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Putins Rache? Wagner-Boss Prigoschin hatte wohl keine Chance


Putins Rache
Prigoschin hatte wohl keine Chance


Aktualisiert am 28.08.2023Lesedauer: 7 Min.
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Putin im russischen Fernsehen: So äußert er sich zum Flugzeugabsturz. (Quelle: reuters)

Jewgeni Prigoschins mutmaßlicher Tod kam für Beobachter nicht überraschend. Viel spricht dafür, dass Machthaber Putin ihn minutiös vorbereitete.

Als es passierte, saß Wladimir Putin nicht einsam in seinem Büro. Er legte nicht die Fingerspitzen aneinander und schaute mit unbewegter Miene in das Halbdunkel seines Arbeitszimmers wie Don Vito Corleone im Mafia-Klassiker "Der Pate". Als das Flugzeug von Jewgeni Prigoschin am Donnerstag um 18.11 Uhr Ortszeit auf halbem Weg von Moskau nach St. Petersburg vom Himmel fiel, befand Putin sich in Ponyri bei einer Gedenkfeier.

Anlässlich des 80. Jahrestages der Panzerschlacht von Kursk, einer der größten Schlachten des Zweiten Weltkriegs, zeichnete Russlands Präsident dort Soldaten der regulären russischen Armee aus, die in der Ukraine gekämpft haben. In jenem brutalen Angriffskrieg also, den Putin anderthalb Jahre zuvor vom Zaun gebrochen hatte.

Der russische Diktator liebt historische Daten. Und so hätte der Tod Prigoschins, der laut Passagierliste zusammen mit neun anderen Wagner-Kommandanten an Bord der nahe der Ortschaft Twer zerschellten Privatmaschine war, für Putin kaum auf einen besseren Tag treffen können. Denn genau zwei Monate zuvor hatte der Wagner-Aufstand begonnen.

Bislang ist nicht letztgültig geklärt, wer hinter dem Absturz der Prigoschin-Maschine steckt. Es gibt Indizien, keine Beweise. Der Kreml hat eine Untersuchungskommission gegründet und Experten zum Absturzort geschickt. Sollte es sich um ein vom russischen Regime orchestriertes Attentat handeln, wird aber nur schwer zu beweisen sein, wer es in Auftrag gab. Klar ist nur das, was US-Präsident Joe Biden sagte, nachdem er von dem Absturz erfuhr: "In Russland geschieht kaum etwas, hinter dem nicht Putin steckt."

Im Rückblick auf die Ereignisse der vergangenen Monate erscheint der mutmaßliche Tod Prigoschins an diesem 23. August fast schon zwangsläufig. t-online dokumentiert daher die Vorgänge, die hinter den Mauern des Kremls in jener Zeit stattgefunden haben – unter Berufung auf die Berichte zahlreicher Politbeobachter, Geheimdienstexperten, russischer Militärblogger und vor allem den Analysten der US-Denkfabrik ISW.

  • 24. Juni: Putin schwört Rache

Einen Tag nach dem Beginn des Aufstands, nachdem klar ist, dass die Wagner-Söldner aufgeben und ihre Meuterei abblasen, schwört der Kremlchef bereits Rache. Er nennt Jewgeni Prigoschin zwar nicht öffentlich beim Namen, spricht aber recht unzweideutig von "Verrat", der im Zuge des Aufstands begangen worden sei. Wer vom russischen Zaren als Verräter gebrandmarkt wird, der hat meist nicht mehr lange zu leben. Putin muss durch den Putschversuch einen erheblichen Gesichtsverlust innerhalb des Militärs, aber auch bei der Bevölkerung befürchten. Es wird erwartet, dass der Diktator hart durchgreift.

Doch erst einmal passiert nichts. Stattdessen entscheidet sich Putin offenbar gegen überhastete Maßnahmen. Prigoschin verschwindet mutmaßlich im Nachbarland Belarus. Die Propagandamaschinerie des Kreml wendet in sich in den Tagen danach eindeutig gegen den "Kriminellen" und "Verräter" Prigoschin.

