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Wende im Ukraine-Krieg? Experte: Durchbruch gegen Russland noch möglich


Experte über ukrainischen Großangriff
"Das ist ein gigantisches militärisches Problem"

  • Daniel Mützel
InterviewVon Daniel Mützel

08.08.2023Lesedauer: 6 Min.
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Ukrainischer Himars-Raketenwerfer bei Donezk: Der Westen erwartete von der Ukraine Erfolge.Vergrößern des Bildes
Ukrainischer Himars-Raketenwerfer bei Donezk: Der Westen erwartete von der Ukraine Erfolge. (Quelle: Global Images Ukraine/Getty Images)

Für Kiew sollte es das "Jahr des Sieges" werden, doch aktuell kann die Ukraine die russischen Verteidigungsanlagen kaum bezwingen. Ist der Durchbruch noch zu schaffen?

Die ukrainische Gegenoffensive kommt neun Wochen nach ihrem Start nur langsam voran. Statt des erhofften Durchbruchs der russischen Linien ist der Krieg an weiten Teilen der Front ein Artillerieduell. Nur hier und da gelingen der ukrainischen Armee lokale Vorstöße, neben erfolgreichen Schlägen gegen russische Nachschubwege. Woran liegt das – und schafft die Ukraine noch die Kriegswende?

Der Sicherheitsexperte Nico Lange über taktische Fehler der ukrainischen Armee, die falsche Erwartungshaltung im Westen – und über eine ukrainische Offensive, die womöglich noch lange nicht vorbei ist.

t-online: Die Gegenoffensive der Ukrainer stockt, seit Juni kam die ukrainische Armee nur wenige Kilometer voran. Rechnen Sie noch mit einem signifikanten Vorstoß?

Nico Lange: Ich glaube, dass ein Durchbruch noch möglich ist. Die Ukraine setzt viele Ressourcen bisher bewusst nicht ein, weil sie sich zuerst mit den riesigen Minenfeldern und der Bekämpfung der russischen Artillerie beschäftigen muss. Es ist richtig, die Offensive geht nur langsam voran, aber sie geht voran.

Kiew kämpft aktuell an drei Achsen: Im Osten bei Bachmut und an der Südfront bei Velyka Nowosilka sowie bei Orichiw. Dort soll offenbar der Hauptschlag erfolgen, um bis zu Melitopol und zum Schwarzen Meer durchzubrechen. Bisher kam man aber erst in die Nähe der ersten Hauptverteidigungslinie der Russen. Hat man sich verkalkuliert?

Ich bin mir nicht sicher, ob Kiew es derzeit auf einen Durchbruch bis zum Schwarzen Meer anlegt oder ob es nicht vielmehr darum geht, die russische Kriegslogistik zu stören. Die Ukraine lässt zu Recht alle im Unklaren darüber, was sie eigentlich vorhat. Was man sagen kann, ist aber, dass die ukrainische Armee einige operative Probleme hat, etwa Angriffe mehrerer größerer Verbände zu koordinieren.

Sie meinen das Gefecht der verbundenen Waffen, das Teil des Nato-Trainings im Frühjahr war.

Richtig, das klappt bei kleineren Einheiten manchmal gut, nicht aber auf der Ebene größerer Verbände. Wir sollten aber mit Ratschlägen von außen vorsichtig sein, da wir mit den militärischen Rahmenbedingungen überhaupt keine Erfahrung haben. Die Front besteht zu großen Teilen aus flachem Gelände, wo der Feind einen schon aus Kilometern Entfernung sieht. Die Ukraine verfügt über keine Luftüberlegenheit, das heißt, ihre Truppen greifen die russischen Verteidigungslinien wie auf dem Präsentierteller an und sind permanent bedroht von Hubschraubern.

Die Ukraine hat jetzt ihre Taktik geändert: Statt mit schweren Brigaden den Durchbruch zu erzwingen, setzt sie nun auf Artillerie und Vorstöße kleinerer Infanteriegruppen. Wie erfolgreich ist das?

