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Russischer Imperialismus: "Bereits Helmut Kohl sah die Gefahr"


Russland-Experte Creuzberger
"Gorbatschow sah darin einen massiven Vertrauensbruch"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 28.07.2023Lesedauer: 8 Min.
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Michail Gorbatschow und Helmut Kohl: Das Verhältnis war nicht immer unbelastet.Vergrößern des Bildes
Michail Gorbatschow und Helmut Kohl: Das Verhältnis war nicht immer unbelastet. (Quelle: dpa/ullstein-bild)

Russland führt Krieg gegen die Ukraine, für die deutsche Außenpolitik ist der Konflikt ein Desaster. Denn seit Jahrzehnten bemüht sich Deutschland um Verständigung mit Moskau. Wie sehr, erklärt Historiker Stefan Creuzberger.

1991 kollabierte die Sowjetunion, Deutschland sah darin Chance und Verpflichtung zugleich: Als Partner wollte die Bundesrepublik Russland nach Europa begleiten. Doch der russische Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 demonstriert deutlich, dass die deutsche Politik gescheitert und Russlands Imperialismus nach wie vor übermächtig ist.

Doch welche Hoffnungen hegte die deutsche Außenpolitik Anfang der Neunzigerjahre hinsichtlich Russlands? Und welche Befürchtungen bewegten Bundeskanzler Helmut Kohl? Stefan Creuzberger, Historiker und Russland-Experte, beantwortet diese Fragen aufgrund kürzlich freigegebener Akten des Auswärtigen Amts. Und erklärt, warum ein Vorwurf gegen Deutschland ungerechtfertigt ist.

t-online: Professor Creuzberger, für Deutschland war der russische Überfall auf die Ukraine 2022 ein besonderer Schock. Immerhin hatte sich die Bundesrepublik seit dem Ende des Kalten Krieges für eine Verständigung mit Moskau eingesetzt. Waren die entsprechenden Bemühungen zu gering?

Stefan Creuzberger: Diesen Vorwurf kann man Deutschland nicht machen. Der Blick in die Akten des Planungsstabes des Auswärtigen Amts zeigt deutlich, wie sich die deutsche Politik bereits im Umbruchszeitraum 1991/1992 Gedanken um die Zukunft Russlands nach dem Ende der Sowjetunion gemacht hat. Wie können wir uns angesichts dieser gewaltigen Zäsur gegenüber Russland positionieren? Das war die alles bestimmende Frage.

Nicht zuletzt sollte ein weiterer Zerfall des atomar schwer bewaffneten Riesenreichs verhindert werden.

Eine weitere Destabilisierung musste verhindert werden, niemand hatte Interesse an weiteren Krisenherden, die sich aus dem Zerfall der Sowjetunion hätten ergeben können. Dieser Gefahr war man sich sehr bewusst. Aber für die Bundesrepublik waren auch andere Faktoren wichtig. Deutschland wollte Russland an Europa heranführen – und die Russinnen und Russen bei ihrer Suche nach einer neuen, postsowjetischen Identität unterstützen. Alles im Sinne des Wertekanons der Charta von Paris.

Bei deren Unterzeichnung im November 1990 bekannte sich die Sowjetunion zu Demokratie, Menschenrechten und den Verzicht auf gewaltsame Grenzveränderungen.

Womit auch Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion in dieser Pflicht steht. Deutschland verstand sich damals als östlichster Staat Westeuropas und sah sich in der Verantwortung, Russland im Sinne der europäischen Tradition von Liberalismus, Toleranz und Rechtsstaatlichkeit zu beeinflussen. Das ist ein wichtiger Aspekt, den der Planungsstab im Auswärtigen Amt in Abstimmung mit dem Bundeskanzleramt 1992 auch so formuliert hat. Daraus leiteten sich zahlreiche Projekte ab, die vor allem ein Ziel verfolgten: beständige Kooperation mit Russland. Daneben setzte sich die Bundesrepublik auch unentwegt bei ihren westlichen Partnern für Russland ein.