  • 1. Juli: Nicht länger "Putins Koch"

Der Kreml streicht der Wagner-Gruppe offenbar die Finanzierung und gibt wenige Tage nach dem gescheiterten Putschversuch bekannt, dass er auch sämtliche Cateringaufträge für die von Prigoschin geleiteten Unternehmen zurückzieht. Somit versiegt eine der wichtigsten und einträglichsten Einnahmequellen, nämlich die von Putin selbst genehmigten Staatsaufträge. Mit diesen war Prigoschin Anfang der 2000er-Jahre zu großem Reichtum gekommen, sie begründeten seinen Ruf als mächtiger Unternehmer und brachten ihm mutmaßlich ein Vermögen ein.

Durch die Cateringaufträge erwarb Prigoschin sich auch den Beinamen "Putins Koch". In jener Zeit hielt sich der ehemalige Kleinkriminelle, der in der Sowjetunion wegen diverser Verbrechen neun Jahre in Haft saß, im Hintergrund. Es existieren nur wenige Bilder aus der Zeit von Prigoschins sagenhaftem Aufstieg als Günstling Putins. Eine Aufnahme zeigt ihn bei einem Staatsbankett mit George W. Bush 2006 in St. Petersburg. Darauf ist zu sehen, wie Prigoschin dem russischen Machthaber das Menü serviert.

Der einstige Hotdog-Verkäufer Prigoschin ist zu diesem Zeitpunkt bereits einflussreich. Als Gastronom hat er es ins Zentrum der Macht geschafft. Dennoch dürfte ihm das Bild missfallen haben. Er selbst sagte einmal, dass er sich einen anderen Spitznamen gewünscht hätte: Putins Schlachter.

  • 6. Juli: Die Schmutzkampagne

Russische Sicherheitskräfte stürmen Prigoschins Villa in der Nähe von St. Petersburg. Anschließend gehen Fotos des Oligarchen um die Welt, die ihn in bizarrer Maskerade zeigen. Mit Perücken, schrägen Brillen und lächerlichen Kopfbedeckungen. Eine absurde Travestieshow, mutmaßlich von der russischen Staatspropaganda lanciert.

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Die Echtheit der Bilder konnte nicht geklärt werden, ihre Wirkung war jedoch unzweideutig: Prigoschin sollte diskreditiert, sein Ruf als harter Söldnerführer vernichtet werden. Genauso hatte es Prigoschin mitmilfe seiner zahlreichen Trollfabriken selbst stets gehandhabt, wenn es im Auftrag des Kremls darum ging, die Widersacher des Putin-Regimes bloßzustellen.

  • 14. Juli: Ein vielsagender Satz

Der Kreml bestätigt an diesem Tag, was Insider schon von den Dächern gepfiffen hatten. Machthaber Putin traf sich am 29. Juni, fünf Tage nach dem gescheiterten Putsch, mit Prigoschin und 35 Kommandanten der Gruppe Wagner zu einem dreistündigen Gespräch im Kreml. Wie die russische Zeitung "Kommersant" berichtet, soll Putin den Wagner-Kommandeuren angeboten haben, unter neuer Führung weiterzuarbeiten.

Offenbar hätten einige der Kommandeure das Angebot durchaus annehmen wollen und ihre Zustimmung durch Kopfnicken signalisiert. Doch Wagner-Boss Prigoschin soll anderer Meinung gewesen sein. "Nein, die Jungs, sind mit dieser Entscheidung nicht einverstanden", soll der 62-Jährige gegenüber dem Kremlchef gesagt haben.

Daraufhin wird von Putin folgender Satz überliefert: "Nun, dann existiert die Wagner-Gruppe nicht mehr."

  • 27. Juli: Erstes Lebenszeichen von Prigoschin

Jewgeni Prigoschin selbst ist nach dem Aufstand am 23. Juni weitgehend abgetaucht. Fortan unsichtbar zu bleiben, gilt wohl als Teil des Deals zwischen Putin, dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko und der Wagner-Gruppe.

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Zum Erstaunen vieler Beobachter taucht Prigoschin dann aber Anfang Juli beim Afrika-Russland-Gipfel in St. Petersburg auf, wo er sich mit Freddy Mapouka, einem Botschafter der Zentralafrikanischen Republik und Protokollchef des Präsidenten Faustin-Archange Touadéra, zeigt. Politische Beobachter werten das als Zeichen dafür, dass Prigoschin vielleicht doch eine Zukunft im System Putin haben könnte: als Strohmann auf dem afrikanischen Kontinent. Die Kontakte des Wagner-Chefs zu afrikanischen Putschisten und Warlords sind wertvoll. Prigoschin glaubt wohl, dass sie ihn vor der Rache des Kremls schützen könnten.

