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Zweiter Weltkrieg: Hans Heldmann lief 800km zu Fuß nach Hause


Als Teenager im Zweiten Weltkrieg
"Ich schrie noch: Achtung, Bombenwurf!"

Aktualisiert am 08.05.2015Lesedauer: 5 Min.
Russischer Vormarsch nahe Wien: Eine Kutsche mit Rotarmisten prescht zwischen einer fahrbaren Suppenküche und einem brennenden Haus hindurch.Vergrößern des BildesRussischer Vormarsch nahe Wien: Eine Kutsche mit Rotarmisten prescht zwischen einer fahrbaren Suppenküche und einem brennenden Haus hindurch. (Quelle: dpa-bilder)
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Dass der Zweite Weltkrieg vorbei ist, merkt Hans Heldmann gar nicht: Am 8. Mai 1945 ist er auf der Flucht - irgendwo zwischen Österreich und Deutschland, tief in einem der vielen Waldgebiete entlang seines 800 Kilometer langen Heimwegs.

Heldmann will nur noch weg, nach Hause zu Vater, Mutter und Schwester in den hessischen Odenwald. Weg von der Front, weg von den Russen, weg von den Amerikanern, die ihn - so glaubt er - in ein Gefangenenlager bringen wollen.

Als Deutschland kapituliert, ist Heldmann gerade einmal 17 Jahre alt und hat schon alles gesehen: das Nazi-Reich, das "Verschwinden" der Juden, den Arbeitsdienst, die Front, den Tod, den Untergang des "Tausendjährigen Reiches".

Die Unteroffiziersschule lehnt ab

Um seinen 16. Geburtstag herum ist er zum Reichsarbeitsdienst (RAD) eingezogen worden. Da ist die Wehrmacht im Osten schon auf dem Rückzug. Immer näher kämpft sich die Rote Armee an das Deutsche Reich heran.

Heldmann, der in Gadernheim im hessischen Odenwald aufwächst, hat sich zuvor bei einer Unteroffiziersschule beworben. "Gott sei Dank" ist er nicht genommen worden, wie er später in seinen Lebenserinnerungen schreibt. Stattdessen macht er eine Ausbildung zum Steinmetz wie sein Vater.

Kurz nach der Lehre muss er mit dem Reichsarbeitsdienst nach Österreich. Er wird zum Flugabwehrkanonier ausgebildet - eine Tätigkeit, die in der Spätphase des Krieges fast nur noch ältere Jugendliche ausüben.

"Kaum deutsche Flugzeuge am Himmel"

Bald wird er nach Frankreich geschickt. Doch seine Einheit kommt zu spät: Die Stellung, die sie übernehmen soll, ist bereits von den Alliierten überrannt worden. Die sind kurz zuvor - am D-Day - in der Normandie gelandet.

Dass Nazi-Deutschland auf dem Rückzug ist, kann Heldmann überall beobachten: "Uns war aufgefallen", schreibt er später, "dass kaum deutsche Flugzeuge am Himmel zu sehen waren, dafür englische und amerikanische in großen Mengen."

Wieder in Österreich soll seine Batterie eine Ölraffinerie an der Donau bei Wien beschützen. Doch er selbst wird zum Ziel der Angreifer: "Eine Maschine scherte aus dem Verband aus und flog in Richtung unserer Stellung", so Heldmann.

"Dann gingen die Bombenschächte auf. Ich schrie noch 'Achtung, Bombenwurf'. Und tatsächlich fielen circa zehn Bomben in unsere Geschützstellung. Wie durch ein Wunder wurde niemand verletzt: Die einzelnen Geschütze waren von hohen Wällen umgeben und die Bomben fielen alle zwischen die Wälle."

"Feuerpause, niemand schießt!"

Echte Feindberührung hat der 17-Jährige erstmals am 1. April 1945 - kurz vor dem Ende: Da sitzt er in einer Flakbatterie auf dem Königskogl, einer Anhöhe östlich von Wien.

Es ist Ostersonntag: "Die Russen kamen mit circa 30 Panzern auf uns zugerollt. Zwischen ihnen war noch eine große Menge Fußsoldaten. Ich höre heute noch, wie unser Batteriechef ins Mikrofon schreit: ‚Feuerpause, niemand schießt!‘. Der Hauptmann kam von der Wehrmacht und hatte Fronterfahrung. Als die Panzer auf etwa 100 Meter herangekommen waren, schrie er: ‚Feuer frei!‘. Ein Teil der Kanonen schoss auf die Panzer, die anderen auf die Fußsoldaten. Die Russen hatten sehr schwere Verluste und zogen sich sofort zurück", so Heldmann in seinen Memoiren.

Heldmanns Einheit wird daraufhin mit der berüchtigten "Stalinorgel" beschossen - einem Mehrfachraketenwerfer, der beim Abschuss ein charakteristisches Pfeifgeräusch erzeugt.

Schließlich greifen die Rotarmisten überraschend von der Seite an. Heldmann und ein Kamerad setzen sich in Panik ab. Da sind die ersten russischen Panzer bereits in seine Batterie eingedrungen.

"Sie mussten eine Grube graben und wurden alle erschossen"

Erst Ende der 50er Jahre erfährt er bei einer Reise an den Königskogl, was mit den 42 Kameraden passiert ist, die es nicht heraus geschafft haben: "Sie wurden Abends in eine nahe gelegene Kirche gebracht. Am nächsten Morgen mussten sie eine Grube graben und wurden alle erschossen."