Stefan Creuzberger, Jahrgang 1961, lehrt Zeitgeschichte an der Universität Rostock und leitet zugleich die Forschungs- und Dokumentationsstelle des Landes Mecklenburg-Vorpommern zur Geschichte der Diktaturen in Deutschland. Der Historiker ist Experte für die Geschichte Russlands und Mitherausgeber der "Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland", deren aktueller Band zum Jahr 1992 im April erschienen ist. 2022 brachte Creuzberger sein Buch "Das deutsch-russische Jahrhundert. Geschichte einer besonderen Beziehung" heraus.

Die allerdings Russland und den Raum der ehemaligen Sowjetraum insgesamt ohnehin genau beobachteten angesichts der potenziellen Gefahren, die von dort ausgingen.

Es gab zahlreiche Probleme. Angefangen mit dem russischen Kaliningrad an der Ostsee, das durch die Unabhängigkeit Litauens 1990 zur Exklave geworden ist. Auch die mehr als zwei Dutzend Atomkraftwerke innerhalb des Territoriums der neu entstandenen Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, in der sich die meisten Nachfolgestaaten der UdSSR zusammenfanden, gaben Grund zur Beunruhigung. Zum einen wegen ihres allgemein schlechten Sicherheitszustandes, zum anderen aus Gründen der Nonproliferation. Die Sorge war groß, dass sich sogenannte Schurkenstaaten oder Terroristen radioaktives Material verschaffen könnten. Größte Besorgnis löste aber das russisch-ukrainische Verhältnis aus.

Seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 stritten Moskau und Kiew um die Schwarzmeerflotte und deren Heimathafen Sewastopol auf der Krim.

So ist es. Auch der bis dato ungeregelte Verbleib der einstigen sowjetischen Nukleararsenale auf dem Territorium der Ukraine war umstritten. Heute ist es fast vergessen: Die Ukraine war aber einmal die drittgrößte Atommacht der Welt. Die Situation hätte schnell brenzlig werden können. Auch hier sah die deutsche Seite im Geiste der Kooperation die Verpflichtung, vermittelnd tätig zu werden.

Letztlich gab die Ukraine auf amerikanischen Druck hin ihre Atomwaffen ab. Was heute in Kiew sicher als schwerer Fehler angesehen wird.

Falls die Ukraine ihre Atomwaffen behalten hätte, sähe die Situation heute sicher anders aus. Einen Angriff hätte sich Wladimir Putin nicht getraut, davon können wir ausgehen. Die Vereinigten Staaten haben allerdings auf die Denuklearisierung gedrungen und erfolgreich durchgesetzt. Das Memorandum von Budapest sollte 1994 der Ukraine dann entsprechende Sicherheit geben, Unterzeichner war neben den USA und Großbritannien auch die Russische Föderation.

Für Putin war der Vertrag allerdings das Papier nicht wert, auf dem er verfasst worden ist. Hätten Deutschland und seine Partner nicht viel früher eine härtere Gangart gegen das unter Putin immer aggressivere Russland einschlagen müssen?

Aus der Rückschau wäre dies sicher empfehlenswert gewesen. Die Blauäugigkeit in Sachen Energieabhängigkeit von Russland und die sträfliche Vernachlässigung der Bundeswehr haben sich bitter gerächt.

Warum änderte die Bundesrepublik aber auch nach der russischen Annexion der Krim 2014 nicht ihre Politik gegenüber Russland? Es kann doch nicht nur die deutsche Abhängigkeit von russischer Energie gewesen sein.

An dieser Stelle ist tatsächlich der Rückblick in die Geschichte aufschlussreich. Quasi die gesamten Achtzigerjahre hindurch praktizierte die bundesdeutsche Außenpolitik eine Politik der ausgestreckten Hand gegenüber der Sowjetunion. Auch die Koalition aus Union und FDP unter Helmut Kohl bekannte sich seit 1982 zur neuen Ostpolitik, die der Sozialdemokrat Willy Brandt einst durchgesetzt hatte. Eine auf Verständigung und Vermittlung ausgerichtete Russland-Politik ist gewissermaßen bundesrepublikanische Tradition, die auch bis in die jüngste Vergangenheit reicht. Ob dies immer richtig war? Daran lässt sich nun aus berechtigten Gründen Kritik üben.

