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Historiker über Diktatoren: "Wladimir Putin ist kein neuer Hitler"


Historiker über Diktaturen
"Wladimir Putin ist kein neuer Hitler"

InterviewVon Marc von Lüpke

18.04.2022Lesedauer: 7 Min.
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Auf Antikriegs-Demos wie hier in München wird Wladimir Putin nicht selten als Hitler dargestellt.Vergrößern des Bildes
Auf Antikriegs-Demos wie hier in München wird Wladimir Putin nicht selten als Hitler dargestellt. (Quelle: Sachelle Babbar/imago-images-bilder)

Putins Krieg gegen die Ukraine ist auch eine Folge westlicher Naivität. Warum ein Blick in die deutsche Geschichte lohnt, Hitler-Vergleiche aber wenig hilfreich sind, erklärt der Historiker Michael Wildt.

t-online: Professor Wildt, Wladimir Putin hat die Ukraine überfallen, nun wird Russlands Präsident immer wieder mit verbrecherischen Politikern des 20. Jahrhunderts wie Hitler oder Stalin verglichen. Wie sinnvoll ist das?

Michael Wildt: Wladimir Putin ist kein neuer Hitler. Eine derartige Gleichsetzung ist wenig hilfreich und bietet keinen Erkenntnisgewinn. Aber der menschliche Hang, angesichts ungewohnter und schockierender Ereignisse in der Gegenwart Orientierung in der Geschichte zu finden, ist wiederum sehr verständlich.

Wäre für die deutsche Politik im Umgang mit Wladimir Putin nicht aber tatsächlich eine Lehre aus der Geschichte sinnvoll gewesen? Im Münchner Abkommen Ende September 1938 sprachen Großbritannien und Frankreich Adolf Hitler das eigentlich tschechoslowakische Sudetenland zu. Im Irrglauben, damit den Frieden in Europa gesichert zu haben.

Das ist ein treffendes Beispiel. Großbritanniens Premierminister Neville Chamberlain etwa war damals tatsächlich davon überzeugt, dass er den drohenden Krieg abgewendet hätte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Adolf Hitler weitere Aggressionen plante. Immerhin hatten die Westmächte Deutschland weitgehende Zugeständnisse gemacht. Und genau diese Episode aus der Geschichte hätte eigentlich stärkere Beachtung der Nachwelt finden müssen: Politiker wie Putin halten sich nicht an Regeln, für sie gelten ganz andere Rationalitäten.

Nun ist es für Nachgeborene stets leicht, die Fehler und Versäumnisse ihrer Vorfahren zu kritisieren. In Ihrem neuen Buch "Zerborstene Zeit. Deutsche Geschichte 1918 – 1945" lassen Sie hingegen Zeitzeugen mittels ihrer Tagebücher zu Wort kommen – um auf diese Weise unter anderem zu ergründen, wie diese Menschen den Aufstieg des Nationalsozialismus erlebt haben.

Tagebücher sind eine ausgesprochen aussagekräftige, weil zeitgenössische Quelle: Was erwarteten die Schreiberinnen und Schreiber von der Zukunft? Wie reagierten Sie auf politische und gesellschaftliche Veränderungen? In Tagebüchern notierten diese Menschen ihre Gedanken meist und mittelbar und tagesaktuell – was sie eben von Memoiren sehr unterscheidet.

Nehmen wir einmal das Jahr 1933. Am 30. Januar, dem Tag an dem Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, notierte der jüdische Lehrer und Historiker Willy Cohn aus Breslau in seinem Tagebuch: "Demnächst wird die Rechte siegen, aber am Ende steht der Kommunismus!"

Willy Cohn erwartete damals einen Bürgerkrieg in Deutschland. An anderer Stelle machte Cohn zudem deutlich, dass er die Gefahr erkannt hatte, die ihm durch die Nationalsozialisten drohte: "Jedenfalls trübe Zeiten, besonders für uns Juden!" Cohn behalf sich mit Hoffnung: "Vielleicht nur der eigene magere Trost, dass oftmals die Dinge anders laufen, als man sie annimmt."

Michael Wildt, Jahrgang 1954, lehrte bis zu seiner Emeritierung 2022 Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Humboldt-Universität zu Berlin. Wildt ist führender Experte für die Zeit des Nationalsozialismus, seine zahlreichen Bücher wie "Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes" von 2002 sind Standardwerke. Kürzlich erschien Wildts vielgelobte Darstellung "Zerborstene Zeit. Deutsche Geschichte 1918 bis 1945".

