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Ukraine-Krieg: Was passiert, wenn Russland am Ende gewinnt?


Was, wenn Russland den Krieg gewinnt?
Der große Putin-Schock

MeinungVon Patrick Diekmann

Aktualisiert am 21.11.2023Lesedauer: 7 Min.
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Wladimir Putin: Der russische Präsident hält an seinen Kriegszielen in der Ukraine fest.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Der russische Präsident hält an seinen Kriegszielen in der Ukraine fest. (Quelle: Alexei Nikolsky/rtr)

Im langen Abnutzungskrieg gegen Russland ist die Ukraine von westlichen Waffenlieferungen abhängig. Aber der Westen zögert. Dabei wäre es auch für Deutschland fatal, wenn Wladimir Putin seinen Krieg gewinnt.

Es wird weiter erbittert gekämpft, die Verluste auf beiden Seiten sind hoch – und trotzdem bewegt sich an den Fronten im Ukraine-Krieg nicht viel. Deswegen fühlen sich im Westen die Kriegsbeobachter gestärkt, die den Konflikt in einer Pattsituation wähnen und Verhandlungen mit Russland fordern. Aber das ist lediglich eine Scheindebatte.

Denn Kreml-Chef Wladimir Putin möchte nicht verhandeln. Er geht davon aus, dass Russland über mehr Ressourcen, über mehr potenzielle Soldaten und im Zweifel auch über eine größere Entschlossenheit verfügt als die westlichen Unterstützer der Ukraine. Die Folge: Putin spielt auf Zeit, wartet auf eine Schwäche des Westens, die spätestens im Zuge der US-Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr auch eintreten könnte. Die Lage ist aktuell ernster, als es viele Beobachter im Westen zu sehen scheinen.

Deswegen richten viele Experten in Deutschland derzeit einen Weckruf an die Bevölkerung. "Wenn man von einem langen Krieg spricht, werden die Produktionskapazitäten der Industrie immer wichtiger", sagte etwa der Politikwissenschaftler und Militärexperte Nico Lange am Dienstag im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. "Putin hat ein hohes Budget bereitgestellt und er hat die Industrie auf einen langen Krieg ausgerichtet." Die Frage sei nun: "Sind wir in der Lage, mit Industrieproduktion die Ukraine so zu unterstützen, dass man der Ukraine eine Überlegenheit geben kann?"

Auch Länder wie Deutschland haben mit der militärischen Unterstützung der Ukraine oft gezögert. Unklar ist, welche Ziele die Bundesregierung überhaupt im Angesicht des russischen Angriffskrieges verfolgt. Fest steht nur: Die Strategie "Wir werden die Ukraine unterstützen, solange das dauert" – wie es Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) oder Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) oft formulierten – wird nicht ausreichen, um einen längerfristigen Plan zu formulieren. Aber den bräuchte es.

Ein Sieg Putins wäre dabei nicht nur für die Ukraine eine Katastrophe. Es würde die europäische Sicherheitsarchitektur komplett aus den Angeln heben – mit Konsequenzen auch für Deutschland. Die Ukraine kämpft auch für den Westen um dessen Unabhängigkeit.

"Dies ist kein territorialer Konflikt"

Das wird zunächst mit einem Blick auf Russland deutlich. Im Westen scheint es verbreitet noch immer die Hoffnung zu geben, dass alles irgendwann wieder so wird, wie es mal war. Wie zwei Freunde, die sich erst bitter zerstritten, aber wieder zusammengefunden haben. Irgendwann – das ist auch die Hoffnung in Teilen der deutschen Bevölkerung – wird der Krieg in der Ukraine vergessen sein. Irgendwann werden wieder billige russische Rohstoffe nach Deutschland fließen, schließlich könne man Sicherheit nicht ohne Russland denken.

Letzteres stimmt zwar, aber die gegenwärtige Realität ist, dass auch Deutschland sich mittelfristig Gedanken um seinen Schutz vor Russland machen muss.

Für einige Menschen in Europa ist diese Bedrohungslage neu, andere möchten vielleicht unbedingt verhindern, dass das Gespenst des Kalten Krieges zurückkommt. Aber wer noch immer die Augen davor verschließt, der muss sich lediglich die Grundsatzreden von Wladimir Putin anhören, der persönlich zum Kronzeugen für diese neue Realität wird.

Zuletzt hielt der russische Präsident am 6. Oktober beim 20. Treffen des Waldai-Diskussionsklubs in Sotschi eine lange Rede, in der er sein Weltbild skizzierte. "Unser Ziel ist im Grunde der Aufbau einer neuen Welt", sagte Putin dort. "Dies ist kein territorialer Konflikt und kein Versuch, ein regionales geopolitisches Gleichgewicht herzustellen. Es geht um eine viel umfassendere und grundlegendere Frage, nämlich um die Prinzipien, die der neuen internationalen Ordnung zugrunde liegen." Kurz gesagt bedeutet das: Putin will mehr als die Ukraine.

