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Scheinreferenden in der Ukraine: Putin zieht die Notbremse


Scheinreferenden in der Ukraine
Putin zieht die Notbremse

Von Patrick Diekmann

Aktualisiert am 21.09.2022Lesedauer: 6 Min.
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Ein ukrainischer Soldat hält den Helm eines russischen Soldaten in Händen (Archivbild): In dem Krieg kämpfen auch viele Ausländer, darunter einige wenige Deutsche.Vergrößern des Bildes
Ein ukrainischer Soldat hält den Helm eines russischen Soldaten in Händen: Die Ukraine ist zumindest im Nordosten militärisch auf dem Vormarsch. (Quelle: Andrew Kravchenko/rtr)

Nach den militärischen Rückschlägen könnte Russland weitere Gebiete der Ukraine annektieren. Putins Scheinreferenden markieren eine neue Eskalationsstufe.

Plötzlich soll alles ganz schnell gehen. Die pro-russischen Separatisten in den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk und auch die Verwaltungen in den südukrainischen Gebieten Saporischschja und Cherson haben Referenden für den Anschluss an Russland angesetzt. Schon ab Freitag sollen die Abstimmungen beginnen, die eigentlich nur Scheinabstimmungen sind. Schließlich tobt ein blutiger Krieg in der Ukraine und ein elementarer Teil der Bevölkerung ist auf der Flucht.

Die geplanten Referenden sind nur Feigenblätter für weitere Annexionen durch Russland. Sie werden weder fair ablaufen, noch Aussagekraft besitzen. Aber deren kurzfristige Anberaumung zeigt vor allem eines: Die Lage für die russische Armee im Ukraine-Krieg ist aktuell katastrophal. Die schnelle Ansetzung der Scheinreferenden ist dabei ein Akt der Verzweiflung, denn im Angesicht der ukrainischen Gegenoffensive wird die Panik unter den pro-russischen Separatisten immer größer. Ihnen drohen harte Strafen, sollten sie von der Ukraine gefangen genommen werden.

Der Kreml setzt damit auf eine weitere Eskalation des Ukraine-Krieges, und der russische Präsident Wladimir Putin scheint nach den jüngsten Niederlagen seiner Armee jetzt die Notbremse zu ziehen. Damit werden nun eine offizielle Kriegserklärung durch Russland und eine Mobilmachung wahrscheinlicher, denn nach einer Annexion sähe Russland die umkämpften Gebiete in der Ukraine als eigenes Staatsgebiet an.

Angst der Separatisten

In allen Gebieten soll vom 23. bis 27. September abgestimmt werden. In Saporischja werde das "Referendum" nur in den von Moskau kontrollierten Teilen stattfinden, so der Chef der Militärverwaltung, Wladimir Rogow, am Dienstag. Es sei alles bereit, sagte er weiter.

Aber bereit ist eigentlich nichts. In den betroffenen Gebieten verschiebt sich die Frontlinie täglich und in Cherson waren Teile der russischen Militärverwaltung zuletzt auf die Krim geflohen – aus Angst vor Anschlägen durch Partisanenkämpfer. Eigentlich herrscht zu viel Chaos, um derartige Referenden abzuhalten, aber den pro-russischen Kräften in der Ukraine steht das Wasser derzeit bis zum Hals.

Eigentlich wollte die Militärverwaltung in Cherson das Referendum verschieben, so hieß es zumindest Anfang September. Nun plötzlich die Wende. Das hat mutmaßlich mit der ukrainischen Gegenoffensive zu tun. Die Kiewer Truppen erzielten zuletzt größere Geländegewinne in Charkiw und stehen kurz vor den Gebietsgrenzen von Luhansk.

"Obwohl die Region Donezk von der russischen Armee noch längst nicht erobert ist und die Region Luhansk erst gegen eine Offensive der ukrainischen Armee bestehen muss, beschleunigen sich nun die Bemühungen um den Anschluss an Russland", schreibt der Politikwissenschaftler Gerhard Mangott auf Twitter. Und weiter: "Auch das ging sehr schnell: Jetzt sind die 'Rechtsgrundlagen' (Gesetze, Dekrete) für die Anschlussreferenden in den Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson beschlossen und 'rechtskräftig'."