Willy Cohn bekam genau wie der bekannte Tagebuchschreiber Victor Klemperer, der als Professor Romanistik in Dresden lehrte, den Antisemitismus des NS-Regimes zu spüren. Klemperer, der wie Cohn im Ersten Weltkrieg gedient hatte, verlor später seine Professur, Willy Cohn erhielt etwa von der Städtischen Volkshochschule in Breslau die Kündigung.

Cohn fand die richtigen Worte dafür: "Es ist alles so widerlich." Ermöglicht wurden diese Diskriminierungen durch das pompös benannte "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933, das sich gegen politische Gegner der Nationalsozialisten wie gegen Juden richtete.

Nun haben die Nationalsozialisten ihre Macht in Deutschland nicht allein über Terror und Gesetze verfestigt. Sie gingen auch subtiler vor, wie Sie in Ihrem Buch am Beispiel des Lokalpolitikers Matthias Joseph Mehs beschreiben.

Der Gastwirt Mehs betätigte sich ebenfalls als fleißiger Tagebuchschreiber, seit 1929 war er für die katholische Zentrumspartei Mitglied der Stadtverordnetenversammlung in seiner Heimatgemeinde Wittlich in der Südeifel. Hitler war Mehs überaus zuwider, einmal notierte er über den Diktator: "Er hat ein gewaltiges Organ. Brüllt wie ein Stier. Ein reiner Triebmensch, der sich nicht zügeln kann, ihm fehlt alles Maß." Mehs' Tagebücher sind überaus aufschlussreich, weil sie bei der Beantwortung einer Frage helfen: Wie konnten die Nationalsozialisten im stark katholischen Wittlich, wo sie immer in der Minderheit gewesen sind, binnen einiger Monate die Hegemonie erringen? Die Antwort lautet: durch Mobilisierung.

Können Sie das näher ausführen?

So kurios es uns heute erscheinen mag: Fahnen spielten eine wichtige Rolle dabei. Nehmen wir den 21. März 1933 …

… den sogenannten "Tag von Potsdam", an dem Reichskanzler Adolf Hitler dem greisen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg öffentlichkeitswirksam die Hand schüttelte?

Genau. Dieser Tag wurde selbstverständlich auch in Wittlich begangen – und zwar in Form eines Festumzugs. Zu dem eben auch die Beflaggung der Häuser in der Stadt gehörte. Allerdings hängten viele Bürger nicht die Hakenkreuzfahne auf, sondern die schwarz-weiße-rote des Kaiserreichs. Es ging also zunächst gar nicht primär darum, dass sich die Menschen nun explizit zum Nationalsozialismus selbst bekannten, sondern um die Zustimmung zur "neuen deutschen Einheit". Die insbesondere der Handschlag zwischen Hitler und Hindenburg symbolisierte.

Auch im Hause Mehs wurde diskutiert, welche Flagge man hissen sollte.

Matthias Mehs hatte das Spiel durchschaut – und es abgelehnt, überhaupt zu flaggen. Was tat aber sein Vater? Er hisste heimlich eine weiß-rote Fahne, die Fahne Wittlichs. Denn zu so einem Ereignis keine Flagge herauszuhängen, war für viele Menschen kaum auszuhalten. So erodierte selbst in einer katholisch dominierten Region die Abneigung gegen die Nationalsozialisten. Denn die Mobilisierung ging die nächsten Monate weiter, an Hitlers Geburtstag am 20. April etwa, gefolgt vom 1. Mai. Und immer wieder bekamen die Nationalsozialisten, das was sie wollten: ein öffentliches Bekenntnis.

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Aber auch in Wittlich kam es zu Gewalt.

Ja. Der einzige kommunistischer Stadtrat wurde verhaftet. Aber es war die Doppelstrategie aus Gewalt und Mobilisierung, die den Nationalsozialisten bei der Etablierung ihrer Herrschaft half.

Nun stellen viele Menschen, die sich mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigen, die Frage: Hätten die Zeitgenossen nicht früher und zumindest in Ansätzen erkennen müssen, welche zerstörerische Wirkung das Regime entfalten sollte ?

Menschen machen sich Illusionen, sie sind auch aus verständlichen Gründen nicht in der Lage, die Situation insgesamt zu überblicken. Ferner neigen sie dazu, Plausibilität in Entwicklungen erkennen zu wollen, die sich als vollkommen unplausibel erweisen. Willy Cohns Schicksal ist ein Beispiel dafür: Seine Frau drängte ihn zur Ausreise aus Deutschland, aber Cohn rechnete nicht mit dem Schlimmsten – und konnte es auch gar nicht.

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Cohn hing auch stark an seiner Heimatstadt Breslau.

