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Nach Jogger-Tod in Italien: Gefahr durch Bären und Wölfe – Alle abschießen?


Tagesanbruch
Im Dickicht lauert der Tod

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 13.04.2023Lesedauer: 6 Min.
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Polizisten durchkämmen den Wald, in dem ein Jogger von einem Bären getötet worden ist.Vergrößern des Bildes
Polizisten durchkämmen den Wald, in dem ein Jogger von einem Bären getötet worden ist. (Quelle: Provinzregierung Trentino/dpa)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

in Alaska rufen sie aus voller Kehle oder klatschen laut in die Hände. In Japan lassen sie bei jedem Schritt ein Glöckchen klingeln. Es ist eine sonderbare Spezies, die man in den Wäldern dieser Welt beobachten kann: Menschen. Ja, Leute wie Sie und ich, nur wandern sie durchs Unterholz und machen dabei Lärm. Ist das der neueste Trend auf Social Media, von dem man als unhipper Mainstream-Luschi bisher noch nichts mitbekommen hat? "Lärmend durch die Natur" als neuer Trendsport? Lassen Sie uns doch kurz mal reinhören, welche Geräusche die Wanderer in Alaska von sich geben. Okay, manche singen nur laut irgendwelche Songs. Die Händeklatscher geben auch keinen Aufschluss. Aber andere sind mit ihrem Krach konkreter. Sie rufen alle paar Minuten: "Hey, Bär!"

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Der Mensch und die ungezähmte Natur, das ist kein einfaches Verhältnis. Dort, wo die Wildnis die Oberhand behalten hat und ein mächtiges Raubtier wie der Bär zuhauf vertreten ist, meldet sich der Besucher Homo sapiens vorher besser an. Ob mit Rufen, Singen oder dem japanischen Bärenglöckchen: Alles ist recht, damit man auf sich aufmerksam macht und so ein braunes, pelziges Kraftpaket nicht unerwartet überrascht. Das kann nämlich böse enden. Nicht nur in den wilden Weiten Nordamerikas. In der zersiedelten, von Autobahnen parzellierten Nutznatur Europas, in der die Wildnis schon lange vom Naherholungsgebiet abgelöst worden ist, rechnen wir mit der rohen Gewalt einer solchen Konfrontation eigentlich nicht mehr. Aber gestern ist in Norditalien ein junger Mann zu Grabe getragen worden, der beim Joggen im Wald vor seiner Haustür von einem Bären getötet wurde. Nicht weit von den Bergen der Brenta hat sich das zugetragen, 50 Kilometer nördlich des Gardasees. Viele Deutsche schätzen dieses italienische Ferienziel.

Das ist tragisch, kann aber leider passieren, könnten Sie nun vielleicht denken. Aber es passiert nicht von selbst. Bären waren in der Region schon immer heimisch, der Bestand war jedoch bis auf wenige Tiere zusammengeschrumpft. Erst ein EU-gefördertes Wiederansiedlungsprojekt brachte die Wende, erwies sich als ausnehmend erfolgreich – sogar ein bisschen zu sehr. Etwa 100 Bären bevölkern die Gegend nun wieder, fast doppelt so viele wie ursprünglich geplant.

Selbst in Deutschland haben wir den Siegeszug dieses Projektes schon einmal zu spüren bekommen: Im Jahr 2006 sorgte der Bär Bruno in Bayern für große Aufregung, nachdem er aus dem Ansiedelungsgebiet in Italien über die Alpen gewandert war. Normalerweise meiden Bären den Menschen und dessen Behausungen – doch Bruno nicht. Er rückte den zunehmend beunruhigten Bayern gefährlich nahe auf die Pelle. Der damalige Ministerpräsident Edmund Stoiber machte die Nation prompt mit dem Begriff "Problembär" bekannt (begleitet von sehr, sehr vielen stoibertypischen "Ähs"). Problembär Bruno musste am Ende sterben, doch der Zoff darüber war groß. Die hitzige Diskussion von damals verblasst allerdings im Vergleich zu dem, was sich nun in Norditalien abspielt.

Bruno stammte aus einer problematischen Familie. Die Bärin, die nun den Jogger tötete, erwies sich nach einer genetischen Untersuchung der Spuren als Brunos Schwester. Auch sie ist nicht zum ersten Mal auffällig gewesen. Nach einer Attacke vor einigen Jahren, bei der eine Person schwer verletzt wurde, verhinderten Behörden und Naturschützer eine "Entnahme" der Bärin aus dem Bestand, wie es in schönster Behördensprache heißt, also den Abschuss des aggressiven Tieres. Diesmal ist es mit der Tierliebe vorbei und die Jagd eröffnet, aber das beruhigt die Gemüter nicht mehr. Jetzt tobt der Kampf darum, ob das Aufpäppeln der Bärenpopulation nicht sowieso eine idiotische Idee gewesen ist und man die Bären in der Region besser ausrotten sollte.

