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Erster Weltkrieg: "Die Deutschen lernten schneller und besser"


"Hölle" Erster Weltkrieg
"Die Deutschen lernten schneller und besser"

t-online, Marius Blume

Aktualisiert am 06.05.2014Lesedauer: 8 Min.
Westfront Erster Weltkrieg deutscher AngriffVergrößern des BildesDeutsche Soldaten gehen an der meist starren Westfront zum Angriff über - in der Offensive erlitten beide Seiten stets deutlich mehr Verluste als im zermürbenden Graben (Quelle: United Archives/imago-images-bilder)
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Der Erste Weltkrieg sei ein Leitfaden "für das, was alles falsch gemacht werden kann", schreibt Herfried Münkler in seinem aufsehenerregenden Werk "Der Große Krieg". Im Gespräch mit T-Online.de erklärt der Politologe, warum er eine auch nur ähnlich dramatische Eskalation wie im Sommer 1914 für das heutige Europa trotz des lauten Säbelrasselns ausschließt. Er bewertet den Faktor Zufall und beschreibt, wie Deutschland in den Krieg "hineingestolpert" ist – und was es darin lernte.

T-Online.de: Die Ukraine-Krise weckt alte Ängste, um die Krim wurde schon im 19. Jahrhundert eine Art Erster Weltkrieg geführt. Sehen Sie Eskalationspfade, die mit denen von 1914 vergleichbar sind?

Herfried Münkler: Nein, ganz sicher nicht. Was die heutige Situation in Europa enorm von der im Jahre 1914 unterscheidet, ist die bündnispolitische Konstellation. Russland, so mächtig es auch im politischen Sinne ist, steht ziemlich allein da. Selbst der treueste Verbündete Peking ist in dieser Krise von Moskau abgerückt.

Einen wichtigen Fortschritt stellen auch die institutionalisierten Einigungsprozesse wie die Nato oder mehr noch die OSZE dar. Und entscheidend ist das Wissen in Europa, dass militärische Lösungen nur Verlierer nach sich ziehen.

Können wir davon ausgehen, dass der Kreml das genauso sieht?

Dessen Verschleierungstaktik in der Ukraine ist ja raffiniert, die Vorgehensweise auf der Krim war erfolgreich. Warum sollten die Russen daran etwas ändern? Sie werden bestimmt nicht mit drei, vier Panzerdivisionen hineinstoßen.

1914 war militärische Macht ebenso bedeutend wie wirtschaftliche – und schneller wirksam. Heute ist die ökonomische Kraft viel entscheidender und Russland wirtschaftlich stark verwundbar. Man kann natürlich nichts ausschließen, aber schon auch unterstellen, dass wir es im Kreml mit rationalen Akteuren zu tun haben.

Hat die Menschheit in den vergangenen 100 Jahren also schon dazugelernt oder ist die Gefahr fataler Nationalismen nach wie vor real?

Die internationalen Beziehungen sind heute anderer Natur und stabiler, aber abseits der Probleme mit Russland gibt es global und auch in Europa noch viele Staaten, die Nachholbedarf beim identitätsstiftenden Nationalismus spüren – denken wir nur an Ungarn. In aller Regel hat das viel mit Ressentiments und dem Gefühl von Minderwertigkeit zu tun.

Serbien spielt die nationalistische Karte ganz massiv aus, sieht sich trotz seiner Verantwortung für den Ersten Weltkrieg und die Balkan-Konflikte unserer Zeit als Sündenbock.

Die serbische Haltung ist mehr auf den Zerfall Jugoslawiens zurückzuführen. Serbien hat es geschafft, nach 1918 als angegriffenes Land unschuldig dazustehen und diese Rolle im Grunde solange aufrechtzuerhalten, bis Sarajevo 1992 wieder belagert wurde – von serbischen Truppen. Dass die vom Westen zurückgedrängten Serben nun salopp gesagt etwas trotzig agieren, muss man vielleicht hinnehmen und darauf hoffen, dass die Hoffnung auf Prosperität bei ihnen letztlich überwiegt.

So verbissen der Erste Weltkrieg geführt wurde, so unausgereift waren die Ziele, so unterschiedlich die Feindbilder. Wofür wollte Deutschland siegen?

Am Anfang wussten die Deutschen überhaupt nicht, worum es ging, warum gekämpft werden sollte. Nur meinte man, dem einzig verbliebenen Bündnispartner Österreich-Ungarn zur Seite stehen zu müssen – daher auch der Blankoscheck für Wien. Ausgestellt im Gedanken an einen lokalen Krieg. Vielleicht würde Frankreich den Balkan doch als vernachlässigbar erachten – und England sowieso. Das war allerdings eine Hochrisikostrategie, die misslang.

Freilich ist das Deutsche Reich maßgeblich mitverantwortlich, aber es ist doch eher in den Krieg hineingestolpert. Als die Entente zu den Waffen greift, führt Deutschland aus eigener Sicht einen Verteidigungskrieg. Mit den weitreichenden Erfolgen, vor allem an der Ostfront, und den wachsenden Verlusten ufert die Kriegszieldebatte immer diffuser aus.