Die ukrainische Armee setzte diese Taktik bereits im vergangenen Jahr in der Gegenoffensive von Cherson erfolgreich ein: Sie attackierte zunächst die russischen Nachschub- und Rückzugslinien und verdrängte so die Russen nach und nach aus Cherson. Das dauerte Monate, hatte am Ende aber Erfolg.

Das sehen wir ähnlich jetzt wieder: Die ukrainischen Angriffe auf Eisenbahnlinien und Brücken zielen darauf ab, die russische Versorgungslinien zu durchtrennen. Wenn die russische Logistik empfindlichen Schaden nimmt, werden wir auch wieder größere Vorstöße der Ukrainer sehen. Es dauert eben länger, als man sich das erhofft hat.

Der ukrainische Präsident Selenskyj wirft dem Westen vor, die Panzerlieferungen und damit die ukrainische Gegenoffensive hinausgezögert zu haben. Damit sei den Russen ausreichend Zeit gegeben worden, sich auf den Angriff vorzubereiten. Hat Selenskyj recht?

Der Westen hat definitiv zu lange herumgeeiert. Wir hätten viel früher Kampf- und Schützenpanzer an die Ukraine liefern müssen. Die russische Armee hatte sehr viel Zeit, ihre Verteidigungsanlagen auszubauen und eine schier endlose Zahl an Minen zu verlegen. Die Ukraine selbst und ihre Partner waren auch zu optimistisch in ihrer Einschätzung, wie man die russischen Verteidigungslinien durchbricht. Ich schließe mich da selbst ein. Die gemanagten Minenfelder sind ein gigantisches militärisches Problem, für das Kiew momentan keine ausreichenden Lösungen hat.

Experten hatten schon vor der Offensive öffentlich vermutet, dass die Ukraine versuchen werde, in der besetzten Südukraine zuzuschlagen, um die Landbrücke zur Krim zu durchtrennen. Auch die Russen waren darauf vorbereitet. Hätte man mehr auf Überraschung setzen müssen oder war das gar nicht möglich?

Es war extrem schwierig, Überraschungsmomente zu generieren. Die lange Anlaufzeit der Offensive und das offene Gelände haben das fast unmöglich gemacht. Was nicht jedem eingeleuchtet hat, war, dass die Ukraine gerade dort angreift, wo die stärksten russischen Verteidigungsstellungen sind.

Was wäre eine mögliche Erklärung?

Ich weiß es nicht, vielleicht war aber genau das die Idee: direkt in den Schwerpunkt der russischen Befestigungen zu schlagen. Der ukrainische Generalstab wird seine Gründe gehabt haben.

Kritik hat sich auch daran entzündet, dass die Ukraine relativ unerfahrene Soldaten zum Nato-Training in den Westen geschickt hat, während die kampferprobten Einheiten Bachmut verteidigten. Der US-Militärexperte Michael Kofman weist etwa darauf hin, dass gerade die vom Westen ausgebildeten und ausgerüsteten Einheiten Probleme haben. Hat die Ukraine die falschen Einheiten in den Westen geschickt?

Ich finde, wir sollten mit Hinweisen zu Strategie und Taktik sehr zurückhaltend sein. Gerade weil keine westliche Armee Erfahrung mit dieser Art der Kriegsführung hat. Wir sollten uns eher darauf konzentrieren, wie wir die Ukraine langfristig unterstützen können.

Sicherheitsexperte Nico Lange
Sicherheitsexperte Nico Lange (Quelle: Michael Kuhlmann)

Sicherheitsexperte Nico Lange

Nico Lange ist Senior Fellow der Zeitenwende-Initiative der Münchner Sicherheitskonferenz. Er war 2019–2022 Leiter des Leitungsstabes im Bundesministerium der Verteidigung. Lange lebte und arbeite zuvor lange in der Ukraine und in Russland. Er spricht fließend Ukrainisch und Russisch.