Zugleich fürchten er und ein Teil der Wagner-Führung die endgültige Entmachtung durch die russische Militärführung. Diese gewinnt seit Anfang Juli bereits eine neue Dynamik. Spätestens ab diesem Zeitpunkt werden einige hochrangige russische Kommandeure kaltgestellt, die mutmaßlich vom Wagner-Putsch gewusst haben sollen, darunter auch der bei den Soldaten beliebte General Sergej Surowikin.

Im Verlauf des Juli versucht das russische Verteidigungsministerium unter Sergej Schoigu immer nachdrücklicher, einen Großteil der Wagner-Söldner von einem Eintritt in die regulären russischen Streitkräfte zu überzeugen. Laut russischen Militärbloggern jedoch ohne durchschlagenden Erfolg. Parallel dazu beginnt der Kreml damit, eigene Söldnergruppen aufzubauen, die insgesamt bis zu 20.000 Mann umfassen sollen, darunter etwa das "Russische Expeditionskorps". Die Gruppen sollen so bald wie möglich ausgebildet werdend, um die Rolle Wagners in Afrika einnehmen und diese ersetzen zu können.

  • 19. August: Putin besucht Rostow am Don

An diesem Tag verlässt Putin Moskau, um einen Ort von besonderer Bedeutung aufzusuchen. In Rostow am Don trifft er sich mit dem Oberkommando der russischen Streitkräfte für den Ukraine-Krieg, darunter den ebenfalls stark in der Kritik stehenden General Waleri Gerassimow.

In den vergangenen 18 Monaten hat sich Putin selten an jenen Orten gezeigt, die in direktem Bezug zum Ukraine-Krieg stehen. Nun tut er es. Denn in Rostow am Don nahm Ende Juni die Wagner-Meuterei ihren Ausgang, von hier zogen Prigoschins Männer los, um Putin zur Entlassung der Militärführung zu bewegen, namentlich Schoigu und Gerassimow. Dass der Diktator sich nun mit eben jenem Gerassimow zeigt, wird von Beobachtern als eindeutiges Signal an dessen Kritiker gewertet: Der Kreml hält zu seinen Generälen.

Den Wagner-Kommandeuren dürfte damit einmal mehr klar sein, dass ihre Zukunft am seidenen Faden hängt.

  • 21. August: Der letzte Auftritt Prigoschins

Ein Video von Prigoschin taucht auf. Es zeigt den Söldnerführer in Afrika. Militärblogger verorten ihn in Mali, wo Wagner beste Kontakte zur Militärjunta unterhält. Prigoschin spricht in dem Video davon, die Werte Russlands verteidigen zu wollen, auch wirbt er um neue Soldaten. Im Ton gibt er sich wesentlich demütiger als noch in früheren Videos. Fast schon geläutert. Bietet sich Prigoschin hier etwa als willfähriger Emissär des Kremls in Afrika an, als treuer Diener Putins?

Für Putin könnte der Auftritt etwas anderes gezeigt haben: Prigoschin pocht weiterhin auf seine Eigenständigkeit und sucht in Afrika nach neuen Söldnern und mutmaßlich auch neuen, vom Kreml unabhängigen Einnahmequellen. Das Rekrutierungsvideo dürfte Prigoschins letzter Sargnagel gewesen sein. Mit dem Auftritt signalisiert der Wagner-Boss, dass er und ein Teil seiner Führungsebene nach wie vor nicht daran denken, sich der regulären Armee unterzuordnen.

Zugleich berichten einige russische Militärblogger von ersten Anzeichen schwindender Loyalität innerhalb der Wagner-Gruppe. Offenbar ist ein Teil der Söldner durchaus bereit, die Seiten zu wechseln, sollte ihnen die russische Führung entsprechende Einsätze zu lukrativen Konditionen anbieten. Putin glaubt wohl, dass er nun einen Keil zwischen Prigoschin und seine Privatarmee getrieben hat, der groß genug ist, um zum finalen Schlag auszuholen.

  • 23. August: Die Vergeltung

Offenbar fühlt sich Prigoschin sehr sicher. Monatelang war er unbehelligt geblieben, also kommt er aus Afrika zurück nach Russland und besteigt in Moskau seinen Privatjet. Er ahnt wohl nicht, dass er in eine Falle tappen könnte. Dass Putins Rache ihn genau zwei Monate nach dem Putschversuch doch noch trifft.