Es geht nicht nur um die Bären, und nicht nur in Italien. Wolfsschützer und Wolfsgegner gehen genauso aufeinander los. In Deutschland sind Grabenkämpfe um die Rückkehr des Wolfes nicht neu. In der vergangenen Woche allerdings fanden Passanten vor dem Artenschutzzentrum im niedersächsischen Leiferde den abgeschnittenen Kopf eines Wolfes, in bester Mafia-Manier. Nun sucht die Polizei den Täter. Die Rückkehr wilder Tiere in unsere zivilisierten Breiten gehört zu den Themen, die Menschen maßlos in Rage versetzen können – in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Größe der Gefahr.

Wölfe und Bären bedrohen in unseren Breiten den Menschen so gut wie gar nicht. Eine gefährliche Begegnung ist ein so seltenes Ereignis, dass das Risiko statistisch nicht einmal erfassbar ist. Auf der Autofahrt in den Lebensraum der Raubtiere dürfte man objektiv einer erheblich größeren Gefahr ausgesetzt sein als nach dem Aussteigen. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass einem etwas zustoßen kann, ist nicht das einzige Maß der Dinge. Alltagsgefahren wie im Straßenverkehr tun wir, ob nun berechtigt oder nicht, mit einem Schulterzucken ab. Die Vorstellung, im Wald von einem Bären angefallen zu werden, hat dagegen das Zeug zum Albtraum. Nervenzerfetzende Begegnungen wie in diesem Video, in dem ein Vater seinen zwölfjährigen Jungen vorsichtig von einem Bären weglotst, können uns auch dann noch lange verfolgen, wenn am Ende gar nichts passiert ist.

Die Heftigkeit der Auseinandersetzung ist jedoch nicht nur der Angst im Kopf geschuldet, sondern auch dem Kulturkampf um das Verhältnis von uns Menschen zur Natur. Für die meisten von uns ist der Kontakt zur Natur inzwischen gleichbedeutend mit einem Aufenthalt an der frischen Luft: endlich mal raus aus der Bude, ob es nun der Wanderurlaub in den schier zu Tode erschlossenen Alpen ist oder der Spaziergang im forstwirtschaftlich betreuten Wald. Urwald hingegen kann man in Europa mit der Lupe suchen. Bis in die nächstgelegene Wildnis ist man lange unterwegs. Das hat Folgen für die Perspektive. Im Zoo drängeln wir uns um das süße Eisbärbaby und dessen Mama und schmelzen dahin. In freier Wildbahn würden wir auf andere Weise vorgehen. Die Begegnung mit einem Eisbären gehört zum Gefährlichsten, was die arktische Tierwelt zu bieten hat. Als Zivilisationsmensch neigt man dazu, das zu vergessen.

Trotzdem klappt gerade in entlegenen Regionen das Nebeneinander von Mensch, Wolf und Bär besser als im Vorgarten unserer Ballungszentren. Die Raubtiere gehen meist ihrer Wege, solange sie nicht ihrerseits die Vorzüge der Zivilisation entdecken: die zurückgelassenen Essensreste im Müll am Grillplatz, die üppigen Schafherden, die Ställe, in denen sie sich das Futter einverleiben können wie im Schnellimbiss. Dann kommen sie wieder, die wilden Tiere, und sie kommen immer näher. Im Kontakt mit der Welt der Menschen, durch unsere Präsenz und unser Verhalten, werden sie zur Gefahr.

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Ich glaube deshalb nicht, dass Wiederansiedelungsprojekte wie jenes in Italien eine gute Idee sind. Und ich bin mir nicht sicher, ob man sich über die Rückkehr des Wolfes in die Uckermark wirklich ganz doll freuen soll. Das Nebeneinander führt zu Ärger oder sogar zu Schlimmerem wie jetzt in Italien. Da hilft nur die Trennung. Entweder zieht sich unsere Spezies vollständig aus einer Region zurück und lässt die Wildnis wiederkehren. Im dichtbesiedelten Mitteleuropa ist das allerdings keine Option. Oder der Bestand der wilden Zuzügler wird gedeckelt und per Jagd kontrolliert. Das erscheint mir klüger als der Drang zurück zur Natur. Was meinen Sie?

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Zum Schluss

Haschischminister Lauterbach hat Legalisierungspläne.

Ich wünsche Ihnen einen klarsichtigen Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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