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Ukraine-Krieg | Experte: "Russland will nicht verhandeln, Putin will siegen"


Krieg in der Ukraine
"Jetzt haben wir den Salat"

Von Patrick Diekmann

22.08.2023Lesedauer: 7 Min.
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Ukrainische Soldaten bei einem Manöver: Nach der Generalmobilmachung kämpfen auch viele Soldaten ohne Erfahrung gegen die russische Invasion.Vergrößern des Bildes
Ukrainische Soldaten bei einem Manöver: Nach der Generalmobilmachung kämpfen auch viele Soldaten ohne Erfahrung gegen die russische Invasion. (Quelle: GLEB GARANICH/imago images)

Die Ukraine schafft es bei ihrer Gegenoffensive nicht, größere Teile ihres Landes zu befreien. Ist der Angriff schon gescheitert? Ein Überblick.

Es geht kaum voran für die ukrainische Armee. Bislang ist es der Ukraine nicht gelungen, bei ihrer Gegenoffensive weiteres Staatsgebiet von russischen Truppen zu befreien. Die Unruhe darüber in Kiew und im Westen wächst. Die Rufe nach Verhandlungen werden wieder lauter. Aber ist das überhaupt sinnvoll? Selbst wenn die Ukraine wollte – wäre Putin bereit zu verhandeln?

Der Militär- und Russland-Experte Gustav Gressel erklärt, welche Fehler die Ukraine zuletzt begangen hat und welche Schlüsse Kremlchef Wladimir Putin wohl aus den vergangenen Monaten ziehen dürfte.

t-online: Herr Gressel, bislang konnte die Ukraine in diesem Sommer nur geringe Teile ihres Staatsgebietes befreien. Ist die ukrainische Gegenoffensive gescheitert?

Gustav Gressel: Gescheitert ist sie erst dann, wenn die Ukraine sie abbläst oder die Offensive einfach ohne große Ankündigung eingestellt wird. Aber es stimmt: Es ist zunehmend fraglich, ob die Ukraine ihre operativen Ziele noch erreichen kann.

Das klingt so, als sähen Sie immerhin eine theoretische Chance, dass der ukrainischen Armee bei dieser Offensive doch noch ein Durchbruch gelingen könnte.

Zumindest teile ich nicht den Pessimismus, der aktuell verbreitet wird. Es gibt noch Chancen, dass die Ukraine größere Teile ihres Staatsgebiets befreien kann. Doch dabei gibt es auch viele Unwägbarkeiten, die wir nur schwer einschätzen können, weil wir die genauen Zahlen nicht kennen. Wie groß sind die ukrainischen Verluste, welche Reserven an Personal und Material hat sie? Die Russen versuchen wiederum, erneut in die Offensive zu kommen. Es wird auch davon abhängen, ob es der Ukraine gelingt, die enorm lange Front über den Winter zu managen.

Gustav Gressel

ist als Senior Policy Fellow bei der politischen Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) tätig. Er beschäftigt sich in seiner Forschung schwerpunktmäßig mit den militärischen Strukturen in Osteuropa und insbesondere mit den russischen Streitkräften.

Aber könnte es sich Präsident Wolodymyr Selenskyj politisch leisten, die Gegenoffensive einfach abzublasen?

Davon gehe ich aus. Zumindest die Gegenoffensive in diesem Jahr, denn wir werden in der Ukraine wahrscheinlich einen langen Krieg erleben. Für die Ukraine geht es auch darum, die richtigen Lehren aus den vergangenen Monaten zu ziehen. Für das nächste Jahr könnten sie eine nächste Offensive dann anders vorbereiten.

Was wäre dann wichtig?

Kriege sind ein ständiger Lernprozess. Die Russen haben gelernt, wie man gut verteidigt. Auch weil die russische Armee miterlebt hat, wie ihre Winteroffensive gescheitert ist. Das gilt nun auch für die Ukraine, aber an dem Punkt sind wir aktuell noch nicht. Die Ukraine wird in den kommenden Wochen weiter versuchen, näher an die russischen Verteidigungslinien zu kommen und sie zu durchbrechen. Wenn das gelingt, ließen sich für Kiew natürlich auch praktische Lehren für weitere Durchbrüche ziehen.

Welche Fehler hat die Ukraine bei dieser Gegenoffensive gemacht?

