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Frauen im Ukraine-Krieg: "Ich bin in der Armee, um Russen zu töten"


Ukrainerinnen kämpfen gegen Putins Truppen
"Sie kommen in Scharen, um uns zu töten"

  • Daniel Mützel
Von Daniel Mützel, Charkiw

Aktualisiert am 26.11.2022Lesedauer: 7 Min.
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Kampf gegen den russischen Aggressor: Diese Frauen erzählen, warum sie an die Front gegangen sind und warum sie ihre Einheiten besser machen. (Quelle: t-online)

Kämpfen, kochen, kommandieren: Auch 40.000 ukrainische Frauen kämpfen im Krieg gegen Russland. Was treibt sie an?

Die Frau, die sich "Lagherta" nennt, wie die schöne Kriegerin aus der Netflix-Serie Vikings, demonstriert, wie ihr Arbeitsgerät funktioniert.

Sie dreht das Rohr im Kaliber 73 Millimeter in die Vertikale, bis auf 15 Grad, mehr geht nicht. "In diesem Winkel könnte ich Russen in 5.000 Metern Entfernung treffen", sagt sie. "Das ist die maximale Reichweite des SPG-9."

Lagherta, 28, die mal Physik studiert hat, dann in Kiew als Fitnesstrainerin arbeitete, kommandiert heute eine vierköpfige Einheit, die mit dem Geschütz im Kampf operiert. Das SPG-9 stammt aus Sowjetzeiten und kann je nach Munition gegen unterschiedliche Ziele eingesetzt werden. "Gegen feindliche Panzer haben wir Hohlladungsgranaten, feindliche Infanterie bekämpfen wir mit Splittergranaten", sagt sie.

Während Lagherta in der Soldatenunterkunft in einem Waldstück nahe Charkiw die Vorzüge des SPG-9 erklärt, schleichen immer wieder männliche Kameraden durch den Raum. Die Hütte dient der Einheit als vorübergehender Rückzugsort. Lagherta hat ein paar Tage frei, bevor es zurück an die Front geht.

In der Ecke liegen Rucksäcke, auf dem Boden schmutzige Wäsche und Munitionskisten. Ein Dutzend Männer in olivgrünen Hemden und Flecktarnhosen fläzt auf Feldbetten, manche dösen, andere tippen auf ihrem Smartphone. In einer Kochnische dampft ein Topf, der dazugehörige Koch bestätigt die naheliegende Vermutung: "Es gibt Borschtsch (traditionelle ukrainische Rote-Beete-Suppe)!" Lagherta ist die einzige Frau hier.

Frauen seit 2018 den Männern gleichgestellt – offiziell

Doch sie ist nicht die einzige in der ukrainischen Armee: 40.000 Frauen dienen aktuell in den Streitkräften des Landes (5.000 davon an der Front) – knapp ein Zehntel der Gesamttruppenstärke von schätzungsweise 500.000 bis 700.000. Im Gegensatz zu ukrainischen Männern zwischen 18 und 60 Jahren, die jederzeit eingezogen werden können, hatten sie die Wahl: Sie haben sich freiwillig gemeldet.

2014, als Russland das Nachbarland zum ersten Mal überfiel, durften Frauen offiziell noch nicht an Kampfhandlungen teilnehmen. 2018 wurden sie Männern formell gleichgestellt, doch es gibt Berichte über Diskriminierung von Frauen in der Armee und Fälle sexueller Belästigung.

Der Hauptgrund für den Zustrom Zehntausender Frauen ins Militär ist der im Februar 2022 begonnene russische Angriffskrieg. Doch es gibt große Unterschiede in der Frage, wie, warum und in welcher Rolle sie ihr Land verteidigen wollen.

Töten als "erfolgreiche Arbeit"

Für Lagherta, die von ihren Kameradinnen als "echte Kriegerin" bezeichnet wird, ist die Antwort klar: "Warum ich in der Armee kämpfe? Um Orks zu töten", sagt sie. "Orks" sind nichtmenschliche Monster im "Herr der Ringe"-Reich des britischen Schriftstellers J.R.R. Tolkien. In der Ukraine ist es eine abwertende Bezeichnung für die russischen Angreifer, auch Regierungsstellen verwenden den Begriff. "Sie kommen in Scharen, um uns zu töten, zu vergewaltigen und unsere Heimat zu vernichten. Wie soll ich sie sonst nennen?", sagt Lagherta.

Die 28-Jährige spricht von ihrem "Arbeitsplatz" und meint die Front, "arbeiten" ist schießen und "erfolgreich arbeiten" bedeutet, russische Soldaten zu töten.

