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Mission zum AKW Saporischschja: "Die IAEA hat sehr enge Beziehungen zu Russland"


UN-Experten im AKW Saporischschja
"Die IAEA steht Russland viel näher als der Ukraine"


Aktualisiert am 31.08.2022Lesedauer: 6 Min.
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Experten begutachten AKW: Seit Wochen bangt Europa um die Sicherheit des russisch besetzen Kraftwerks in der Nähe der Frontlinie. (Quelle: reuters)

Ein diplomatischer Etappensieg: Experten der IAEA dürfen das AKW Saporischschja begutachten. Doch die UN-Organisation muss sich auch Kritik gefallen lassen.

Es war ein Durchbruch der Diplomatie im Ukraine-Krieg – wenn auch ein verhaltener: Nach langen Verhandlungen gab die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) am Montag bekannt, dass eine Expertengruppe zum Atomkraftwerk Saporischschja reisen würde. Russland und die Ukraine hatten der Mission zuvor zugestimmt.

Seit Wochen bangt Europa um die Sicherheit des russisch besetzen Kraftwerks in der Nähe der Frontlinie. Immer wieder kommt es zu Beschuss und Explosionen in der Anlage. Die Lage schien zuletzt immer weiter zu eskalieren: IAEA-Chef Grossi sprach von einer "sehr realen Gefahr einer nuklearen Katastrophe".

Die Mission soll nun prüfen, wie groß die Schäden in der Anlage sind – und ob die Sicherheit des Kraftwerks ernsthaft gefährdet ist. Nach einem Zwischenstopp in Kiew wird die 14-köpfige Delegation der IAEA im Laufe der Woche in der Stadt Enerhodar erwartet, wo das AKW Saporischschja liegt. Doch dort beginnen die Probleme erst. Denn zentral ist die Frage, wie frei die UN-Experten ihre Arbeit überhaupt ausüben dürfen.

"Der größte Sicherheitsgewinn wäre, wenn die Truppen das Kraftwerk verlassen würden"

Seit März halten die russischen Truppen das AKW besetzt. Nur wenige Tage nach dem Einmarsch in die Ukraine brachten sie es unter ihre Kontrolle. 500 russische Soldaten sollen nach ukrainischen Angaben auf dem Gelände stationiert sein, dazu schweres Geschütz wie Raketenwerfer. Betrieben wird die Anlage noch immer durch die ukrainischen Mitarbeiter.

Der Westen verlangt von Russland, das AKW an die Ukraine zurückzugeben. Dieser Forderung schließt sich auch Sebastian Stransky von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) an: "Der größte Sicherheitsgewinn für das Kraftwerk wäre, wenn die Truppen das Kraftwerk verlassen würden und auch nicht mehr in der Nähe des Kraftwerks gekämpft würde", sagt er. Soldaten in einem Kraftwerk seien ein "Unding", so Stransky zu t-online. "Die gehören da nicht hin und müssten so schnell wie möglich abziehen."

Doch das scheint in weiter Ferne – eine entmilitarisierte Zone lehnt Russland ab.

Die Zustimmung der Kriegsparteien zur IAEA-Mission ist immerhin ein Etappensieg. Gleichzeitig werfen sich Russland und die Ukraine gegenseitig den Beschuss der Anlage vor. Zuletzt meldete die von Russland eingesetzte Besatzungsverwaltung von Enerhodar Einschläge: Sprengkörper sollen nahe einem Lager für verbrauchte Brennstoffe detoniert sein.

Doch Atomexperte Stransky beruhigt: Das Gelände sei zwar in den vergangenen Wochen von Artilleriegeschossen oder kleineren Raketen getroffen worden, "aber sicherheitsrelevante Einrichtungen wurden bisher nicht beschädigt". Die Sicherheitsfunktionen seien bislang nicht beeinträchtigt. "Auch wenn es paradox klingt: Die Blöcke befinden sich fast im Normalbetrieb – die äußeren Bedingungen außen vor gelassen", so Stransky.

Vier Punkte auf der Agenda

Die äußeren Bedingungen sind es, die nun im Fokus stehen. Vier Punkte stehen auf der Agenda der IAEA-Delegation:

  • die Schäden auf dem AKW-Gelände beurteilen
  • die Sicherheitssysteme kontrollieren
  • die Arbeitsumstände für das ukrainische Personal bewerten
  • dringende Sicherheitsmaßnahmen durchführen. Hierbei soll vor allem geklärt werden, dass das nukleare Material nur für friedliche Zwecke eingesetzt wird.