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Russische Armee ist unter Druck

Die Geschwindigkeit der geplanten Annexionen durch Russland überrascht zwar, aber dass Putin handeln muss, war bereits erwartet worden. Wie Mangott im Gespräch mit t-online erklärte, ist die militärische Lage für die russische Armee in der Ukraine "katastrophal". Der Russland-Experte weiter: "Ohne personelle Verstärkung ist der Krieg für Russland nicht zu gewinnen und sind die meisten eroberten Gebiete nicht zu halten."

Zwar gab sich Putin zuletzt betont siegessicher, versuchte die Wirkung der ukrainischen Gegenoffensive herunterzuspielen und kündigte weitere Angriffe im Osten der Ukraine an. "Wir haben es nicht eilig", sagte Putin bei einem Gipfeltreffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit am Freitag in Usbekistan. Doch militärische Erfolge gab es für Russland auch nach Putins Ankündigung kaum. Im Gegenteil.

Für die Ukraine ging es zwar in den vergangenen Tagen langsam voran, aber sie erzielten besonders im Nordosten weitere Erfolge. So steht der schwer umkämpfte Ort Lyman offenbar kurz vor der Einnahme durch die ukrainische Armee, auch Bilohoriwka soll nach Angaben von Kiew bereits befreit worden sein. Außerdem sollen ukrainische Kräfte laut eigenen Angaben einen wichtigen Brückenkopf über den Fluss Oskil errichtet haben.

Im Süden dagegen kommt die Ukraine nur langsam voran, was auch mit der starken Präsenz von russischer Artillerie zu tun hat. Trotz erbitterter Kämpfe an vielen Punkten der südlichen Front gab es in der Region Cherson in den vergangenen Tagen kaum Verschiebungen der Frontlinie. Trotzdem scheint es der russischen Armee aber vor allem im Nordosten der Ukraine nicht zu gelingen, eine stabile Verteidigungslinie aufzubauen.

Erbitterter Abnutzungskrieg

Die nun geplanten Referenden deuten laut der US-Denkfabrik "Institute for the Study of War" daraufhin, dass die anhaltende Gegenoffensive der Ukraine im Norden Russland und die pro-russischen Separatisten "in Panik" versetze. "Die Erfolge der ukrainischen Gegenoffensive schmälern die Moral der russischen Einheiten, die vor dem Einmarsch in die Ukraine als Elite galten", schreibt das Institut in seinem täglichen Kriegsbericht. "Die ukrainischen Streitkräfte setzen wahrscheinlich ihre begrenzten und lokalen Offensivoperationen über den Fluss Oskil und entlang der Linie Lyman-Jampil-Bilohoriwka fort."

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte bereits den Fortgang der Gegenoffensive angekündigt. Die Ziele der ukrainischen Führung in den kommenden Wochen könnten die Befreiungen von Lyssytschansk und Sjewjerodonezk sein, die im Sommer nach massivem Artilleriebeschuss durch die russische Armee erobert wurden. Das wäre ein wichtiger strategischer und symbolischer Erfolg für die Ukraine. Im Süden wird es für Kiew darum gehen, die Versorgung der russischen Truppen über den Dnipro weiter zu stören. In dieser Woche meldete die Ukraine, dass sie erneut eine russische Pontonbrücke zerstört habe. Das macht die Verteidigung von Cherson für Russland ungemein schwer – besonders, wenn die Munition knapp werden sollte.

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Zwar sprach Selenskyj schon von der Rückeroberung von Mariupol und der Krim, aber das sind wahrscheinlich eher mittelfristige Ziele. Denn auch die Ukraine leidet am Verlust von Soldaten und Ausrüstung und muss ihre Kräfte gezielt und punktuell einsetzen.