Putin sieht sich im Krieg mit dem Westen

Die Rede macht deutlich, dass Putin alle Brücken zum Westen abgebrannt hat und dass er Russland in einem Stellvertreterkrieg gegen den Westen um eine neue multipolare Weltordnung sieht. Die Europäische Union, die USA und auch Deutschland sind in Putins Augen schon Kriegsparteien – wenngleich nicht in einem direkten militärischen Konflikt.

Der Kreml-Chef nutzt dieses Narrativ vor allem, um innenpolitisch das Scheitern der russischen Armee in der Ukraine zu erklären. Plötzlich geht es aus russischer Perspektive nicht mehr gegen ein faschistisches Regime in der Ukraine, sondern gegen den kollektiven Westen. Putin hat diese Bombe bereits gezündet – und er kommt aus diesem Szenario nicht mehr so einfach heraus. Ihm steht das Wasser bis zum Hals – aus unterschiedlichen Gründen.

Aber eben das macht die russische Führung mit ihrem Feindbild – dem Westen – auch unberechenbar und gefährlich. Es gibt auch in Deutschland Stimmen wie etwa von Sahra Wagenknecht (parteilos), die mit einem Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine das Blutvergießen beenden möchten. Aber stimmt das überhaupt – in Anbetracht dieses ideologischen Kampfes, in dem sich Putin sieht? Was wären die Folgen, wenn Russland diesen Krieg gewinnt? Ein Überblick:

Ukraine

Unter den unmittelbaren Folgen eines russischen Krieges müsste natürlich die Ukraine leiden. Dabei kommt es darauf an, wie ein russischer Sieg zu definieren ist. Russland könnte seine aktuellen Gebietsgewinne festigen, noch weitere Teile der Ukraine erobern oder das Nachbarland komplett vom Schwarzen Meer abschneiden. All das ist durchaus denkbar, vor allem wenn die westliche Unterstützung für die Ukraine nachlässt.

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Doch auch dann würden wahrscheinlich viele Ukrainerinnen und Ukrainer weiterkämpfen. Es könnte zu Anschlägen kommen und Protesten, viele würden als Partisanen aus dem Untergrund gegen die russischen Besatzer agieren. Die russische Führung würde darauf wahrscheinlich – wie einst die Sowjetunion im Baltikum – mit Deportationen und Hinrichtungen reagieren. Kurz gesagt: Das Blutvergießen wäre nicht vorbei.

Die Ukraine droht in jedem Fall zu einem andauernden Krisenherd in Europa zu werden. Es ist auch keineswegs gesichert, dass sie wirtschaftlich überleben kann. Sollte Russland die Ukraine vom Schwarzen Meer abschneiden, droht dem Land gar der wirtschaftliche Kollaps. Es ist auch völlig unklar, wie die Machtverhältnisse in Kiew nach einer Niederlage aussehen könnten.

Europa und die Nachbarschaft der Ukraine

Aber eine Niederlage hätte auch einschneidende Folgen für Europa. Denn die Ukrainerinnen und Ukrainer, die nicht kämpfen oder unter russischen Repressionen leiden möchten, würden wahrscheinlich nach Europa fliehen. Zumal es in der Ukraine immer schwieriger werden würde, ein friedvolles Leben mit geregeltem Einkommen zu führen.

Aber damit nicht genug. "Es gibt Länder wie die Ukraine, die in der Nachbarschaft Russlands liegen und die keine Nato-Mitglieder sind – wie Moldau oder Georgien, die dann gefährdet werden", sagte Nico Lange dem Deutschlandfunk. "Aber Putin wird auch jede Chance nutzen, um den Zusammenhalt in der Nato zu testen."

Natürlich sind Staaten wie Moldau oder Georgien besonders durch den russischen Imperialismus gefährdet, weil sie nicht in der Nato sind. Deswegen gehen Experten nicht davon aus, dass Putin in seinem Kampf gegen den Westen nach der Ukraine gesättigt ist. Im Gegenteil. Die Politikwissenschaftler Nico Lange und Carlo Masala skizzieren in einem gemeinsamen Aufsatz auf "ZeitOnline" am 19. November: Es gehe um viel mehr als die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine. "Niemand in Europa wäre mehr sicher. Humanitäre, wirtschaftliche und militärische Kosten würden sprunghaft steigen, weit über die derzeit verfehlten mindestens zwei Prozent Verteidigungsausgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt hinaus." Sie ergänzen: "Die 'Neuordnung der Welt', wie es Putin unlängst ausdrückte, würde mit aller Macht und aller Gewalt voranschreiten."

Das hätte konkrete Folgen für die Nato und für Deutschland. Plötzlich müssten in diesem Szenario die EU-Länder viel mehr Geld in die gemeinsame Verteidigung stecken als aktuell in die Ukraine-Hilfe. Sollte Putin eine Schwäche ausmachen – etwa einen US-Präsidenten wie Donald Trump, der nicht strikt zur Nato-Beistandspflicht steht – könnte er auch das Baltikum attackieren.