"Mit dem Eintreffen der Experten bekommen wir zum ersten Mal seit fünf Monaten eine unabhängige Begutachtung der Anlagen durch ein internationales Team", erklärt Stransky. Bisher gebe es als Quellen neben dem ukrainischen und russischen Militär – "denen nur bedingt zu trauen ist" – nur den ukrainischen AKW-Betreiber Energoatom sowie die ukrainische Aufsichtsbehörde. Auf deren Äußerungen beruhe die internationale Beurteilung der Situation maßgeblich.

Die Verstrickungen der IAEA mit Russland

Heinz Smital von Greenpeace zufolge dürfe man allerdings die Erwartungen an die IAEA nicht zu hoch hängen: "Die Mission ist hilfreich und kann zur Deeskalation beitragen", so der Atomexperte zu t-online. Aber zu viel sollte man sich nicht erhoffen, "dazu sind die Bedingungen zu schwierig und die Verstrickungen der IAEA zu komplex."

Die IAEA

Die Internationale Atomenergie-Organisation (englisch International Atomic Energy Agency, IAEA) ist eine autonome Organisation innerhalb des Systems der Vereinten Nationen. Ihr Ziel ist es laut Satzung "den Beitrag der Atomenergie zu Frieden, Gesundheit und Wohlstand in der ganzen Welt zu beschleunigen und zu vergrößern." Die Behörde unterstützt die Betreiber von Atomkraftwerken bei Sicherheitsfragen und überwacht im zivilen Bereich die Verwendung nuklearen Materials.

"Die IAEA hat sehr enge Beziehungen zu Russland und dem russischen Atomenergiekonzern Rosatom." Russland ist den Angaben der UN-Behörde zufolge das Land mit den meisten internationalen Atomenergie-Projekten weltweit – alle unterstützt von der IAEA, sagt Smital. Zudem finden sich aus den Jahren vor dem Krieg zahlreiche weitere Kooperationsprojekte, von gemeinsamer Krebsforschung bis zu Bildungsprogrammen für nachhaltige Kernenergie.

"Die IAEA steht Russland viel näher als der Ukraine. Diese strukturelle Nähe ist problematisch", kritisiert der Greenpeace-Experte. Seine Befürchtung: Die internationale Organisation könnte weniger kritisch sein, als es angebracht wäre. "Die Ergebnisse wird man kritisch begutachten müssen – ebenso die Transparenz der IAEA", so Smital.

Gewalt gegen die ukrainische Belegschaft

Doch auch aus dem Kraftwerk kommen kritische Stimmen: Die Mission komme viel zu spät, sagte eine ukrainische Mitarbeiterin am Montag dem ZDF. Wochenlang habe die IAEA nichts unternommen, um eine nukleare Katastrophe zu verhindern, die laut ihrer Aussage jederzeit passieren könne. Die Ukrainer vor Ort hätten kein Vertrauen in die Experten. "Die russischen Soldaten werden den AKW-Mitarbeitern niemals erlauben, zu erzählen, was wirklich passiert", so die Angestellte, die unerkannt bleiben möchte, zum ZDF. Von den Russen hingegen werde die Delegation belogen werden.

Diese Sorgen teilt Smital: "Die Frage ist, wie ehrlich die ukrainische Betriebsmannschaft tatsächlich berichten kann." Es könne sein, dass die Mitarbeiter von den Russen vorher so unter Druck gesetzt werden, dass sie keine kritischen Antworten auf die Fragen der IAEA-Experten geben würden. "Dann kann das Ganze zur Farce werden", so der Greenpeace-Experte.

Immer wieder gab es in den vergangenen Wochen Berichte über Gewalt gegen die ukrainischen Angestellten des Kraftwerks, bis hin zu Folter durch die russischen Besatzer. Mehrere Mitarbeiter werden nach Angaben des Betreibers Energoatom vermisst.

"Besser als nichts"

Physiker Sebastian Stransky hingegen verteidigt die internationale Delegation: Die Unabhängigkeit ergebe sich unter anderem auch aus der Kompetenz der Experten. "Wenn die durch die Kraftwerksgebäude geführt werden, können sie den Zustand der Anlage beurteilen", glaubt er. Wichtig seien dabei vor allem Systeme und Kompetenten, die die Kühlung der Reaktoren sicherstellen und so eine Kernschmelze verhindern sollen. "Diese müssen zwingend funktionieren."

Außerdem gehe er davon aus, dass die IAEA-Experten mit den ukrainischen Mitarbeitern reden werden können. "Ich gehe davon aus, dass die Experten der IAEA die Informationen, die sie brauchen, um die Sicherheit des Kraftwerks beurteilen zu können, auch erhalten werden."