Einerseits kann ich nicht verstehen, warum die ukrainische Armee auch an Stellen der Front Schwerpunkte ihrer Angriffe gesetzt hat, an denen die russische Verteidigung sehr dicht gestaffelt ist. Andere Schwächen sind eine Folge des Krieges: Die ukrainische Armee ist seit Beginn der russischen Invasion extrem gewachsen. Unter den Soldaten sind auch viele ohne militärische Erfahrung und erfahrene Ausbilder sind teilweise in Kampfeinsätze gegangen und gefallen. Das macht es schwierig, die Qualität der Einheiten hochzuhalten. Hinzu kommt, dass die Ukraine das moderne Kriegsgerät aus dem Westen auch neu aufgestellten Einheiten gegeben hat. Die Lernkurve war einfach zu steil und die Folge war taktisches Fehlverhalten.

Sie haben am Anfang schon den Pessimismus in Bezug auf die ukrainische Gegenoffensive angesprochen. Verliert der Westen langsam die Nerven?

Die Lage ist natürlich etwas angespannt, besonders auch für mich und meine Kollegen, die sehr stark für Leopard-Lieferungen lobbyiert haben. Denn die Wirkung auf den Krieg ist bislang relativ gering und das nutzen Kritiker, um zu sagen, dass wir Blödsinn gefordert haben.

War es denn Blödsinn?

Nein. Was wäre denn die Alternative gewesen? Die Ukraine wird von Russland angegriffen und erleidet auch hohe Verluste. Deshalb braucht sie eine Panzerwaffe und die Reserven an altem sowjetischem Gerät aus Europa sind bald erschöpft. Und genau hier liegt das Problem: Die Nato ist bei der Beschaffung von Großgerät ziemlich langsam, die Beschaffung von Munition ist bei Systemen östlicher Bauart prekär. Deshalb muss sich der Westen besser heute als morgen Gedanken machen, wie er Produktion und Beschaffung organisieren kann, wenn der Krieg noch länger geht. Die Leopard 1, die Deutschland nun liefert, sind eher ein Lückenfüller.

Geht dem Westen vielleicht die Luft aus?

Zumindest gehen viele westliche Staaten scheinbar davon aus, dass der Krieg bald vorbei sein wird. Aber das ist ein Fehler. Bundeskanzler Olaf Scholz sagt selbst, dass Wladimir Putin einsehen müsse, dass dieser Krieg zu nichts führe. Das ist die typische Einstellung, die im Westen vorherrscht: Die militärischen Anstrengungen dienen dazu, eine bessere Verhandlungsposition mit Russland zu erreichen. Das ist eine fundamentale Fehleinschätzung, die dazu geführt hat, dass die Ukraine nicht schneller bewaffnet wurde und nicht schon eher spürbare Erfolge auf dem Schlachtfeld haben konnte. Jetzt haben wir den Salat und der Salat wird mit jedem Tag größer, an dem wir nichts tun.

Nun könnte aber auch der Druck auf Kiew größer werden, mit Putin zu verhandeln.

Worüber soll denn verhandelt werden und mit wem? Russland will nicht verhandeln, Putin will siegen. Er würde Selenskyj sagen, dass sich die ukrainische Armee bedingungslos ergeben muss. Russland würde das Land besetzen und die ukrainische Führung müsste außer Landes fliehen. Putin würde die Hälfte des Landes annektieren und der Rest würde zu einem Marionettenstaat werden. Es ist doch völliger Blödsinn anzunehmen, dass man Selenskyj in dieser Lage zu Verhandlungen zwingen könnte. Putin will siegen und wenn der Westen so weitermacht, kann es durchaus sein, dass es ihm auch gelingt.

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Fühlt sich Putin nach dem gegenwärtigen Verlauf der ukrainischen Gegenoffensive gestärkt?

Wahrscheinlich schon. Putin ordnet erneut eigene Offensiven in der Ukraine an. Das zeigt zumindest, dass er sich sicher zu fühlen scheint. Solange die ukrainische Gegenoffensive keinen Durchbruch erzielen kann, muss die russische Führung nichts ändern und wird sich darin bestärkt fühlen, den Krieg fortzusetzen. Russland hat seine Wirtschaft mehr schlecht als recht auf Kriegswirtschaft umgestellt und geht davon aus, dass seine Rüstungsindustrie perspektivisch mehr produzieren kann als die westliche. Putins Armee hat auch große Probleme, aber das ändert nichts an einer Tatsache: Wenn der Westen seine Produktion wiederum nicht hochfährt, wird es ganz bitter. Raketen und Granaten wachsen nicht auf Bäumen. Leider.

