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Ukraine | Kriegsgefangene aus Russland: "Niemand will hier sterben"


Russische Kriegsgefangene zeigen Reue
"Wenn wir uns zurückziehen, erschießen sie uns"

Von Tobias Eßer

Aktualisiert am 19.06.2023Lesedauer: 4 Min.
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Russische Kriegsgefangene im ukrainischen Gefängnis: "Niemand will sterben".Vergrößern des Bildes
Russische Kriegsgefangene in einem ukrainischen Gefängnis: "Niemand will sterben." (Quelle: Anadolu Agency)

Neben kleineren Geländegewinnen macht die Ukraine bei ihrer Gegenoffensive auch Gefangene. Einige von ihnen bereuen, für Russland in den Krieg gezogen zu sein.

Trotz vieler internationaler Vermittlungsversuche sieht es nicht so aus, als würde Russlands Krieg gegen die Ukraine bald enden. Vor etwa zwei Wochen begann die ukrainische Armee mit ihrer lang erwarteten Gegenoffensive. Das Ziel: So viele von russischen Truppen besetzte Gebiete zurückerobern wie möglich.

Laut Beobachtern des Krieges kommt die Ukraine dabei voran und dringt langsam aber stetig ins russisch besetzte Gebiet vor. Allerdings soll die ukrainische Armee noch nicht an den stärksten Verteidigungsstellungen der Russen angekommen sein. Trotzdem gibt es immer wieder Berichte über zurückeroberte Dörfer und Landstriche. Mit den Rückeroberungen wächst auch die Zahl der Kriegsgefangenen – denn nicht alle russischen Besatzer kommen ums Leben oder können sich hinter die besser befestigten Verteidigungslinien zurückziehen, wenn sie ihre Stellungen an die Ukraine verlieren.

Das "Wall Street Journal" hatte die Chance, mit einigen russischen Kriegsgefangenen zu sprechen. Deren Trupp aus etwa 20 Menschen ergab sich nach heftigen Feuergefechten mit der ukrainischen Armee in der Nähe der Kleinstadt Welyka Nowosilka in der Oblast Donezk. Wie denken die Gefangenen über den Krieg und ihre Rolle darin? Wie lief ihre Kapitulation ab?

"Unsere Angst war groß, denn niemand will sterben"

Anatoli kommt aus dem Altai-Gebirge. Es liegt im südlichen Sibirien und grenzt an China und die Mongolei. Seine Einheit habe voller Angst in ihren Verteidigungspositionen auf die ukrainischen Soldaten gewartet. "Alle waren still und fragten sich, von welcher Seite sie wohl vorrücken", erzählte Anatoli dem "Wall Street Journal". "Unsere Angst war groß, denn niemand will sterben. Wir hofften einfach darauf, dass die ukrainische Gegenoffensive nicht kommt."

In Russland habe es viel Propaganda über die Ukraine gegeben, berichtete Anatoli. "Uns wurde gesagt, die Ukrainer seien alle Nazis. Das haben wir überall gehört." Der Soldat sagte, die russische Armee habe ihn ursprünglich als Fahrer und Mechaniker eingesetzt. Im Mai sei er dann allerdings an die Front beordert worden, in eine zwischen Bäumen gelegene Verteidigungsposition nahe Welyka Nowosilka.

In der vergangenen Woche habe es zwei Tage ohne Kampfhandlungen gegeben, erzählte Anatoli dem "Wall Street Journal". "Danach begann ein heftiger Angriff." Der Kampf selbst sei völlig chaotisch gewesen. "Ich habe versucht, den Feind zwischen Artilleriebeschuss und Mörserfeuer im Feld vor uns zu sehen. Aber ich konnte niemanden erspähen."

Nur wenige Minuten später hätten die ukrainischen Truppen seine Position erreicht, sagte Anatoli. Sie hätten Granaten in die Schützengräben geworfen und so seine Kameraden getötet, darunter auch seinen guten Freund Georgi. "Ich lief aus dem Schützengraben und schrie 'Ich ergebe mich, ich ergebe mich!'", erinnerte sich der Soldat.

"Wenn wir uns zurückziehen, erschießen sie uns"

Auch Anton aus St. Petersburg ist unter den Kriegsgefangenen, die das "Wall Street Journal" interviewt hat. Die russische paramilitärische Gruppe "Sturm Z" hatte ihn aus dem Gefängnis heraus für den Krieg rekrutiert. Er habe eine Freiheitsstrafe abgesessen, weil er Drogen verkauft habe, erzählte er. Für sechs Monate Kriegsdienst soll man ihm versprochen haben, ihm seine Strafe zu erlassen.

Schon bald nach seiner Rekrutierung sei ihm allerdings klar geworden, dass sein Leben für die Kommandanten der Armee nichts wert gewesen sei. Seine Einheit, die aus vielen rekrutierten Gefängnisinsassen bestanden habe, durfte sich seinen Angaben zufolge nicht zurückziehen. Hätte er diesen Befehl missachtet, wäre er von den "Zagradotrjad" erschossen worden – so heißen Blocktruppen in der russischen Armee, die den Rückzug ihrer eigenen Einheiten notfalls mit Gewalt verhindern sollen.

In der vergangenen Woche sei er bei Welyka Nowosilka verwundet worden. Geschosse hätten ihn ins Bein und in den Arm getroffen. Daraufhin hätten er und weitere Verwundete den anrückenden ukrainischen Truppen zugerufen, dass sie sich ergeben wollten: "Wenn wir uns zurückziehen, erschießen sie uns", erzählte Anton im Gespräch mit dem "Wall Street Journal".

Angst vor dem Gefangenenaustausch

"Die Moral ist ziemlich niedrig", berichtete auch Dmitri. Er kommt aus dem Fernen Osten, jener Region Russlands, die an den Pazifischen Ozean grenzt. Auf den Kampf seien sie kaum vorbereitet worden: "Wir haben nur ein kurzes Schießtraining und Grundlagen der Ersten Hilfe gelernt", sagte er. Danach sei er abkommandiert worden, um mit seiner Einheit die kleine Siedlung Staromajorske zu verteidigen, die im Süden von Welyka Nowosilka liegt.

Er erzählte laut "Wall Street Journal" mit zitternder Stimme von dem Moment, in dem seine Einheit unter ukrainisches Feuer geraten sei: "Sie beschossen uns mit Panzern, Mörsern und Artillerie." Daraufhin sei er in Panik geraten. Gemeinsam mit einem Kameraden sei er mit erhobenen Händen aus dem Schützengraben getreten und habe sich ergeben.

Angst habe Dmitri vor allem vor einem möglichen Gefangenenaustausch. Er könne sich nicht sicher sein, wie ihn der russische Geheimdienst FSB behandeln werde. "Wenn ich die Möglichkeit dazu habe, will ich ablehnen, ausgetauscht zu werden", sagte er.

Verwendete Quellen
  • wsj.com: "Tattered and Bandaged, Russian POWs Describe Ukraine’s Offensive"
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