Doch auch die Zeit könnte ein kritischer Faktor sein: Der Chef der von Russland eingesetzten Verwaltung in der Kraftwerksstadt Enerhodar, Jewgeni Balizki, sagte der russischen Nachrichtenagentur Interfax am Dienstag, die Inspektoren hätten einen Tag Zeit, sich anzuschauen, wie das Werk arbeitet. Atomenergie-Experte Smital hatte so etwas befürchtet: Die routinemäßigen AKW-Prüfungen der IAEA würden normalerweise viel länger dauern, erklärt er. "Aber es ist besser als nichts."

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Smital: "Die Mission hat einen bitteren Beigeschmack"

Vor Ort wird auch IAEA-Direktor Rafael Mariano Grossi sein. Er machte die Mission zur Chefsache und leitet sie persönlich. Man müsse die Sicherheit und den Schutz von Europas größter Nuklearanlage gewährleisten, schrieb er auf Twitter zu einem Bild, das ihn und seine Delegation zeigt. Auch das gab Anlass zur Kritik: Eine Reise ohne den Leiter der UN-Behörde wäre wohl schneller durchzusetzen gewesen, heißt es aus Verhandlungskreisen der Vereinten Nationen.

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"Die Mission wirkt ein bisschen wie eine Selbstinszenierung der IAEA und des Herrn Grossi. Sie hat einen bitteren Beigeschmack", findet auch Greenpeace-Experte Smital. Trotzdem könne sie deeskalierend wirken, auch wenn man nicht zu viel erwarten dürfe: "Die Mission wurde von beiden Seiten genehmigt. Von da her darf man hoffen, dass für die Zeit der Inspektion die Kampfhandlungen eingestellt werden."

"Niemand wird einen schweren Reaktorunfall gezielt provozieren"

Die Reise ist gefährlich, nicht nur, weil der Krieg immer noch in vollem Gang ist und ein Atomunfall droht. "Wenn ein Kraftwerk als militärischer Stützpunkt missbraucht wird, können militärische Sicherungsmaßnahmen der AKW-Sicherheit entgegenstehen", sagt Smital. "Tschernobyl war zum Beispiel völlig vermint."

Jedoch glaubt auch er, dass keine der Seiten Interesse an einer nuklearen Katastrophe hat: Die Ukraine nicht, weil es ihr eigenes Gebiet ist, aber auch Russland nicht, weil aufgrund der vorherrschenden Windrichtung die Radioaktivität wohl auf russisches Gebiet getragen werden würde. Man könne davon ausgehen, "dass niemand einen schweren Reaktorunfall gezielt provozieren wird", so Smital. "Aber durch die zunehmende Eskalation und die Unübersichtlichkeit der Situation ist es ein hochbrisantes Pulverfass, das sich nicht so leicht entschärfen lässt."

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Wie angespannt die Lage ist, zeigte sich zuletzt am vergangenen Donnerstag: Nach Bränden in Aschegruben eines naheliegenden Wärmekraftwerks, von dem Stromleitungen zum AKW Saporischschja führen, wurde dieses komplett vom Netz genommen – zum ersten Mal überhaupt. Die zwei verbleibenden aktiven Reaktoren wurden vorübergehend heruntergefahren, aber sind mittlerweile wieder am Netz. Mehr zu dem Vorfall lesen Sie hier.

Ein "absolutes Novum"

Am Ende der Reise muss die IAEA einen Bericht abliefern, der an das Betreiberland geht, also die Ukraine. Die Bestätigung, dass das AKW Saporischschja sicher ist, wäre wohl das bestmögliche Ergebnis der IAEA-Inspektion, meint Heinz Smital von Greenpeace. Mehr sei allerdings kaum zu erwarten. Der völkerrechtlich korrekte Ablauf würde neben dem Wiederanschluss ans ukrainische Netz, dem Abzug der russischen Truppen und einer Entmilitarisierung der Umgebung auch die Rückgabe des Kraftwerks an die Ukraine umfassen.

"All das sehe ich nicht kommen – trotz der Inspektion", so Smital.

Und wenn die IAEA-Mission mit einem anderen Ergebnis endet? Diese Frage können selbst die Experten aktuell nicht beantworten. "Die Situation ist ein absolutes Novum", sagt Sebastian Stransky. "Dafür gibt es keine Blaupause."

Verwendete Quellen
  • Telefonat mit Sebastian Stransky am 30.08.2022
  • Telefonat mit Heinz Smital am 30.08.2022
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