Helmut Kohl erregte allerdings bereits 1986 Unmut in der Sowjetunion. In einem Interview mit dem US-Magazin "Newsweek" hatte er den Reformer Michail Gorbatschow mit Joseph Goebbels, dem obersten Nazi-Propagandisten, verglichen.

Damit löste Kohl gewaltige Empörung aus. Der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion hatte Millionen Tote gefordert, dann verglich der deutsche Kanzler Gorbatschow mit einem der schlimmsten Nazi-Hetzer? Das Verhältnis zu Moskau war sehr belastet, zumindest eine gewisse Zeit.

1988 begegneten sich Kohl und Gorbatschow persönlich, es war der Beginn einer lebenslangen Freundschaft. Dem "Newsweek"-Interview zum Trotz.

Die Chemie stimmte einfach zwischen diesen beiden Persönlichkeiten, es baute sich Vertrauen auf. Zahlreiche Verträge waren die Folge, unter anderem im Umweltschutz und im Bereich der Wirtschaftskooperation. Vor allem wurde ein Gegenbesuch Gorbatschows in Westdeutschland vereinbart.

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Wo er 1989 von den Menschen frenetisch gefeiert werden sollte. Wie belastbar das gegenseitige Verhältnis war, sollte sich dann nach dem Fall der Mauer am 9. November des Jahres zeigen.

Es trat damals eine gewisse Eigendynamik ein – basierend auf Äußerungen der sowjetischen Seite kam man in Bonn zu dem Schluss, dass dort eine Offenheit hinsichtlich der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten herrschen würde. Ende November 1989 stellte Kohl dann sein sogenanntes Zehn-Punkte-Programm vor, das dieses Ziel nannte. Gorbatschow war ziemlich verärgert, weil er darin einen massiven Vertrauensbruch sah.

Weil Kohl sein historisches Vorhaben nicht vorher mit Moskau abgesprochen hatte.

Genau. Allerdings hatte Gorbatschow in seiner Deutschlandpolitik keine neuen Konzepte entwickelt; die alte, die mit zwei Deutschlands operiert hatte, war zu starr und unbeweglich. Deswegen hinkte die Sowjetunion einfach hinterher. Wir dürfen allerdings nicht vergessen, dass nicht Kohl allein die deutsche Politik gegenüber Moskau dirigierte, sondern auch sein erfahrener Außenminister Hans-Dietrich Genscher von der FDP.

Allerdings hatte auch das Auswärtige Amt kein Konzept für das, was kommen sollte: Gorbatschow konnte die Sowjetunion nicht stabilisieren, Ende 1991 kollabierte sie endgültig.

Stabilisierung war tatsächlich das oberste Ziel gewesen. Nicht nur, aber vor allem während des laufenden Vereinigungsprozesses 1990. Das Zeitfenster für die Deutsche Einheit war nur kurze Zeit geöffnet gewesen. Es war auch ein quälend langer Prozess gewesen, bis die sowjetische Seite den Ostdeutschen das Selbstbestimmungsrecht der Völker zugebilligt hat. Quasi als letztem Staat im einstigen Ostblock. Gorbatschow wurde in Bonn als der Garant der Einheit gesehen, aber auch später im Jahr 1990 als Pfeiler der Charta von Paris, die in Europa den Kalten Krieg beendete und ein neues Zeitalter des Friedens und der Demokratie einleiten sollte.

Nur waren Gorbatschows Tage gezählt, sein Gegenspieler Boris Jelzin sollte erfolgreich sein.

