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Jens Reich im Interview: Wie das "Neue Forum" die DDR verändern wollte


Jens Reich über DDR-Protest
"Der Staat war dem Untergang geweiht"

InterviewVon Charlotte Janus

09.11.2019Lesedauer: 5 Min.
Interview
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Bärbel Bohley und Jens Reich vom "Neuem Forum" bei einer Diskussionsrunde im Oktober 1989: Die Bürgerbewegung mobilisierte viele Menschen zum friedlichen Protest.Vergrößern des Bildes
Bärbel Bohley und Jens Reich vom "Neuem Forum" bei einer Diskussionsrunde im Oktober 1989: Die Bürgerbewegung mobilisierte viele Menschen zum friedlichen Protest. (Quelle: dpa-bilder)

Im September 1989 rief die Bürgerbewegung "Neues Forum" zu einer grundlegenden Reform der DDR auf. Jens Reich gründete die Bewegung mit – und erklärt im Interview, warum er den Sozialismus damals gar nicht abschaffen wollte.

In der Nacht vom 9. auf den 10. September 1989 beschloss eine kleine Gruppe von Oppositionellen in der DDR, ihren Staat zu verändern: Sie trafen sich im brandenburgischen Dorf Grünheide bei Berlin und gründeten das „Neue Forum“. Die hatten genug von einer Regierung, die sich von den Bürgern abkapselte und wollten einen echten Austausch zwischen SED-Funktionären und dem Volk.

Einer von ihnen war der Molekularbiologe Jens Reich. Er schrieb das grundlegende Manifest der Gruppe mit, den "Aufbruch 1989", in dem sie zu einem neuen, menschlicheren Umgang der DDR mit ihren Bürgern aufriefen. Schnell verbreitete sich der Text, die Forderungen sprachen vielen Menschen in der DDR aus dem Herzen.

Reich ist trotzdem froh, dass der Umbruch gescheitert ist

Das "Neue Forum" entwickelte eine starke Mobilisierungskraft und wurde zu einer der wichtigsten Bewegungen innerhalb der friedlichen Revolution.

Jens Reich erlebte zuvor noch die Repressionen des Regimes am eigenen Leib: Sie behinderten seine berufliche Karriere, schränkten seine Reisefreiheiten und persönlichen Kontakte ein. Er sprach am 4. November 1989 auf einer Demonstration in Berlin vor Hunderttausenden Menschen für das "Neue Forum" – nur wenige Tage später fiel die Mauer.

Im Interview mit t-online.de erklärt Reich, welche Pläne er und seine Mitstreiter anfangs hatten, wie ihre Version einer veränderten DDR ausgesehen hätte – und warum er trotzdem froh ist, dass ihre Reformbewegung gescheitert ist.

t-online.de: Herr Reich, warum haben Sie das „Neue Forum“ gegründet?

Jens Reich: Wir fanden damals: Das Volk schweigt, ist frustriert und die Regierung schweigt, weil sie nicht handlungsfähig ist. Der Alltag war für alle unbefriedigend. Wir lebten in einem Unrechtsregime, und dagegen wollten wir etwas tun.

Hatten Sie auch einen ganz persönlichen Antrieb?

Unsere Zukunft verließ uns damals sprichwörtlich: Einige Jahre zuvor ist meine älteste Tochter mit ihrem Verlobten in den Westen gegangen. Die anderen Kinder, machten klar, dass auch sie ihr Leben nicht in dieser verkorksten Gesellschaft verbringen wollten.

Welche Ziele hatten Sie dann mit dem "Neuen Forum"?

Wir wollten einen vollkommen anderen Staat, und das drückte sich in sehr romantischen, allgemeinen Forderungen aus. Die waren nicht programmatisch, sondern auf die Emotionen der Menschen gerichtet. Wir haben formuliert, in welche Richtung die Gesellschaft verändert werden muss. Wir wollten die Legitimierung der Herrschenden: Also erstmal freie Wahlen und eine neue freiheitliche Verfassung.

Und wie sollte das praktisch aussehen?

Unser Plan war, die Bürger zu mobilisieren, auf die Straße zu kommen, gemeinsam eine Bewegung zu erschaffen. Die Hauptforderung war ein Aufruf an die Mitbürgerinnen und Mitbürger, sich zu öffnen und nicht mehr still zu sein. Sie sollten aus dem Schneckenhaus kommen und an einem öffentlichen Dialog teilnehmen – nicht mehr in der Nische sitzen, dort schimpfen und sich verdrossen verhalten.

Die anderen Sachen waren Inklusivforderungen, die der Staat in seiner bisherigen Form nicht erfüllen konnte. Dass wir nicht in einer Welt leben wollten, in der die gesamte Umwelt vergiftet wird. Wir wollten Luft atmen. Überhaupt waren wir uns in der Forderung nach Freiheiten, nach freier Bewegung, nach freien Wahlen, nach freier Meinungsäußerung und nach freier Reisefähigkeit einig.

