zurückkehrt.

Und wenn doch?

Dann wird alles unberechenbar, mit hoher Wahrscheinlichkeit würde sich dann vieles verändern.

Ian Kershaw, geboren 1943, lehrte bis zu seiner Emeritierung Modern History an der Universität Sheffield. Seine zweibändige Hitler-Biografie ist ein Standardwerk zur Geschichte des Nationalsozialismus, 2002 wurde der Historiker von Elisabeth II. zum Ritter geschlagen. Mit "Höllensturz. Europa 1914 bis 1949" veröffentlichte Kershaw 2016 den ersten Band seiner Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, 2019 folgte mit "Achterbahn. Europa 1950 bis heute" der zweite Teil. Gerade erschien mit "Der Mensch und die Macht. Über Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert" Kershaws neuestes Buch.

Schon bei den US-Kongresswahlen am 8. November könnten die Republikaner die Mehrheit in beiden Parlamentskammern erringen. Beobachter rechnen damit, dass sie die Waffenlieferungen an die Ukraine dann begrenzen würden.

Das kann passieren. Aber auch bei den Republikanern gibt es noch einige Leute, die wissen, dass es im Interesse der Demokratien ist, Putin nicht gewinnen zu lassen.

Hätten wir in Westeuropa die von Putin ausgehende Gefahr nicht viel früher sehen müssen?

Selbstverständlich. Man konnte die Gefahr auch sehen, wenn man sie nur sehen wollte. Ich persönlich war von seinem Angriff keineswegs überrascht.

Sie haben mit der russischen Attacke gerechnet?

Viele meiner Freunde und Bekannten gingen von einem Bluff aus. Meine Überlegung war eine andere: Putin ist ein Mann, der keinen Schritt zurückweicht. Immerhin hatte die russische Armee damals schon mehr als 150.000 Mann an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen. Dann noch einen Rückzieher machen? Das wäre ein schrecklicher Gesichtsverlust für Putin gewesen. So was macht der nicht. In Westeuropa hieß es lange, Putin sei ein Pragmatiker. In Wahrheit spielt Ideologie eine große Rolle für ihn.

Sie spielen auf sein Ziel an, das russische Imperium wiederherzustellen.

Anders als oft behauptet, ist es nicht die Sowjetunion, die Putin wiederherstellen will, sondern das alte Russische Reich. Das ist sein Wunschtraum. Und die Ukraine war lange Zeit ein sehr wichtiger Bestandteil dieses Imperiums.

Den Westen sieht Putin bei der Erreichung seines Ziels als Hindernis an.

Putins antiwestliche Wandlung hat sich bereits seit langer Zeit abgezeichnet – und er hat dabei immer radikaler gehandelt: Seine Rede im Jahr 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz war ein verbaler Angriff auf den Westen im Allgemeinen und die Nato im Besonderen. 2014 folgte dann die Annexion der Krim, und heute überzieht er die gesamte Ukraine mit Krieg. Putin ist der Staatsmann, der Europa gegenwärtig am stärksten verändert – destruktiv und brutal, aber effektiv.

In Ihrem neuen Buch "Der Mensch und die Macht" untersuchen Sie zwölf Persönlichkeiten, die Europa im 20. Jahrhundert "erbaut" oder "zerstört" haben. Die Diktatoren Hitler und Stalin befinden sich darunter, aber auch Winston Churchill, Charles de Gaulle und Helmut Kohl. Haben Sie beim Schreiben etwas gefunden, das alle diese Staatsführer vereint?

Fast alle waren mir unsympathisch – abgesehen von Winston Churchill und Michail Gorbatschow. Was diese elf Männer und – mit Großbritanniens einstiger Premierministerin Margaret Thatcher – eine Frau einte, war unter anderem der unbedingte Wille zur Macht. Letztere nutzten sie, um das 20. Jahrhundert zu prägen. Einerseits im Guten wie Winston Churchill, andererseits im Bösen wie Adolf Hitler.

Frühere Generationen verwendeten den Begriff der "historischen Größe", um besonders verdiente Staatsführer wie Churchill zu beschreiben. Sie nutzen dagegen den Begriff "Hinterlassenschaft".

Mir geht es um die historische Wirkung in kurzzeitiger wie langfristiger Hinsicht. So lässt sich besser erklären, welche Rolle Staatsführer im turbulenten 20. Jahrhundert bei der Entwicklung Europas gespielt haben.

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"Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken", hat Karl Marx geschrieben. In welchem Ausmaß können sich Staatsführer überhaupt als "Geschichtsmacher" innerhalb der sozialen und gesellschaftlichen Strukturen ihrer Zeit betätigen?

Genau diese Worte von Karl Marx habe ich als Leitmotiv genommen. Das Wechselspiel zwischen Persönlichkeit und Politik kann man nicht mathematisch berechnen. Aber äußere Umstände sind unbedingt notwendig, um eine bestimmte Persönlichkeitsentfaltung in ihrer späteren Rolle zu ermöglichen. Nehmen wir das Beispiel Adolf Hitler: Ohne den Ersten Weltkrieg hätte die Welt von seiner Existenz niemals erfahren. Beim italienischen Diktator Benito Mussolini verhält es sich ebenfalls so.