Das Ende kommt immer näher - auch für Heldmann. Auf dem Rückzug Richtung Linz fällt seine Einheit auseinander. Auf dem Marsch übernachtet Heldmann mit einigen Kameraden im halb geräumten Konzentrationslager Mauthausen. Über 100.000 Menschen sind hier in den zurückliegenden sechs Jahren ermordet worden.

Übernachtung im Todeslager Mauthausen

Die unmenschlichen Verhältnisse kann auch er am Rande beobachten - und spüren: "Nachts schliefen wir in einer Halle, die mit Stroh ausgelegt war" erinnert er sich. "Am nächsten Morgen juckte es bei uns allen am ganzen Körper. Wir waren voller Flöhe, Läuse und anderem Ungeziefer."

Bei der Entlausung sieht Heldmann einen toten Häftling, der unbeachtet am Boden liegt. Später kommt er an einem zwei Kilometer langen Häftlingszug vorbei - vermutlich einer der berüchtigten Todesmärsche. Doch der fliehende Teenager, der aus einer sozialdemokratischen Familie kommt, hat zu viel mit dem eigenen Überleben zu tun, um sich allzu große Gedanken zu machen.

In der Hand von ehemaligen KZ-Häftlingen

Als er im heutigen Skiort Sankt Martin ankommt ist er endgültig auf sich gestellt. Plötzlich sind überall Amerikaner. Gerade noch kann er sich in einem von Wasser und Schnee überfluteten Schützenloch verstecken: "Ich sah die Amerikaner mit Panzern und Jeeps vorbeifahren."

Ein paar von ihnen graben sich ganz in seiner Nähe ein. In der Dunkelheit wagt er sich steif gefroren heraus und flüchtet in den Wald. Ein Landwirt - der frühere Ortsbauernführer - gewährt ihm Unterschlupf und gibt ihm Essen und zivile Kleidung.

Ein Unterschlupf, der ihn fast das Leben kostet: Als er auf dem Hof allein ist, wird er von ehemaligen KZ-Häftlingen überfallen - möglicherweise russischen Kriegsgefangenen, die sich durch die Linien der Amerikaner zur Roten Armee durchschlagen wollen. Sie suchen Waffen.

Heldmann erzählt ihnen von dem Karabiner, den er in der Nähe zurückgelassen hat. Sie zwingen ihn dazu mitzukommen. Um ihn später zu töten? "In diesem Moment hab‘ ich nicht mehr viel für dich gegeben", sagt später ein Mann, der die Szene beobachtet hat.

Dann jedoch schafft es der Jugendliche, Amerikaner auf sich aufmerksam zu machen und wird gerettet.

Er hetzt weiter Richtung Deutschland. Jetzt wird der Rückzug endgültig zur Flucht: Hans Heldmann kämpft sich durch Oberösterreich, und erreicht mit einem "Kumpel", den er unterwegs kennengelernt hat, schließlich Deggendorf in Bayern - immer auf der Hut vor amerikanischen Truppen, von denen er befürchtet, sie würden ihn an die Russen ausliefern.

Mitleid mit dem "Kleinen"

Dass sein Vater, der zuletzt als Volkssturm-Mann in Österreich hat dienen müssen, nur zwei Wochen vorher fast denselben Weg entlang gekommen ist, erfährt er erst später.

Nach weiteren 200 Kilometern Fußmarsch kommt er an Backnang bei Stuttgart vorbei. Er übernachtet in leer stehenden Scheunen oder fragt Bauern um ein Nachtquartier. Die sind dem "Kleinen" wohl gesonnen und füttern ihn ausgiebig.

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Heldmann ist so klug, zu Fuß die ländlichen Gebiete zu durchqueren, statt sich mit der Bahn durch die zerstörten städtischen Zentren zu schlagen: Die Bauern sind in diesen schlimmen Monaten die einzigen, die noch gut und reichlich zu essen haben. Von Hunger ist in Heldmanns Erinnerungen jedenfalls nie die Rede.

Schließlich erblickt er die Hügel des heimatlichen Odenwaldes. Er durchquert Fürth und erfährt kurz vor seinem Heimatdorf Gadernheim, dass es dort schwere Kämpfe gegeben hat. Drei Soldaten und neun Zivilisten sind bei einem der überflüssigen Artillerieduelle zwischen Deutschen und Amerikanern kurz vor dem Ende umgekommen.

Voller Sorge legt er die letzten Kilometer zurück. Dann - es ist mittlerweile der 21. Mai – steht er seiner Mutter gegenüber. Die braucht eine Weile, bis sie ihn begrüßen kann, so außer sich ist die Frau, die ihren Sohn für tot gehalten hat. Zwei Wochen vor ihm ist auch sein Vater angekommen. Die Schwester folgt kurz darauf. Für Hans Heldmann ist der Krieg vorbei.

Hunger leidet er weiterhin nicht: Seine Eltern haben eine kleine Landwirtschaft, die genug zu essen abwirft. Bald arbeitet er wieder als Steinmetz. "Das", so schließt Heldmann seine Erinnerungen prosaisch, "waren die ersten 18 Jahre meines Lebens."

Hans Heldmann ist heute 87 Jahre alt und lebt nach wie vor im südhessischen Lautertal. Seine Geschichte steht stellvertretend für die von Millionen Deutschen.

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