"Wie soll ich sie sonst nennen?"

Hat das Kämpfen und Töten seit nun neun Monaten sie nur abgestumpft oder hilft ihr diese Banalisierung, besser mit den Schrecken des Krieges klarzukommen?

Lagherta winkt ab. Sie hält sich mit solchen Fragen nicht auf. Vergnügt, fast euphorisch spricht sie über die Voraussetzungen für eine gute Feuerstellung oder zeigt Videos "erfolgreicher Arbeit". Der einzige Nachteil ihres Jobs sei es, nicht sehen zu können, wenn sie einen Treffer lande, sagt sie.

Geärgert hat sie sich nur darüber, dass sie am Anfang nicht nur gegen Russen, sondern auch gegen Vorurteile kämpfen musste. "Es gab ständig blöde Sprüche von männlichen Kameraden. Mein damaliger Kommandeur wollte mich als Sanitäterin oder Köchin einsetzen. Aber ich wollte an die Front." Als Frau habe sie es schwerer gehabt, in der militärischen Hierarchie weiterzukommen. "Stereotypen über Frauen, was sie angeblich können oder nicht, sind leider noch weit verbreitet."

Anfangs habe sie aggressiv darauf reagiert, wenn jemand ihr sagte, die Artillerie sei nichts für Frauen. "Aber irgendwann habe ich das einfach ignoriert und noch härter an mir gearbeitet." Heute stelle niemand mehr ihre Position infrage. "Ich bin da, wo ich immer sein wollte. Jetzt gebe ich die Befehle", sagt sie und grinst.

"Russland hat unser Leben gestohlen"

Marta Yuzkiw sieht es als ihre Pflicht, ihr Land gegen die russische Invasion zu verteidigen. Sie kämpfe seit Langem für Freiheit und Demokratie, sagt sie, eine Niederlage gegen Russland würde die Ukraine um Jahrzehnte zurückwerfen. Die 51-Jährige arbeitete vor dem Krieg in der klinischen Forschung. Heute dient sie im gleichen Bataillon wie Lagherta – allerdings als Sanitätsoffizierin in der zweiten Linie.

Yuzkiw lehnt am Billardtisch im "Haus der Kultur" im Gebiet Charkiw, rund fünf Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Das Gebäude wird von der ukrainischen Armee vorübergehend als Funkraum genutzt. An den Wänden hängen Bilder von Katzen und Blumen, am Boden liegen Kalaschnikows, leere Konserven und Decken.

Früher als andere hatten Marta Yuzkiw und ihr Mann mit einem Krieg Russlands gerechnet. Schon Anfang Februar, als t-online sie in ihrem gutbürgerlichen Haus bei Kiew traf, erzählte sie, dass sie sich auf den russischen Angriff vorbereite. Mit ihrem Mann nahm sie jeden Samstag an Trainings des 130. Bataillons teil, übte taktische Manöver und Schießen. Für ihre drei Söhne, 14-jährige Zwillinge und ein 27-Jähriger, hatte sie eine Vorratskammer angelegt, falls sie und ihr Mann in den Krieg ziehen sollten. Für sie war es eine freiwillige Entscheidung.

Inzwischen bestimmt der Krieg seit neun Monaten ihr Leben. Yuzkiw und ihr Mann kämpften zunächst zwischen Butscha und Irpin, im April wurden sie ins Gebiet Charkiw verlegt. Und die Kinder? "Die sind bei Bekannten untergekommen." Sie habe nur gelegentlich Kontakt zu ihnen. Tägliche Telefonate schaffe sie psychisch nicht, erzählt sie: "Russland hat unser Leben gestohlen."

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Ihren ersten richtigen Kampf hatte sie am 27. Mai. "Ausgerechnet am Geburtstag meines Mannes." 50 Soldaten seien sie gewesen, die den Befehl hatten, einen russischen Schützengraben zu überfallen, der wenige Kilometer entfernt war. "Wir waren schlecht vorbereitet", sagt Yuzkiw.

Russische Raketenwerfer und Mörser feuerten pausenlos. "Es war schrecklich. Ich ging davon aus, dass nur die Hälfte von uns lebend zurückkommen wird."

Wie durch ein Wunder seien jedoch nur drei verletzt worden, von denen einer später durch einen Granatsplitter starb. "Es war nur ein kleines Loch unterhalb der Kehle, aber der Splitter hatte fast alles zerfetzt: Lunge, Leber, seinen Magen. Ich konnte nichts mehr für ihn tun", sagt sie. Die meisten Soldaten stürben an Splittern, nicht durch direkte Treffer.

