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Ukraine-Krieg: Droht eine Offensive auf Charkiw?


Lage an der Ukraine-Front
"Die Russen sind auf dem Vormarsch"


Aktualisiert am 19.01.2024Lesedauer: 4 Min.
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Rettung im letzten Moment: Dieses Kampffahrzeug hat es in sich. (Quelle: t-online)

Charkiw ist wegen des Widerstands gegen die russische Invasion ein wichtiges Symbol in der Ukraine. Nun könnte eine neue Offensive auf die Stadt drohen.

Charkiw ist eine "Heldenstadt". Diesen Titel hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj der Millionenstadt im Nordosten des Landes im vergangenen März verliehen. Ukrainische Soldaten hatten russische Versuche zurückgeschlagen, Charkiw gleich zu Beginn von Russlands Angriffskrieg einzunehmen. Die Stadt liegt nur knapp 30 Kilometer vor der ukrainisch-russischen Grenze. Später war sie Ausgangspunkt der ukrainischen Gegenoffensive im Sommer 2022.

Doch Wladimir Putin hat seinen Plan zur Eroberung Charkiws offenbar noch nicht ad acta gelegt. Zuletzt feuerte Russland immer wieder mit Raketen und Drohnen auf die Stadt. Es gab mindestens sieben größere Luftangriffe seit Jahresbeginn, Dutzende Menschen wurden verletzt. Auch das rund 100 Kilometer weiter östlich gelegene Kupjansk und umliegende Dörfer unterliegen andauernden russischen Angriffen. Am Dienstag haben die regionalen Behörden die Evakuierung von rund 3.000 Menschen aus dem Gebiet angeordnet.

Die schweren Luftangriffe könnten etwas Größerem dienen. Experten der US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) und ein Bericht der britischen Zeitung "The Telegraph" gehen davon aus, dass möglicherweise eine neue russische Offensive in Richtung der Stadt bevorsteht. Womöglich wolle Putin vor den anstehenden Präsidentschaftswahlen im März mit der Eroberung der Millionenstadt ein Symbol schaffen, lautet die Vermutung. Wie wahrscheinlich ist ein solches Szenario?

"Nun warnt die Ukraine zwar, legt jedoch keine Beweise dafür vor"

Laut Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer handelt es sich bei den Warnungen bisher vor allem um Spekulation, die noch kaum mit Fakten unterlegt sei. "Bisher sind jedenfalls keine größeren Truppenbewegungen in der Region zu beobachten", sagt Reisner im Gespräch mit t-online. Dabei sei es heutzutage kaum möglich, größere Truppenverbände zu verstecken. Die Aufklärung mit Satelliten oder Drohnen verhindere dies.

Solche Satellitenbilder von Truppenbewegungen wurden etwa vor den russischen Angriffen in der Ostukraine im Jahr 2014, aber auch vor der russischen Invasion im Februar 2022 verbreitet. "Nun warnt die Ukraine zwar, legt jedoch keine Beweise dafür vor", erklärt Reisner.

Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer.
Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer. (Quelle: Österreichisches Bundesheer)

Zur Person

Markus Reisner (45) ist Oberst des österreichischen Bundesheeres. Der Militärexperte hat besonders durch seine Analysen der Frontlage im Ukraine-Krieg internationale Bekanntheit erlangt. Zudem forscht Reisner zur Militärgeschichte.

"Es könnte sich dabei also um bloßen Alarmismus handeln", mutmaßt der Militärexperte. Denn die Ukraine befindet sich in diesem Jahr in einer schwierigen Situation: Mehr denn je ist sie auf die Unterstützung aus dem Westen angewiesen. Vor allem die USA sind derzeit ein schwieriger Partner. Angesichts der im November anstehenden US-Präsidentschaftswahlen wirkt Washington mit Blick auf die Ukraine-Unterstützung derzeit gelähmt. Mehr dazu lesen Sie hier. "Möglicherweise versucht man so, die westlichen Alliierten wachzurütteln", sagt Reisner bezüglich der ukrainischen Warnungen.

Bisher gibt es keine Satellitenbilder von Truppenbewegungen

In diesem Jahr habe sich die Ukraine vorgenommen, vor allem in der Defensive zu bleiben und so die russischen Truppen abzunutzen. "Doch damit hat die Ukraine die Situation nicht mehr in der eigenen Hand. Sie kann nur reagieren", erklärt Reisner. Und um erfolgreich verteidigen zu können, braucht die Ukraine unbedingt weitere Waffenlieferungen aus dem Westen.