Es fehlte lange die Bereitschaft der Bürger, republikweit solche Forderungen zu unterstützen. Die Menschen waren vorsichtig und ängstlich geworden in diesem brutalen Regime. Und viele hatten Angst davor, die Herrschenden herauszufordern.

Doch dann geriet etwas in Bewegung.

Wir haben sehr viel Zuspruch bekommen: Gegen Ende des Jahres 1989 hatten wir über 100.000 Unterschriften von Menschen, die uns unterstützten. Die Mobilisierung von Leuten, die bereit waren zu handeln, hat auch die Bereitschaft in der gesamten Bevölkerung erhöht, endlich Forderungen zu stellen. Die Demonstration am 4. November in Berlin war ein Ausdruck dieser ganzen Veränderung.

Im Aufruf "Die Zeit ist reif – Aufbruch 89", in dem Sie die zentralen Forderungen des "Neuen Forums" formulierten, fällt nicht ein Mal das Wort "Sozialismus". Dabei war das doch eines der Kernelemente der DDR.

Genauso ist es, wir wollten den Staat reformieren. Trotzdem haben wir die führende Rolle der Partei und die sozialistische Verfassung in das Papier nicht reingeschrieben. Dass wir uns nicht zum Sozialismus bekannt haben, sondern einfach gefordert haben, was uns auf dem Herzen lag, haben die Herrschenden als Angriff verstanden.

Wollten Sie denn den Sozialismus grundsätzlich als Staatsform für die DDR behalten?

Wir wollten die Systemfrage in dem Moment nicht stellen. Wenn Sie die Gruppe gefragt hätten, hätten wohl viele gesagt: Entweder der Sozialismus bedarf grundsätzlicher Reformen oder er muss überwunden werden. Die Grundsatzfrage nicht zu stellen, war auch taktisch gedacht, um die Sowjetunion nicht herauszufordern. Sie sollte nicht so wie in Prag 1968 einmarschieren, um den ganzen Spuk zu beenden. Das bestimmte dann das Ausmaß dessen, was in der Bewegung ausgesprochen wurde. Uns wurde aber ohnehin dann bald klar, dass wir dieses Land nicht mehr reformieren können.

Wann war das?

Im November 1989, kurz nach der Öffnung der Mauer: Kurze Zeit später, lag die Existenzfrage des DDR-Regimes auf dem Tisch. Endgültig vorbei war es mit der DDR mit der Währungsunion am ersten Juli, als die DDR-Bürger ihr Erspartes in D-Mark tauschen konnten. Dann war es endgültig damit vorbei, irgendwelche Zukunftsvisionen zu einer neuen DDR zu entwickeln. Der Staat war dem Untergang geweiht.

Fanden Sie das damals auch schon gut oder hätten Sie gerne gewusst, wie eine reformierte DDR ausgesehen hätte?

1990 saß ich in der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR in der Opposition und habe auf eine Verlängerung des Weges zur Vereinigung plädiert. Die Spaltung war die große Wunde im Herzen. Ich dachte damals aber: Erstmal müssen wir in der DDR unseren Sauladen aufräumen, bevor wir an die Vereinigung mit der Bundesrepublik denken können. Mit einer vernünftigen Regierung, hatte ich die Vorstellung, dass man versuchen kann, das Land soweit zu reformieren, dass es überhaupt eintrittsfähig in die große Welt ist.

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Es war aber extrem unpopulär, irgendetwas anderes als die schnelle Einigung zu machen. Die Leute wollten die Einheit und eine Lebensweise wie im Westen. Die meisten wollten nicht glauben, dass es gerade sie treffen könnte mit Arbeitslosigkeit, Umschulungen und in Frührente geschickt werden. Wenn man das zu ihnen sagte, haben sie gepfiffen und gesagt: "Ihr wollt doch nur das SED-Regime stützen!"


Wenn Sie heute zurückblicken: Haben sich Ihre Anstrengungen denn gelohnt?

Aber klar! Die Forderungen, die vom Volk mit Unterstützung der Bürgerbewegten und des "Neuen Forums" durchgesetzt wurden, sind grandios erfüllt worden. Alles was unter dem Begriff "Freiheit" verstanden wird, ist erkämpft worden. Die Büros der Staatssicherheit sind zugesperrt worden. Zwar zerfielen dann die Bürgerbewegungen: Die einen orientierten sich eher konservativ, die anderen eher an linkem Gedankengut. So dramatisch war das aber nicht: Unsere Forderungen waren erfüllt, wir hatten endlich ein Leben in Freiheit.

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