Schwierig am Soldatenleben sei vor allem, dass es "null Privatsphäre" gebe, sagt Yuzkiw. Sie und ihr Mann lebten rund um die Uhr mit anderen zusammen, es gebe keine separate Unterkunft für Eheleute. "Das ist nicht immer einfach."

80 Prozent des Krieges bestünden aus Routine, sagt sie. Man müsse Essen zubereiten, Stellungen ausgraben, Nachschub besorgen. Die meisten hielten an ihren Gewohnheiten aus dem zivilen Leben fest, daher brauche es jemanden, der dafür Sorge trage. Wenn sie nicht gerade Verwundete behandelt, kocht sie daher und kümmert sich um die Einheit. "Aber nicht, weil die Männer es von mir erwarten, sondern weil ich es gerne mache", sagt Yuzkiw.

Sie wünscht sich nichts mehr, als dass der "Albtraum" bald vorbei ist. Hat sie ein paar Tage frei, fährt sie nach Hause. "Aber auch da kann ich mich nicht entspannen. Der Krieg lässt mich nicht los." Doch einem Waffenstillstand zu russischen Bedingungen würde sie niemals zustimmen. "Ich hoffe wirklich, wir vernichten dieses Imperium", sagt sie zum Abschied.

Am Morgen darauf wird das "Haus der Kultur" mit russischen Raketen beschossen. Ein ukrainischer Offizier teilt mit, Kollaborateure aus umliegenden Dörfern hätten den Russen die entscheidenden Informationen geliefert. Mehrere Menschen werden verletzt, Yuzkiw ist nicht darunter.

"Ohne uns bräche Chaos hier aus"

In ihrem alten Leben hat Maryana Zhaglo, 52, als Marketing-Analystin gearbeitet. Ihr Mann ist schon länger in der Armee, ihre drei Töchter sind zu Hause in Kiew. "Ich bin hier, um sie zu beschützen", sagt Zhaglo. Die 52-Jährige plaudert mit Kameraden in einem Dorf im nordöstlichen Teil des Gebiets Charkiw. In zwei Stunden muss sie auf ihren Wachposten in den Wäldern, "Russen beobachten".

Als Soldatin im Krieg zu kämpfen, hätte sie sich schon 2014 vorstellen können, als Russland einen Krieg im Donbass anzettelte und die Krim annektierte. "Doch ich legte den Gedanken wieder beiseite, weil ich über keine Kampfausbildung verfügte und mir das als Frau nicht habe vorstellen können", sagt Zhaglo.

Von einer Freundin hörte sie Anfang des Jahres von einem Freiwilligenverband. "Ich kam zum Training, um mir das anzuschauen und unterschrieb noch am selben Tag den Vertrag."

t-online hatte auch sie Anfang Februar in ihrer Küche besucht, damals präsentierte sie auf dem Küchentisch ihr Jagdgewehr mit Zielfernrohr (Mehr erfahren Sie hier.). Sie erzählte, dass sie im Fall einer Invasion am liebsten als Scharfschützin arbeiten und russische Truppen aus der Ferne beschießen würde.

Heute ist Zahglo Vollzeit-Soldatin. Ihre Aufgabe: auf Wachposten nach russischen Truppenbewegungen Ausschau halten. Als sie in Charkiw ankam, wurden keine weiteren Sniper gebraucht. "Also warte ich weiter auf meinen Einsatz", sagt Zhaglo.

Ohne die Frauen bräche in der Einheit Chaos aus, sagt sie: Die Männer würden sich komplett gehen lassen, schlechter essen und davon Bauchschmerzen bekommen. Die Kampffähigkeit der gesamten Einheit würde darunter leiden.

Ihr Kamerad, Miroslaw Otkowytsch, ein früherer TV-Journalist, nickt und sagt: "Wenn wir Frauen um uns herum haben, sind wir disziplinierter und mutiger."

"Die Ukraine ist geschichtlich gesehen ein Matriarchat", sagt der 40-Jährige. "Frauen spielten in unserer Gesellschaft immer eine wichtige Rolle, das gilt auch für die Frauen in unserer Kompanie." Die Einheit werde durch sie psychologisch "stabilisiert" und nein, Diskriminierung gebe es keine, sagt Otkowytsch.

Als Zhaglo zum Abschied ihre Kalaschnikow zeigt und erklärt, dass viele in der Einheit dieselbe Waffe trügen, grinst ihr Kommandeur und sagt ironisch: "Ja, nur deine Waffe ist rosa und hat Schmuck drauf." Die Botschaft ist offenbar noch nicht bei allen angekommen.

Verwendete Quellen
  • Recherche vor Ort in Charkiw
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