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Zerfällt Putins Armee in der Ukraine? "Könnte Anschub für eine Revolution sein"


Zerfällt Russlands Armee in der Ukraine?
"Putins Soldaten werfen die Flinte ins Korn"

InterviewVon Patrick Diekmann

Aktualisiert am 12.09.2022Lesedauer: 7 Min.
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Probleme für Putin: Um die Moral in der russischen Armee steht es schlecht, zudem werden die russischen Versorgungslinien angegriffen. (Quelle: t-online)

Die Ukraine drängt die russische Armee immer weiter zurück und hat in dem Krieg die Oberhand gewonnen. Wladimir Putin gehen die Optionen aus.

t-online: Herr Gressel, die erfolgreiche Gegenoffensive der ukrainischen Armee im Nordosten hat anscheinend nicht nur westliche Analysten überrascht, sondern auch Russland. Wie prekär ist aktuell die Lage für Moskau?

Gustav Gressel: Sehr prekär. Die russische Front ist zusammengebrochen.

Wie konnte sich die russische Armee so überraschen lassen?

Russland hat zwar den ukrainischen Aufmarsch bemerkt, aber Moskau hat die Vorbereitung auf den ukrainischen Angriff verschlafen. Außerdem hatte Russland zu viele Kräfte in die Region Cherson verlegt. Die operativen Reserven, die der Kreml gebraucht hätte, um den ukrainischen Angriff um Charkiw abwehren zu können, standen dann am Ufer des Dnipro in Cherson.

Die ukrainische Offensive scheint aber nun eine kleine Pause einzulegen. Warum?

Eine grundlegende Voraussetzung für den Erfolg des ukrainischen Gegenangriffs war die hohe Geschwindigkeit der mechanisierten Kräfte – also der gepanzerten Fahrzeuge, der Kampf- und Schützenpanzer. Der Angriff geht zwar aktuell nicht direkt weiter, aber das kann damit zusammenhängen, dass die Panzer aufgetankt und aufmunitioniert werden müssen. Irgendwann brauchen Panzer auch eine Tankpause.

Gibt das Russland nun Zeit, um die Front im Nordosten wieder zu stärken?

Der ukrainischen Armee ist es bei ihrem Gegenangriff schon gelungen, alle großen Flusshindernisse zu überwinden. Die Russen haben deshalb keine gute Verteidigungslinie mehr in der nördlichen Region Luhansk.

Gustav Gressel ist Senior Policy Fellow beim European Council On Foreign Affairs in Berlin. Seine Schwerpunkte sind Russland, Osteuropa und bewaffnete Konflikte.

Das russische Verteidigungsministerium spricht von "Regruppierung" der eigenen Truppen. Kann das den ukrainischen Vorstoß aufhalten?

Es gibt russische Bewegungen von Donezk in Richtung der zusammengebrochenen Front, und es werden auch neue Kräfte aus Russland in den Donbass kommen. Aber ich würde erwarten, dass die Ukraine ihren Angriff fortsetzt, damit sich die russischen Truppen nicht irgendwo festsetzen und zur Verteidigung einrichten können.

Das war nun eine ukrainische Offensive über eine 100-Kilometer-Front. Hat die russische Aufklärung versagt?

Das ist eine gute Frage. Russische Blogger haben zwar von einer geplanten Offensive berichtet, aber die russische Führung hat offenbar nicht die richtigen Schlüsse daraus gezogen. Wahrscheinlich hat der Kreml mit einem Entlastungsangriff gerechnet, aber nicht mit einer geballten Offensive. Doch die haben wir in den vergangenen Tagen erlebt.

War der russische Rückzug dann geordnet?

Nein. Die russische Armee geht sehr planmäßig vor und bekommt in diesem Krieg immer dann Probleme, wenn etwas Unplanmäßiges passiert. Wenn sie sich zum Beispiel schnell bewegen müssen, kommt die schlechte Offiziersausbildung und die schlechte Funkausstattung der Russen zum Tragen. Immer wenn die Ukraine ins Bewegungsgefecht kommt, hat sie einen Vorteil. Ein weiterer Punkt ist die schlechtere Moral in der russischen Armee: Viele von Putins Soldaten haben einfach die Flinte ins Korn geworfen.

Was waren die Folgen daraus?