Für die meisten Deutschen blieb Frankreich der Hauptfeind. Da ging es klar um Elsass-Lothringen. Viele bedauerten den Krieg gegen England als Fehler, andere wetterten gegen den kalten angelsächsischen Kapitalismus, der die deutsche Lebensweise gefährde. Besonders Sozialdemokraten und Liberale wiederum empfanden einen Krieg gegen Russland, Hort der Reaktion, als unabwendbar und gerecht.

Das als ehrbar empfundene Moment, dem Feind Aug' in Aug' gegenüberzustehen, gab es kaum mehr. Hat das den jeweiligen Hass auf "das perfide Albion", die "Hunnen", "den Russen" erleichtert?

Wie interessante Feldpost-Quellen zeigen, gab es diesen Hass bei den Frontsoldaten nur bedingt – zumindest im Westen. Dort überwog das Bewusstsein für die Reziprozität der Krieger: Wenn es mir dreckig geht, dann auch dem anderen. Wir sind gemeinsam in der Hölle. Es gab durchaus Respekt, und teilweise war die Heimat auch in Kopf und Seele weiter entfernt als der Feind.

Im Osten sah das etwas anders aus. Als russische Einheiten in Galizien eine Politik der verbrannten Erde betrieben, war das effektiv, beförderte aber auch Hass und Skrupellosigkeit bei Deutschen und Österreichern. Was sich im Zweiten Weltkrieg in fürchterlicher Steigerung niederschlug, wuchs im Ersten: die Verachtung des „slawischen Untermenschen“.

Das im Felde unbesiegte Heer ist eine Mär. Und doch hatte Deutschland Chancen, den Krieg zu gewinnen – auch 1918 noch: Wie war das möglich, während die Alliierten auf ihre Materialüberlegenheit bauen konnten?

Exakt, das war ihre entscheidende Stärke. Was die deutsche Seite dem entgegenzusetzen suchte, war die Politik der revolutionären Infektion. Hier lassen sich drei Phasen unterscheiden: die antikoloniale, die nationalistische und die sozialistische.

Durch die Ausrufung des Heiligen Krieges sollten Frankreich und England in Afrika und Asien geschwächt werden. Das klappte nicht. Dann wurden Iren, Balten und Finnen in ihrem Freiheitskampf unterstützt. Auch die Wiederherstellung des polnischen Staates diente dazu, das Zarenreich zu schwächen. Und schließlich wurde Lenin nach Russland geschleust.

Auf der taktischen und operativen Ebene galt außerdem: Die Deutschen lernten schneller, und sie lernten besser. So konnten sie lange zumindest das Remis halten. Spätestens am 8. August 1918, dem Schwarzen Tag der deutschen Armee, ist der Front jedoch klar, dass sie den Krieg verloren hat. Schon zwei, drei Jahre später aber schauen Soldaten und Bürger zurück und konstatieren: Eigentlich waren wir besser. Beim nächsten Mal kriegen wir es hin, schworen sich die Offiziere vom Ober- bis zum Oberstleutnant, die Hitlers Generäle wurden. Und dann besiegten sie Frankreich 1940 in sechs Wochen.

Hitler spricht den Deutschen ihr Existenzrecht ab, als er schließlich doch die drohende Niederlage erkennt. Inwiefern lief schon der Erste Weltkrieg auf den Kampf bis zum letzten Blutstropfen hinaus?

Bei allen Argumenten, die eine Verbindungslinie zwischen beiden Kriegen untermauern, besteht meines Erachtens doch ein erheblicher Unterschied zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Beispielsweise an der Somme hinterlassen die abziehenden deutschen Truppen verbrannte Erde, aber das bleibt ein lokales Phänomen. Und es wird nicht aus rassistischen, sondern aus taktischen Motiven vollzogen.

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Am Ende hat auch die Oberste Heeresleitung als mächtigste Instanz ein Einsehen und drängt zum Frieden. Bei aller Entschlossenheit, die den Ersten Weltkrieg prägt: Die Radikalität im Zweiten ist doch eine weit größere und fatalere.

Ist die Opferbereitschaft trotz millionenfachen Leidens und Sterbens nicht auch als konstruktive Kraft, als Kollektivbewusstsein begreifbar?

Wie schon gesagt, bei einem Krieg überwiegt – vor allem aus heutiger Sicht – immer der Schaden. Aber es gab doch einen bedeutsamen Wirkeffekt, der das Zusammengehörigkeitsgefühl manifestierte. Das Deutsche Reich war zu Kriegsbeginn immer noch ein Fürstenbund. Außer der Marine und der OHL gab es auch keine zentralen militärischen Kräfte, sondern das preußische, das bayerische, das sächsische und das württembergische Heer. Auch die anderen Bundesstaaten stellten geschlossene Einheiten.

Wenn nach dem Krieg bewusster vom deutschen Heer und vom deutschen Volk die Rede war, so ist das ein Resultat dieser Opferbereitschaft. Aus der Versehrten-Fürsorge entstand außerdem, gestützt durch Solidaritätsdenken, der Sozial- und Wohlfahrtsstaat.