Video | Söldnerchef Prigoschin offenbar bei Flugzeugabsturz getötet
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Quelle: reuters

Die Art und Weise der mutmaßlichen Bestrafung Prigoschins, der Abschuss oder die Sprengung von dessen Privatmaschine in der Luft, ist hier ebenfalls von Bedeutung: Bei dem Aufstand vom 23. Juni kamen 13 russische Soldaten ums Leben, als Wagner-Söldner deren Hubschrauber vom Himmel holten. Es war der tödlichste Tag für die russischen Luftstreitkräfte seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs. Eine Demütigung für Putin und seine Generäle, denn dieser Verlust geschah nicht durch den Feind, sondern durch russische Söldner.

Noch eine weitere, nicht zu unterschätzende historische Referenz könnte der Todestag Prigoschins haben: Es ist der Vorabend des 24. August. An diesem Tag feiert die Ukraine ihre Unabhängigkeit und angesichts des mutmaßlichen Attentats auf den Söldner-Boss Prigoschin wurden die Feierlichkeiten in der Ukraine und das Gedenken an die unzähligen Opfer dieses Krieges von der Meldung aus Russland in den Hintergrund gedrängt.

Wenn es, wovon die meisten westlichen Analysten und auch die US-Regierung ausgehen, ein staatlicher Auftragsmord war, dann folgt er einem bekannten Muster. Denn bislang ließ Putin noch keinen seiner Widersacher ungeschoren davonkommen. Oder wie es CIA-Direktor William Burns kürzlich sagte: "Putin ist der ultimative Jünger der Vergeltung."

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes war davon die Rede, dass Prigoschin sich auf dem Afrika-Gipfel mit einem Botschafter der Zentralafrikanischen Republik traf. Bei dem Emissär handelte es sich um den Protokollchef des zentralafrikanischen Präsidenten. Zudem nannte Putin Prigoschin in seiner Rede vom 26. Juni nicht explizit beim Namen, als er vom "Verrat" sprach. Die beiden Stellen wurden dahingehend überarbeitet.

Verwendete Quellen
  • nytimes.com: "Inside Yevgeny Prigozhin’s Money-Making Machine" (englisch)
  • telegraph.co.uk: "Putin's chef no longer - Kremlin cuts ties with mutinous Wagner chief's catering company" (englisch, kostenpflichtig)
  • bbc.com.com: "Prigozhin: Wagner boss spotted in Russia during Africa summit" (englisch)
  • ft.com "Wagner boss Prigozhin appears on sidelines of Russia-Africa summit in St Petersburg" (englisch, kostenpflichtig)
  • npr.org: "CIA Director William Burns: Putin is 'the apostle of payback'" (englisch)
  • ntv.de: "Prigoschin lässt sich am Rand von Afrika-Gipfel blicken"
  • bbc.com: "Putin slams ‘traitors’ as Prigozhin claims mercenary rebellion was only a ‘protest’" (englisch)
  • politico.eu: "Putin’s media machine turns on ‘traitor’ Prigozhin" (englisch)
  • sbs.com.au: "Russian media shows Wagner boss Yevgeny Prigozhin's home after purported raid" (englisch)
  • understandingwar.org: "Russian Offensive Campaign Assessment, August 23, 2023" (englisch)
  • newyorker.com: "Inside the Wagner Group’s Armed Uprising" (englisch)
  • washingtonpost.com: "Putin rules by showing strength. Russia’s crisis exposed his weakness." (englisch)
  • atlanticcouncil.org: "Experts react: What Russia’s Wagner Group rebellion means for Putin, Ukraine, China, and more" (englisch)
  • foreignpolicy.com: "Putin’s Armor Has Been Pierced" (englisch)
  • politico.eu: "Putin says ‘Wagner does not exist’ after meeting Prigozhin" (englisch)
  • Catherine Belton: "Putin's People: How the KGB Took Back Russia and then Took on the West", Buch, 2020
  • en.kremlin.ru: "Celebrating the 80th anniversary of victory in the Battle of Kursk" (englisch)
  • thehill.com: "Biden suggests Putin could be behind Russian plane crash" (englisch)
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