Dann entstand Chaos, und das hat die Geschwindigkeit des Angriffs noch einmal erhöht, weil die ukrainische Armee schnell nachstoßen konnte. Während die Ukraine die Flexibilität ihrer Kräfte nutzen konnte, wusste die russische Seite auf ihrem Rückzug anscheinend nicht, wo welche Einheiten stehen.

Vor der ukrainischen Offensive sprachen wir über die immense Feuerkraft der russischen Artillerie in der Region. Warum konnte die den Vorstoß der Ukrainer nicht aufhalten?

Die Artillerie tut sich im Bewegungsgefecht schwer, und es gibt in der russischen Armee große Koordinierungsprobleme. Die ganze Kommandostruktur ist zu schwerfällig, und die Russen brauchen teilweise bis über zehn Minuten von der Anforderung bis zum Feuerbefehl. Wenn der Ukraine an einer Front ein Durchbruch gelingt, hat die russische Armee somit Schwierigkeiten, mit Artillerie fahrende Panzer zu treffen.

Und wo war die russische Luftwaffe?

Da gibt es eine Parallele zur Artillerie. Nachdem die Russen am Boden keine nennenswerten Reserven mehr hatten, haben sie versucht, die Luftwaffe gegen die ukrainischen Speerspitzen zu schicken. Im Bewegungsgefecht sind Kampfflugzeuge aber auf Bodeneinheiten angewiesen, die sie einweisen und die ihnen Ziele markiert. Dafür sind ganz wenige Leute in der russischen Armee ausgebildet, und es zeigt sich in diesem Krieg immer wieder, dass das nicht funktioniert.

Die russische Luftüberlegenheit ist demnach bisher kein Faktor?

Zumindest ist die Wirkung der Luftangriffe gering. Die Flieger müssen kreisen, sich selbst Ziele suchen und werden damit zu einfachen Zielen für Stinger-Raketen oder den Gepard-Panzer. Oder sie fliegen blind an und schießen ihre Bomben oder ungesteuerten Raketen oft daneben. Es wurde viel geflogen, aber wenig getroffen.

Moskau hat in den vergangenen Tagen auch Verkehrsknotenpunkte verloren. Was bedeuten die Verluste logistisch für den russischen Angriffskrieg?

Russland hat die tragfähigsten Bahnstrecken in der Region Luhansk verloren. Aus dem Norden können die russischen Truppen zwar noch mit Munition, Betriebsmitteln und Reserven unterstützt werden, aber jede Verlegung und Versorgung aus dem Süden muss jetzt große Umwege machen. Das verlangsamt die Geschwindigkeit, mit der die russische Armee reagieren kann.

Wie sieht es denn mit dem Nachschub an Soldaten aus? Findet Putin noch genug Freiwillige, die in der Ukraine kämpfen möchten?

Das ist in der Tat ein weiteres Problem für Putins Armee. Die Personaldecke ist dünn, und die gegenwärtige Niederlage ist auch in Russland nicht verborgen geblieben. Das wird es nicht einfacher machen, Leute zu rekrutieren. Wer schließt sich schon freiwillig einem Krieg an, der schlecht läuft? Immerhin ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie in gegnerische Gefangenschaft geraten. Zwischen September und November laufen viele Zeitverträge der Soldaten aus, und gerade jetzt müsste sich der Kreml um neue Rekruten kümmern.

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Kann Russland ohne eine Mobilmachung diesen Krieg überhaupt weiterführen?

Die russische Armee scheint über zu wenig Kräfte in der Ukraine zu verfügen. Die meisten Reserven und Soldaten und ihr schweres Gerät sind immer noch in Cherson stationiert, und diese Verbände sind dort gebunden. Dort könnte sich in den nächsten Tagen und Wochen der Munitionsmangel bemerkbar machen, der durch die gezielten ukrainischen Angriffe auf Munitionsdepots entstanden ist. Wenn sich die Truppen im Süden dann auch noch ergeben, ist die russische Front in der Ukraine heillos überdehnt, und ich weiß nicht, wie sie ihre Gelände noch halten wollen, wenn die Ukraine die Angriffsinitiative hat und sich Schwerpunkte selbst aussuchen kann. Das wird eine harte Zeit für Putin.

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Rückt deshalb eine Teilmobilmachung in Russland näher?

Dahinter verbirgt sich für Putin ein hohes innenpolitisches Risiko. Der Krieg ist nicht besonders beliebt in Russland, und mit einer Mobilmachung würde er die breite russische Öffentlichkeit auf einmal in den Krieg mit einbeziehen – auch Kinder der russischen Eliten müssten zur Waffe greifen. Aber Putin kennt das Spiel und weiß, dass die Sowjetunion auch daran zerbrochen ist, dass sich die Eliten von dem Regime distanziert haben.