Sie verweisen auf Thukydides, um die problematische Definition von Kriegsursache und -anlass aufzuzeigen. Wenn wir davon ausgehen, dass beide Faktoren im Nachhinein bestimmt werden, dürfen wir dann überhaupt noch von der Vermeidbarkeit des Ersten Weltkriegs sprechen?

Mag sein, dass der eine oder andere Akteur froh oder erleichtert auf das Attentat von Sarajevo reagiert hat. Und die Metapher vom reinigenden Gewitter ist nicht aus der Luft gegriffen. Aber es gibt schon in weiten Bevölkerungskreisen und sowohl unter den staatlichen als auch den militärischen Lenkern auch ein starkes Bewusstsein dafür, wie verheerend ein langwieriger Krieg für Europa wäre – eine Katastrophe.

Der ältere Moltke warnte vor einem neuen Sieben- oder gar Dreißigjährigen Krieg. Doch dann wurden zwei falsche Konsequenzen gezogen. Alle Planungen konzentrierten sich auf einen schnellen Krieg, die Verhandlungsoption wurde vernachlässigt. Und als sich im Herbst 1914 klar zeigte, dass es nicht reicht, konnte sich die deutsche Führung nicht zu der vernünftigen Entscheidung durchringen: Wir haben es nicht geschafft, beenden wir die Sache.

Das Attentat von Sarajevo, strategische Fehlentscheidungen an der Westfront, der Zusammenbruch der Ostfront: Wie schwer wiegt der Faktor Zufall?

Ich denke, dass dem Zufall – bis zum Kriegsausbruch – eine ungeheure Bedeutung zukommt. Nicht nur, weil das Attentat eigentlich ein Fehlschlag hätte werden müssen.

Hätte Reichskanzler Bethmann Hollweg nicht über einen in Russlands Londoner Botschaft platzierten Spion von der russisch-britischen Annäherung erfahren, wäre er wohl auf das Vermittlungsangebot von Außenminister Grey eingegangen. Dieser strebte zwar offenbar keine grundsätzliche Verständigung mit Deutschland mehr an, aber eine neuerliche diplomatische Lösung der Balkankrise war noch greifbar. Auch Ende 1914 war ein Friedensschluss möglich. Einiges hätte anders laufen können.

Trotz des Selbstbestimmungsrechts der Völker hielten die Westmächte noch Jahrzehnte am Kolonialismus fest, und die Sowjetunion unterband eine freie Entwicklung Osteuropas. Wie wurde diese Haltung begründet, oder haben gewisse Staaten respektive Sieger mehr Rechte als andere?

Franzosen und Briten sprachen nicht mehr von Kolonien, sondern von Mandatsgebieten, und beugten das Völkerrecht, indem sie eine Verantwortungspflicht beanspruchten: bis zu dem Zeitpunkt, da die betroffenen Regionen und Völker bereit für die Freiheit wären.

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker verletzten die Siegermächte auch, indem sie Österreich den Anschluss an Deutschland verweigerten. Sie taten das aus gutem Grund, weil der Verlierer sonst sogar gestärkt worden wäre. Indem sie ihre eigenen Prinzipien ad absurdum führten und es nicht schafften, eine gerechte Gesamtordnung zu schaffen, begünstigten die Alliierten den Nährboden für Vergeltungssucht und Totalitarismus.

Die Sowjetunion, der Fall des Britischen Empires und der Aufstieg der USA sind direkte Folgen des Ersten Weltkriegs. Nationalsozialismus und Holocaust hat er mit ermöglicht – aber auch das Streben nach weltweiter Verständigung. Glauben Sie, dass solche Entwicklungen auf jeden Fall irgendwann eingetreten wären?

Für den Aufstieg der USA gilt das unbedingt. Washington kratzte auch schon vor Londons Hilferuf an dessen Status der Weltmacht Nummer eins. Trotz des Isolationismus, das gewaltige amerikanische Potenzial hätte sich irgendwann Bahn gebrochen. Ohne den Ersten Weltkrieg aber kein Hitler, kein Lenin und auch kein Mussolini. Auch Japan hätte sich möglicherweise anders entwickelt.

Könnten wir heute positiv vom deutschen Jahrhundert sprechen?

Ja. Der Niedergang des alten Kontinents, der ja noch fortschreitet, war auf lange Sicht nicht aufzuhalten. Bezogen auf Europa hätte das 20. Jahrhundert angesichts der wirtschaftlichen, technischen und kulturellen Leistungen und Potenziale tatsächlich ein deutsches werden können.

Das Interview führte Marius Blume

Der Politologe Herfried Münkler zählt zu den führenden Kriegsforschern. Mit seinem aktuellen Werk "Der Große Krieg – Die Welt 1914 bis 1918" lieferte der 62-Jährige eine viel beachtete Gesamtdarstellung des Ersten Weltkriegs. Der gebürtige Hesse lehrt an der Berliner Humboldt-Universität. Zu seinen Publikationen zählen auch Erfolge wie "Die neuen Kriege" und "Die Deutschen und ihre Mythen".

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