Russland aber muss nun auch Erfolge erzielen, die Truppen stehen unter großem Druck. "Die Russen sind langsam, aber stetig und unter hohen Verlusten in mehreren Regionen auf dem Vormarsch", warnt Reisner. Die Winteroffensive könnte jedoch auch noch scheitern. Und auch ein Angriff auf Charkiw berge Risiken, erklärt der Militärexperte: "Die Kritiker im Westen, die jetzt Verhandlungen mit Russland fordern, könnten dann verstummen."

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Quelle: t-online

Auszuschließen ist jedoch nicht, dass Russland Eroberungspläne für Charkiw hegt. Die schweren Luftangriffe könnten durchaus zur Vorbereitung einer Offensive dienen. Möglich sei jedoch auch, dass es sich um reinen Terror der Russen handelt. "Wenn es tatsächlich Truppenbewegungen geben sollte, die auf eine Offensive hindeuten, sollte dies rasch mit Satellitenbildern unterlegt werden", fordert Reisner.

Charkiw bleibt eine "Heldenstadt"

Charkiw zumindest wäre ein attraktives Ziel für Putin. Nicht umsonst wollte Russland die Millionenstadt gleich zu Beginn seiner Invasion einnehmen. Nun gilt Charkiw als "Heldenstadt", ein Symbol, das dem Kremlchef nicht gefallen dürfte. Diesen Status wollen die Bewohner derweil offenbar nicht aufgeben: Im kommenden März soll angesichts der anhaltenden russischen Luftangriffe in der Stadt die erste unterirdische Schule ihren Betrieb aufnehmen. Zuvor waren bereits mehrere Klassenzimmer in der U-Bahn der Großstadt eingerichtet worden. Abwechselnd lernen derzeit über 1.000 jüngere Schulkinder in rund 65 Klassen unter der Erde.

Auch andernorts steht die Ukraine derzeit unter hohem Druck. Vor allem um Kupjansk, aber auch im Gebiet Donezk finden schwere Kämpfe statt. "So haben die Ukrainer bei Bachmut fast alle Gebiete wieder verloren, die sie sich im Sommer hart erkämpft hatten. Sie mussten sogar weiter zurückgehen", sagt der Oberst. Bachmut wurde ab August 2022 durch monatelange Kämpfe dem Erdboden gleichgemacht. Zunächst versuchte Russland, auch mithilfe von Söldnern der Gruppe Wagner, über Monate hinweg die Stadt einzukesseln, erklärte sie dann im Mai 2023 als vollständig besetzt. Die Ukraine eroberte danach zumindest Teilgebiete wieder zurück.

"Vollständige Eroberung von Awdijiwka ist gescheitert"

Auch in Marjinka, einem Vorort westlich der Stadt Donezk, musste die Ukraine offenbar einen Rückschlag einstecken. Laut Berichten ist der Ort vollständig an Russland gefallen. "Das mag zwar unerheblich erscheinen, weil die Kleinstadt mit vormals 10.000 Einwohnern nur noch eine Trümmerlandschaft ist", sagt Reisner. "Doch dabei handelt es sich um Stützpunkte, die die Ukrainer über acht Jahre hinweg angelegt hatten.“

Positivere Nachrichten gibt es aus einem anderen Vorort von Donezk, der ebenfalls hart umkämpft war: "Der russische Großangriff mit dem Ziel der vollständigen Eroberung von Awdijiwka ist gescheitert", schreibt der Sicherheitsexperte Nico Lange in seinem Blog. Russland habe in der Schlacht um die Kleinstadt rund 20.000 Soldaten durch Tod oder Verwundung verloren. Zudem seien 500 Militärfahrzeuge wie Kampf- und Schützenpanzer oder Haubitzen zerstört worden.

Dennoch gesteht auch Lange einen langsamen russischen Vormarsch ein: "Seit Russland zum Jahresende 2023 entlang der gesamten Frontlinie die Initiative zurückgewann, dringen die russischen Kräfte dennoch an mehreren Frontabschnitten vor." Wie das Jahr 2024 für die Ukraine ausgeht, bleibt abzuwarten. Vieles hängt von der westlichen Unterstützung für die Ukraine ab.

Verwendete Quellen
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