Aber militärisch wäre es für den Kreml sinnvoll, vielleicht sogar der einzige Ausweg.

Es gibt Querelen zwischen Putin und dem Generalstab und ich würde tippen, dass sich viele dieser Meinungsverschiedenheiten um die Frage einer Teilmobilmachung drehen. Putin ist Geheimdienstler, kein Militär. Er hat wenig Verständnis für militärische Belange und führt Kriege aus seiner Geisteswelt als Geheimdienstler. Deswegen ist aus seiner Sicht die Bedrohung durch innenpolitische Unruhen wahrscheinlich größer als durch außenpolitische Feinde. Viele militärisch sinnvolle Dinge hat der russische Präsident in der Vergangenheit nicht gemacht, weil sie innenpolitisch riskant waren.

Mittlerweile gibt es von Regionalparlamenten oder auch im Staatsfernsehen Kritik am russischen Kriegskurs. Wie fest sitzt Putin noch im Sattel?

Ein verlorener Krieg könnte in Russland der Anschub für eine Revolution sein. Doch es ist unklar, in welche Richtung sich ein Machtwechsel bewegen würde. Es gibt liberale und faschistische Kräfte, die momentan eigentlich nur eines gemeinsam haben: ihren Hass auf Putin. Die Kritik an der Kriegsführung des Präsidenten scheint aber nicht mehr zu unterdrücken zu sein, und das ist ein Anzeichen dafür, dass Menschen im Sicherheitsapparat anscheinend die gleiche Meinung vertreten. Inwiefern es in Moskau aber politische Grabenkämpfe gibt, kann ich von hier nicht beurteilen.

Könnte die Kriegslage für Russland auch eine Chance für Frieden sein?

Ich wäre zumindest nicht überrascht, wenn es aus Moskau eine Initiative für einen Waffenstillstand geben würde. Für Russland wäre es zum jetzigen Zeitpunkt nicht schlecht, wenn die Front eine Zeit eingefroren werden würde.

Aber darauf würde sich die Ukraine zum jetzigen Zeitpunkt wahrscheinlich nicht einlassen.

Nein, ich denke nicht. Sie haben jetzt das Momentum, und die Stimmung in der ukrainischen Bevölkerung ist nach den Verbrechen der russischen Armee so, dass man die Invasoren aus dem Land werfen möchte. Wir sehen auch die Bilder, wie die ukrainische Armee aktuell als Befreier begrüßt wird. Deshalb möchte die ukrainische Führung nicht die eigenen Leute unter russischer Herrschaft zurücklassen.

Es sieht so aus, als stehe der Kreml immer mehr mit dem Rücken zur Wand: Könnte Russland nun taktische Atombomben einsetzen?

Es gibt kaum ein militärisches Ziel für eine Atomwaffe. Wenn Russland eine Bombe einsetzen würde, dann gäbe es zwar einen begrenzten Schaden in der ukrainischen Armee, aber das hätte die Offensive der vergangenen Tage wahrscheinlich nicht aufgehalten. Um die Kriegslage zu verändern, müsste Moskau 20 bis 30 Atombomben einsetzen, aber das hätte langfristig massive politische Folgen für Russland. Die diplomatische Front, an der sich Russland etwa mit Beziehungen zu China oder Indien bisher international halten konnte, würde komplett zusammenbrechen.

Um noch einmal zum Ausgangspunkt unseres Gesprächs zurückzukommen: Würden Sie schlussfolgern, dass die erfolgreichen Gegenangriffe der Ukraine eine Kriegswende sind?

Russland kann nur mit einer Mobilmachung die Initiative zurückgewinnen. Sonst haben sie die Kräfte nicht mehr, zu viel Personal und Material sind mittlerweile verloren gegangen. Die russische Armee kann das Kampfgeschehen nicht mehr bestimmen, und das ist die Wende in diesem Krieg. Aber selbst bei einer Mobilmachung müssten Kräfte erst ausgebildet werden, und das würde Zeit kosten. Russland hat nicht viele gute Optionen, im Gegenteil: Die ukrainische Armee ist dabei, diesen Krieg zu gewinnen.

Herr Gressel, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Gustav Gressel
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