Richtig. Zudem hatten die deutschen Juden seit langer Zeit ihre Erfahrungen mit den Antisemiten gemacht. Es wird nicht alles so heiß gegessen, wie es gekocht wird – so dachte Cohn längere Zeit. Zu lange, wie sich dann herausstellen sollte.

1941 wurde Cohn mit seinen Angehörigen von Breslau nach Kaunas in Litauen deportiert und dort von der SS ermordet.

Die Ermordung der Familie Cohn geschah nach einer langen Reihung der Demütigung und Entrechtung. Aber die Geschichte dieser Familie zeigt ebenso, dass die deutschen Juden nicht wie die sprichwörtlichen Lämmer zur Schlachtbank geführt worden sind. Die Cohns haben seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 bis zu ihrer Ermordung 1941 immer wieder ihre Optionen erörtert und verworfen. Ausharren in Deutschland, ihrer Heimat? Oder der Gang ins Ausland, ins Ungewisse? Zwischen diesen beiden Polen bewegten sich ihre Gedanken.

Niemand konnte sich 1933 oder auch 1938, als während der Reichspogromnacht die Synagogen in Deutschland brannten, vorstellen, dass die Verfolgung der Juden in einem millionenfachen Mord enden würde.

Richtig. Was später an Orten wie Auschwitz und Majdanek, Treblinka und Sobibor geschehen sollte, lag damals fern jeder Vorstellungskraft. Es ist auch kein Wunder, selbst wir in unserer Zeit sind bis heute fassungslos angesichts der Dimensionen der begangenen Verbrechen.

Sind wir also bis heute zu naiv, was das Ausmaß der Gewalt angeht, die Menschen bis heute einander antun können?

Ich fürchte ja. Nehmen wir das Massaker von Srebrenica im Jahr 1995. Eigentlich sollten niederländische Blauhelmsoldaten die Zivilisten in der Schutzzone vor den Truppen des bosnisch-serbischen Generals Ratko Mladić schützen. Die Niederländer haben dabei versagt. Einerseits durch Wegschauen, andererseits aber wahrscheinlich im Glauben, dass niemand ein Massaker mit mehreren Tausend Toten durchführen würde. Derartige Massenerschießungen hatte es in Europa zuletzt im Zweiten Weltkrieg gegeben. Nun erleben wir solche Kriegsverbrechen wieder in der Ukraine.

Der Völkermord in Ruanda wäre ein anderes Beispiel für das Versagen der internationalen Gemeinschaft. Er geschah ein Jahr vor Srebrenica.

In der Tat. Aus der Retrospektive erscheint es uns heute surreal. Vor dem Ausbruch der Gewalt empfahl der Befehlshaber der UN-Truppe vor Ort unmissverständlich, die Hutu zu entwaffnen, bevor sie sich an der Minderheit der Tutsi vergreifen konnten. Was unternahm der UN-Sicherheitsrat? Nichts. Und das geschah unter Kofi Annan, der später sicher einer der eindrucksvollsten Generalsekretäre in der Geschichte der Vereinten Nationen gewesen ist. Aber auch Annan konnte nicht glauben, dass ein derartiger Ausbruch der Gewalt möglich sein könnte.

Historische Beispiele für Massenmord und Genozid gibt es zuhauf. Warum sind die westlichen Staaten wie auch die Vereinten Nationen nicht besser vorbereitet, derartige Verbrechen zu verhindern?

Wir vergessen immer wieder, dass die Täter in ihrem Handeln einer eigenen Logik folgen. Während des Holocaust glaubten die jüdischen Menschen in den Ghettos, dass sie überleben könnten, da sie ja Zwangsarbeit für die Deutschen leisteten. Die nationalsozialistischen Täter aber sahen in den Juden nicht nur Arbeitskräfte, sondern vor allem gefährliche Feinde, die vernichtet werden müssten, um den Krieg zu gewinnen.

Womit wir auch wieder den Kreis zum Anfang des Interviews schließen. Sie sagten, dass wir uns immer der Gefahr gewahr sein müssen, dass unsere Wertvorstellungen nicht allgemein geteilt werden. Was Putin mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine bewiesen hat.

Wobei insbesondere Putins Behauptung, die Ukraine "entnazifizieren" zu wollen, vollkommener Unsinn ist. Das ist pure Propaganda, um der russischen Bevölkerung glauben zu machen, es gäbe dieselbe Frontstellung wie im Zweiten Weltkrieg, als die Rote Armee gegen das NS-Regime kämpfte.

Professor Wildt, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Michael Wildt via Videokonferenz
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