Was kann der Westen tun, um der Ukraine in der aktuellen Kampfphase zu helfen?

Das größte Problem ist, dass die Kapazitäten der Rüstungsindustrie nicht im nötigen Tempo hochgefahren werden. Wir reden nun schon so lange darüber, wie wir die europäische Produktion von Artilleriemunition erhöhen können. Bislang ist viel zu wenig passiert. Man weiß doch, wie viel die Ukraine verschießt, etwa bei der Artilleriemunition im Kaliber 155 Millimeter. Dann müssen aber auch die langfristigen finanziellen Garantien her, um neue Produktionskapazitäten zu schaffen.

Was noch?

Das Gleiche gilt für Lenkflugkörper für die Luftverteidigung. Hier besteht ein riesiger Bedarf, aber es gibt zu wenig Nachschub. Es klingt immer so toll, wenn neue Munition oder Waffen angekündigt werden, aber dann vergeht eine gefühlte Ewigkeit, bis sie tatsächlich ankommen.

Zeit, die die Ukraine nicht hat. Rechnen Sie damit, dass die Bundesregierung der Ukraine am Ende Taurus-Marschflugkörper schickt, wie jetzt von einigen gefordert wird?

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Ich hoffe es. Leider laufen wir immer in dieselben Diskussionsschleifen hinein, in der vor einer russischen Eskalation gewarnt wird, was durch die Realität aber immer wieder widerlegt wurde. Das war bei den Gepards und der Artillerie so, dann bei den Schützen- und Kampfpanzern und ist jetzt bei den Taurus-Marschflugkörpern auch so. Wir könnten viel schneller sein.

Schaut der Westen bloß zu, wie die ukrainische Offensive unter Erwartung läuft, statt alles dafür zu tun, dass sie die Wende noch schafft?

Der Eindruck drängt sich manchmal auf. Die Bundesregierung sollte endlich einen Beauftragten bestimmen, der sich ausschließlich um die Ukraine-Unterstützung kümmert. Wir erleben den größten Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, das ist nicht einfach ein Vorgang unter vielen. Zeit verstreichen lassen heißt für uns in Deutschland, erst mal Sommerpause zu machen und sich dann wieder um schwierige Themen zu kümmern. Für die Ukraine heißt es leider mehr Menschen, die keine Arme oder Beine haben, oder die getötet werden.

Die Offensive läuft für Kiew verlustreich, es gibt viele Tote und Verletzte zu beklagen. Ab wann ist dieser Blutzoll nicht mehr zu rechtfertigen angesichts ein paar Kilometern Geländegewinne?

Die Ukrainer erleben tagtäglich, wie zivile Häuser in Schutt und Asche gelegt und Zivilisten getötet werden. Ob und wie sie ihre Heimat gegen die russischen Angreifer verteidigen will, sollte allein die Ukraine entscheiden. Der Westen sollte seine Unterstützung nicht auf die Hoffnung gründen, dass der Krieg möglichst bald vorbei ist. Mein Eindruck ist eher: Wenn diese Offensive scheitert, wird Kiew die nächste planen. Wir sollten daher ein langfristiges System der militärischen Unterstützung mit industrieller Basis einrichten.

Ende Oktober beginnt die Schlammzeit in der Ukraine, das Kampfgeschehen wird wohl abflauen. Wird der Westen dann Bilanz ziehen – und möglicherweise Kiew zu Verhandlungen drängen?

Das ist schwer vorherzusagen. Die Ukraine wird vermutlich auch im Herbst und Winter weiterkämpfen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir Kiew in einen von den Ukrainern nicht gewollten Waffenstillstand zwingen und schon gar nicht, dass wir eines Tages einfach wegschauen.

Herr Lange, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Nico Lange
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