Dementsprechend wird Putin die aktuellen Debatten im Westen wahrscheinlich mit Genugtuung sehen?

Genau. Putin wird wahrscheinlich – ähnlich wie wir im Westen – Szenarien für den weiteren Kriegsverlauf entwickeln. Er wird davon ausgehen, dass Russland diesen Krieg gewinnt, wenn es so weiterläuft. Aber das kann jederzeit ins Gegenteil umschlagen: Auch im Westen gab es Generäle, die gesagt haben, dass die Krim in diesem Jahr befreit werden würde. Und jetzt ist der Katzenjammer groß, weil sich die Lage wieder geändert hat. Es hat nicht funktioniert, weil Putin Gegenmaßnahmen ergriffen hat und nun liegt der Ball wieder im Spielfeld der Ukraine und ihrer westlichen Partner.

Das bedeutet?

Putins Vorhersagen müssen nicht eintreffen, aber wir müssen etwas dafür tun. Von allein kommt der Sieg nicht. Wir sind noch immer vom Ende des Kalten Krieges verwöhnt, da sich ja unser größtes Sicherheitsproblem von selbst aufgelöst hat. Dabei scheinen wir zu glauben, dass sich die Geschichte gefälligst zu wiederholen habe, weil wir die Guten sind. Aber das tut sie nicht.

Ein erster Schritt in diese Richtung wäre vielleicht die Lieferung von westlichen Kampfjets: Die Ukraine soll nun F-16 bekommen. Wie wichtig ist das für die ukrainische Verteidigung?

Die F-16 werden der Ukraine mittelfristig weiterhelfen, aber sie sind auch kein Gamechanger. Schon jetzt wird die ukrainische Luftwaffe oft zu Einsätzen gegen iranischen Drohnen oder anfliegende Marschflugkörper gerufen, denn für einen flächendeckenden Schutz hat die Ukraine viel zu wenig Flugabwehrsysteme – deswegen ist sie auf Jagdflugzeuge angewiesen.

Die Kampfflugzeuge sind demnach eher ein Waffensystem für die Defensive?

Kiew braucht die F-16 primär, um eigene Gebiete gegen russische Kampfflugzeuge, Drohnen oder Hubschrauber zu verteidigen. Wenn die ukrainische Luftwaffe eine Bedrohung für Russlands Kampfflugzeuge darstellt, dann kann die russische Luftwaffe nicht frei in den ukrainischen Luftraum eindringen und einfach ihre Bomben über ukrainische Städte abwerfen. Deshalb sind die F-16 für die Ukraine ein wichtiges Werkzeug.

Trotzdem behält Russland aber die Luftüberlegenheit?

Putins Luftwaffe war zu Kriegsbeginn schlecht auf einen langen Krieg eingestellt. Deshalb haben die Russen ihre Luftüberlegenheit nicht konsequent genutzt. Nun geht Russland dagegen sehr vorsichtig mit seiner Luftwaffe vor, weil die Produktionszahlen von russischen Kampfflugzeugen relativ gering sind. Deshalb kommt nicht zur Geltung, dass die ukrainische Luftwaffe haushoch unterlegen ist.

In Summe: Welche Perspektive sehen Sie für die Ukraine im Krieg gegen die russische Invasion? Immerhin sind im kommenden Jahr US-Präsidentschaftswahlen und das könnte die westliche Unterstützung für Kiew weiter schwächen.

US-Präsident Joe Biden war in diesem Konflikt schon immer sehr zurückhaltend. Das ist ein Problem, weil auch Länder wie Deutschland eigentlich im Fahrwasser der Amerikaner schwimmen möchten. Biden möchte einen Waffenstillstand, weil er das russisch-amerikanische Verhältnis und die nukleare Abschreckung im Blick hat. Er hat Angst davor, dass Putin nuklear eskaliert, aber ich halte diese Bedenken für daneben.

Und Deutschland?

Europa muss sich in diesem Konflikt mehr engagieren, denn es geht um unseren Kontinent. Ich werfe Scholz nicht vor, dass er nicht den Enthusiasmus von Polen teilt, Putin niederzuringen. Aber wir müssen uns die Frage stellen, wie wir mit einem siegreichen Russland zusammenleben wollen, das die Ukraine unterjocht hat. Da reicht es nicht, sich hinter den USA zu verstecken. Bis eine Antwort gefunden wurde, sollte der Kanzler Europa vorerst aus seinen Sonntagsreden herausstreichen. So ehrlich sollte man sein.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Gressel.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Gustav Gressel
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