Auch ohne die Weltwirtschaftskrise ab 1929 wäre Hitler nicht an die Macht gekommen.

Das ist richtig, Krisen sind ein entscheidender Faktor: Je größer die Krise, desto größer ist der Spielraum für den Einzelnen. Das galt nicht nur für Hitler, sondern auch für seinen Gegenspieler: Churchills Aufstieg zum Premierminister im Mai 1940 wäre ohne Hitler nicht möglich gewesen. Ebenso wäre die Geschichte Europas ganz anders verlaufen, wenn statt Churchill der gegenüber Deutschland wesentlich kompromissbereitere Viscount Halifax als Premierminister ausgewählt worden wäre.

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Es war Churchill, der Großbritannien in einer ungeheuren Kraftanstrengung gegen den Gegner vereinte. Dabei hatte er einen festen moralischen Stand. Seit Jahren hatte er im Parlament vor der deutschen Aufrüstung gewarnt und alles prophezeit, was dann auch wirklich geschah. Schließlich führte er Großbritannien zum Sieg. Er hatte einen gewaltigen Machtinstinkt, man könnte es fast Machtgier nennen. Doch neben seinem autoritären Zug verfügte Churchill über Humor und beugte sich auch Ratschlägen. Ganz anders als Hitler.

Heute fordern viele europäische Staaten, dass Deutschland mehr außenpolitische Verantwortung übernimmt. Haben wir uns zu lange davor gedrückt?

Deutschland erkennt immer noch nicht, dass es höchste Zeit ist, in Europa mehr Verantwortung zu übernehmen. Sich in die Energieabhängigkeit von Russland zu begeben, war ein schwerer Fehler. Mit mehr Weitblick hätte man sehen können, dass man sich damit erpressbar macht.

Dieser Makel hängt nun Angela Merkel an.

Angela Merkel ist zweifelsohne eine für die jüngere Geschichte Europas wichtige und prägende Persönlichkeit. Ihr politisches Erbe hat durch die Geschehnisse seit dem 24. Februar 2022 aber Schaden erlitten. Sich von Putin derart abhängig zu machen, war ohne jeden Zweifel ein großer Fehler.

Wäre nicht spätestens seit der russischen Annexion der Krim 2014 eine entschiedenere Haltung gegenüber Putin notwendig gewesen?

Heute sind wir schlauer als gestern: also ja. Der Versuch, Russland in die westliche Politik einzubinden, war sicher gut gemeint. Allerdings hätten wir viel früher die Warnungen beachten müssen: Wer sich mit Russland beschäftigte, konnte deutlich sehen, dass sich das Regime immer aggressiver entwickelte.

Viele Menschen befürchten nun, dass Putin irgendwann zur Atombombe greift. Halten Sie diese Sorge für berechtigt?

Dieses Risiko wäre für Putin viel zu hoch, damit würde er seine eigene Vernichtung provozieren. Denn beim Einsatz einer Atombombe – welcher Art auch immer – müsste Russland damit rechnen, dass sich der Westen revanchiert. Diese Entscheidungsprozesse hätte er dann nicht mehr unter Kontrolle.

Die Demokratie in Europa ist so gefährdet wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Ob Giorgia Melonis Absage an den Faschismus wirklich ernst gemeint ist, kann bezweifelt werden. In Frankreich wird Marine Le Pen vom Rassemblement National immer stärker. Im Osten schleifen der ungarische Nationalist Viktor Orbán und die polnische PiS-Partei den Rechtsstaat. Wie lässt sich der Populismus wieder einhegen?

Ich bin optimistisch, was die Stabilität der Demokratie angeht. Bislang ist der Populismus den Beweis schuldig geblieben, dass er langfristig die demokratischen Strukturen verändern kann. Giorgia Meloni in Italien hatte Schwierigkeiten, eine rechte Koalitionsregierung zu bilden. Angesichts der Kurzlebigkeit italienischer Regierungen lässt sich bezweifeln, dass ihre Regierung länger Bestand hat. Trotz ihrer Antipathie gegenüber der Europäischen Union muss Meloni sich an deren Richtlinien halten, ihr bleibt schlicht nichts anderes übrig.

Aber das Ansehen der liberalen Demokratie in Europa sinkt, Umfragen zufolge trauen immer mehr Menschen der Demokratie nicht mehr die Fähigkeit zur Lösung der anstehenden Probleme zu.

Die liberale Demokratie hat in den vergangenen 30 Jahren nicht immer so funktioniert, wie sie sollte. Die Schere zwischen Reich und Arm ist zum Beispiel größer und größer geworden. Es braucht dringend eine neue und gerechtere Umverteilungspolitik, um den Populisten Paroli bieten zu können. Aber trotz aller berechtigten Warnungen vor dem erstarkenden Populismus wiederhole ich: Die Demokratie ist in Westeuropa heute sehr viel stärker als in den Zwanziger- und Dreißigerjahren.

Wir bewegen uns also nicht auf vergleichbare Zustände wie in der Weimarer Republik zu?

Von Weimarer Zuständen sind wir immer noch weit entfernt. Die Zeit der ständigen Krisen wird auch irgendwann enden – in dieser Hinsicht bin ich recht optimistisch.

Professor Kershaw, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Ian Kershaw
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