Russland hat dagegen das Problem, dass Artillerie und Luftwaffe die Front im Osten nicht stabilisieren konnten. "Sie haben in eine Richtung Erfolge erzielt und uns in einen Zustand gebracht, in dem wir an keine Offensive in diese Richtung mehr denken – nur um die Front zu stabilisieren", warnt Alexander Chodakowski, militärischer Führer der sogenannten Volksrepublik Donezk auf seinem Telegram-Kanal. Die russische Führung hofft dagegen auf den Einsatz von iranischen Kamikaze-Drohnen. Sie können aus der Entfernung Artilleriesysteme angreifen, die vom Westen geliefert wurden. Ihre Wirksamkeit wurde mittlerweile von beiden Kriegsparteien bestätigt – eine Gefahr für die Ukraine. Mehr dazu lesen Sie hier.

Die Ukraine ist zwar gegenwärtig der russischen Armee personell im Krieg überlegen, aber je weniger Gebiete des Landes Moskau kontrolliert, desto mehr kann die russische Armee Soldaten und Ausrüstungen auf diese Gebiete konzentrieren. Es ist und bleibt also ein langsamer Zermürbungskrieg und gleichzeitig ein Katz-und-Maus-Spiel beim Einsatz von moderner Kriegstechnik.

Referenden werden zur Notlösung

Um den personellen Zerfall seiner Armee zu stoppen, schickte Moskau zuletzt neue Kräfte in den Nordosten der Ukraine. Doch das ist wahrscheinlich keine Lösung auf Zeit. Denn die frischen Soldaten wurden teilweise in Gefängnissen rekrutiert und es handelt sich um Freiwillige – oft sind diese Kräfte schlecht oder kaum ausgebildet. Mehr dazu hier.

Putin nutzt sie offenbar als menschliches Kanonenfutter, um die Front kurzfristig zu stabilisieren. Trotzdem braucht der Kreml-Chef mindestens eine Teilmobilmachung in Russland, um sein Kriegsziel – die "Entnazifizierung der Ukraine" – erreichen zu können. Das bringt für ihn aber zahlreiche innenpolitische Probleme mit sich, weil er dadurch viele Russinnen und Russen in einen unbeliebten Krieg schicken würde. Davor schreckte er bislang zurück.

Aber die nun anstehenden Referenden können durchaus als Schritt in diese Richtung gedeutet werden. Die Annexion der Gebiete durch Russland hätte Folgen:

  • Plötzlich stünden ukrainische Soldaten nach russischem "Recht" auf dem Territorium Russlands. Putin könnte erklären, dass Russland angegriffen wird.
  • Die russische Führung könnte das als Grundlage dafür nehmen, um den offiziellen Status der sogenannten "Spezialoperation" zu ändern und der Ukraine offiziell den Krieg erklären. Schon jetzt betont die Kreml-Propaganda immer wieder, dass sich Russland in einem Konflikt mit dem kollektiven Westen und mit den USA befinden würde.
  • Russland wird daraufhin auch offensiver mit dem Einsatz von Nuklearwaffen drohen. Denn laut russischer Militärdoktrin wäre die Voraussetzung dafür – ein Angriff auf russisches Staatsgebiet – gegeben. Das heißt wiederum nicht, dass Putin Atomwaffen einsetzen würde. Der politische Schaden wäre für Russland international eine Katastrophe.
  • Letztlich versuchen die pro-russischen Separatisten jedoch, sich unter den nuklearen Schutzschirm zu flüchten, bevor sie in ukrainische Gefangenschaft geraten.

Die Konsequenzen dieser Scheinreferenden und die politischen Risiken für Putin sind demnach hoch. Russland muss nicht nur mit stärkeren Angriffen durch die Ukraine rechnen, sondern auch mit Partisanenkämpfern, die diese Abstimmungen verhindern möchten. Dass Moskau nun doch plötzlich seine Zustimmung dafür gegeben hat, ist ein Zeichen dafür, wie dramatisch die militärische Lage für Russland im Moment wirklich ist. Für Putin ist der Schritt eine Notlösung.

Verwendete Quellen
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