Jelzin war aus deutscher Sicht ein Störfaktor, er hatte als Präsident Russlands aber einen Vorteil. Und zwar war er durch Wahlen demokratisch legitimiert. Zudem konnte sich Deutschland nicht allein auf die Sowjetunion konzentrieren: Jugoslawien zerfiel, es herrschte Krieg dort. Es gibt einen interessanten Aktenvermerk des Auswärtigen Amtes aus dieser Zeit. Darin heißt es klar, dass weder Jugoslawien noch die Sowjetunion in ihrer bisherigen Form überleben würden. Nach der Sowjetunion konzentrierte sich die deutsche Außenpolitik auf die Stabilisierung Russlands, ohne dabei Furcht in den mittel- und osteuropäischen Staaten vor einer Art deutsch-russischer Dominanz erregen zu wollen.

Der Zerfall Jugoslawiens wie Russlands hat Folgen bis heute. In Serbien ist der Nationalismus stark, Russland will sein Imperium mit Gewalt restaurieren auf Kosten der Ukraine.

Bereits Helmut Kohl sah die Gefahr. Jene, die durch Nationalismus und Imperialismus ausgeht. Er empfahl Gorbatschow eine föderale Ordnung für die Sowjetunion, aus der zur Not Republiken austreten könnten. Auch in dieser Phase waren wieder die traditionellen Methoden und Instrumente der bundesdeutschen Außenpolitik vorherrschend, über die wir schon gesprochen hatten: Verständigung und Entspannungspolitik. Ziel war es, eine friedliche, evolutionäre Entwicklung voranzubringen. Und von deutscher Seite aus mitzugestalten. Diese Rolle übernahm das vereinte Deutschland.

Dieses Konzept ist gescheitert. Trotz aller Bemühungen ist Russland heute eine kriegführende Diktatur, in der Andersdenkende im Straflager landen.

Man hat die Zeichen der Zeit zu spät erkannt. Ich gebe allerdings zu bedenken, dass keine entsprechenden Erfahrungen mit einem derart historischen Übergang vorhanden waren. Die Phase des friedlichen Übergangs von 1989 bis 1991 war außergewöhnlich. Niemand hätte sich zuvor vorstellen können, dass die Sowjetunion den sozialistischen Ostblock mehr oder weniger friedfertig freigeben würde. Ebenso wenig konnten sich die Experten vorstellen, dass die Sowjetunion ohne großen Krach von der Weltbühne abtreten würde. Ein neuer Bürgerkrieg, nur mit Atomwaffen – das war die schlimmste Erwartung.

Noch vor Wladimir Putin stellte Boris Jelzin 1993 die Weichen in Richtung Autokratie in Russland. In jenem Jahr ließ er während der Russischen Verfassungskrise das Parlamentsgebäude von Panzern beschießen. Protest aus dem Westen blieb aus.

Das ist richtig. Im Westen und in Deutschland hat man tatsächlich die Augen vor solchen Ereignissen fest verschlossen. Ebenso wie Jelzin war das Parlament demokratisch gewählt, die politische Auseinandersetzung ließ der russische Präsident in Gewalt ausarten. Die blinde Haltung Deutschlands in Bezug auf Jelzin lässt sich auch weiterhin beobachten: Seit 1994 führte Russland den Ersten Tschetschenienkrieg, in dem es zu massiven Menschenrechtsverletzungen kam. Und 1996 betrieb Kohl indirekt sogar Wahlkampfhilfe für Jelzin gegen dessen altkommunistischen Herausforderer Gennadi Sjuganow. Niemand wollte sich ausmalen, was passieren könnte, sollte ein solcher Mann an die Macht kommen.

Genau genommen ist es der gleiche Mechanismus, auf den Wladimir Putin zählen konnte im Westen. Solange er sich als Bastion gegen ein wie auch immer geartetes "Chaos" in Russland gerieren konnte, war ihm Unterstützung sicher.

So ist es. Am Beispiel Tschetschenien zeigt sich ebenfalls, wie schnell gute Vorsätze ad absurdum geführt werden können. Die Charta von Paris verbürgt das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Im Falle der Tschetschenienkriege verhielt sich der Westen dabei höchst unglücklich.

Professor Creuzberger, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Stefan Creuzberger via Videokonferenz
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