Dann stünde auch Deutschland vor der Wahl: Krieg oder das Auseinanderbrechen der Nato und damit das Ende der europäischen Sicherheitsarchitektur. Denn Letzteres wäre das Ergebnis, wenn Artikel 5 – die Nato-Beistandsklausel bei einem Angriff – den Mitgliedern des Verteidigungsbündnisses keine Sicherheit mehr gibt. Dann wäre die Nato nicht nur "hirntot" – wie es einst der französische Präsident Emmanuel Macron ausdrückte – sondern komplett wertlos.

Russland

Und Russland? Man müsse befürchten, dass Putin einen Waffenstillstand oder eine Pattsituation nutzt, um weiter aufzurüsten und um dann die nächste Chance zu nutzen, um anzugreifen, sagte Lange dem Deutschlandfunk am Dienstag. In der Tat ist es in der Vergangenheit schon so passiert. Als Russland 2014 die Krim völkerrechtswidrig annektierte und im Donbass Separatisten unterstützte, wurden diese Regionen Aufmarschgebiete für den aktuellen Angriffskrieg.

Putin hätte dann Land in der Ukraine unter seiner Kontrolle und auch weitestgehend das Regime von Alexander Lukaschenko in Belarus. Das ist eine konkrete Gefahr für das restliche Europa.

Denn der russische Präsident hat ein persönliches Interesse daran, den Konflikt mit dem Westen am Leben zu halten – auch nach einem möglichen Sieg in der Ukraine. Er hat für einen Streifen ukrainischen Landes nicht nur Hunderttausende russische Leben geopfert hat, sondern auch sein Land wirtschaftlich in eine Sackgasse geführt. Die Kosten und der Nutzen des russischen Angriffskrieges stehen in keiner Relation – und deshalb fürchtet Putin die Endabrechnung.

Hinzu kommt, dass Russland sich in einem Siegesrausch bestätigt fühlen würde, dass diese aggressive Expansionspolitik fruchtet. Das würde nicht nur weitere russische Expansionsphantasien nähren, sondern auch Putins Brüder im Geiste dazu animieren, es ihm gleichzutun. Etwa China mit einem möglichen Angriff auf Taiwan oder den Iran mit einem eventuellen Krieg gegen den Irak.

Experten schlagen Alarm

Klar: Die Ukraine kämpft in erster Linie um ihre Unabhängigkeit, aber auch mittelfristig für ein friedvolles Europa und eben für eine regelbasierte Ordnung. Es ist eine Ordnung, die Putin als Hegemonie der USA empfindet und die er – wie er sagt – "auf den Müll" der Geschichte werfen möchte. Er empfindet sie als Eingriff in die nationale Souveränität durch den Westen. Das ist sie aber nicht, sondern es sind Werte, die nach westlicher Auffassung allgemeingültig sein sollten. Nicht aus "Arroganz" – wie der russische Präsident es sieht – sondern aus Ablehnung von Tyrannei.

Die westlichen Demokratien werden also zwangsläufig vor der Entscheidung stehen, welchen Preis zu zahlen sie bereit sind, damit Werte wie Demokratie, Menschenrechte oder Meinungsfreiheit weltweit eine Geltung haben. Denn all das würde an Bedeutung verlieren, wenn sich das Weltbild von Putin oder auch des chinesischen Präsidenten Xi Jinping durchsetzt.

Darum geht es am Ende auch in der Ukraine. Es gibt eine zentrale Frage, die sich wahrscheinlich auch die Bundesregierung stellen muss: Können wir uns es eigentlich leisten, dass Putin gewinnt? Wenn die Antwort "Nein" lautet, muss laut Experten allerdings mehr getan werden, um eine kriegswirtschaftliche Überlegenheit gegenüber Russland herzustellen. Abwarten, Augen zu und durch und gerade so viel tun, wie momentan nötig ist, wird wahrscheinlich nicht reichen. Deswegen schlagen Militärexperten wie Masala, Lange, aber auch Gustav Gressel oder Christian Mölling aktuell Alarm. Um zu verhindern, dass Deutschland in einen politischen Winterschlaf verfällt. Nicht schon wieder.

Verwendete Quellen
  • zeit.de: Was, wenn Russland gewinnt?
  • edition.cnn.com: Trump won’t commit to backing Ukraine in war with Russia (englisch)
  • deutschlandfunk.de: Putin-Sieg würde Weltordnung ändern
  • nzz.ch: Was wäre, wenn Russland in der Ukraine gewinnen würde?
  • cfr.org: What Ukraine Needs to Win the War Against Russia (englisch)
  • smh.com.au: The war won’t be over if Ukraine wins (englisch)
  • cicero.de: Was, wenn Putin den Krieg gewinnt?
  • rnd.de: "Unter Trump als Präsident wird die Ukraine keine Gegenoffensive so wie jetzt mehr führen können"
  • axios.com: "Dangerous situation" if Putin wins war (englisch)
  • tagesspiegel.de: "Helfen der Ukraine, solange das dauert"
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