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Das Sandwunder von Sylt


Wachsende Insel
Das Sandwunder von Sylt

spiegel-online, Axel Bojanowski, Anne Martin

17.02.2016Lesedauer: 5 Min.
Rotes Kliff auf Sylt: Die Insel wächst fast überall.Vergrößern des BildesRotes Kliff auf Sylt: Die Insel wächst fast überall. (Quelle: imago/Westend61)
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Sylts Südspitze bricht. Doch Forscher erkennen erstaunliche Änderungen in der Landschaft, die zeigen: Insgesamt wird Sylt größer. Ursache ist eine Revolution im Küstenschutz.

Spaßmacher wollten bereits die Rasierklinge ansetzen an den berühmten Syltaufklebern, die an Autohecks prangen - und den unteren Teil der Sticker abkratzen.

Denn: Sylts Süden schwindet, die Hörnumer Odde könnte schon bald von der Nordsee verschlungen werden. Pessimisten sehen Deutschlands größte Nordseeinsel zerfallen.

Doch Überraschendes geht vor. Die Insel bröckelt nur im Süden, insgesamt wächst sie - "fast auf ganzer Länge", sagt Karsten Reise, Küstenforscher am Alfred-Wegener-Institut auf Sylt.

Rund 20 bis 50 Meter breit sei der Sandzuwachs an Sylts Westküste. Mancherorts, etwa an der Nordspitze, zeigen Luftaufnahmen Sandhaken, die ins Meer wuchern. Am Rand der Strände wachsen kleine Hügel, sie schmiegen sich an die großen Dünen dahinter.

Was ist geschehen? Jahrhunderte dominierten Untergangsprognosen. Eine starke Sturmflut würde Sylt teilen, die Insel untergehen wie andere friesische Inseln zuvor.

Tatsächlich könnte eine starke Sturmflut das Eiland zerreißen: Im Norden etwa, wo sie unterhalb des sogenannten Ellenbogens nur 300 Meter schmal ist und auch schon mal von der Nordsee komplett überspült wurde. Oder im unteren Drittel südlich von Puan Klent, wo lediglich eine flache, 600 Meter breite Dünenlandschaft beide Küsten trennt.

Kein Watt schützt Sylt

Auch seine exponierte Position bringt Sylt in Gefahr - die lange Insel bietet der Nordseebrandung ihre ganze Breite. Kein flaches Watt bremst die Wellen: Westlich fällt der Meeresboden tiefer als zehn Meter, entsprechend heftig kann das Wasser in Wallung geraten.

Früher bauten die Sylter ihre Siedlungen deshalb auf Anhöhen im Osten der Insel. Doch der Tourismus trieb Menschen an die Westküste. Zuvorderst liegt Westerland, Sylts größte Siedlung. Eine gut drei Meter hohe Mauer schützt ihre Promenade. Reicht das?

Wissenschaftler geben sich gelassen: "Ich sehe kaum eine Gefahr", sagt Karsten Reise. "Wir haben kein Problem", meint auch Manfred Uekermann, Vorsitzender des Landschaftszweckverbands Sylt.

Die Zuversicht gründet auf einer Revolution im Küstenschutz, die vor gut 40 Jahren begann.

Sand kann Inseln wachsen lassen

Deutsche Meeresforscher hatten Mitte des vergangenen Jahrhunderts eine interessante Erfahrung aus den USA mitgebracht. Dort waren Inseln vor dem Zerfall bewahrt worden, indem Sand vor ihre Küsten gespült wurde. Meeresströmungen und Wind sorgten dafür, dass sich die Partikel auf natürliche Weise verteilten - die Inseln wuchsen.

Anfang der Siebziger gab es ein erstes Experiment vor Sylt. Aus dem Watt im Osten der Inseln leiteten Schläuche Sand quer über die Insel - vor der Westküste spuckten sie das Sediment wieder aus.

Doch dann kam die Stunde der Bedenkenträger.

Sand für den Küstenschutz? Die Sylter sahen ihre Insel unter einer Glocke aus Staub versinken: Haben wir dann immer Sand in den Augen, fragten sie. Zerkratzen Sandstürme unsere Autos? Wehen sie unsere Parkplätze zu?

Wer konnte schon wissen, wohin Wind und Wellen die Partikel treiben würden? Der kostbare Sand, so erzählte man sich, würde direkt zu den Nachbarinseln Amrum und Rømø driften.

Stur pochten die Friesen auf traditionelle Methoden: Hatten ihre Vorfahren nicht seit dem 19. Jahrhundert mit Strandhafer Wanderdünen gefestigt? Hielten die verzweigten Gräser mit ihren tiefen Wurzeln den Sand nicht so effektiv, dass die Küstenlinie einigermaßen stabil blieb?

Allerdings brachen weiterhin Sturmfluten über die Insel herein. Und im Osten fehlte nun Sand - der Strandhafer hielt ihn im Westen.

So griffen die Friesen zu rustikalen Methoden, und die brachten Erfolge - so schien es zumindest: Die Sylter bauten Mauern an ihre Küste und verlegten vierbeinige Betonklötze, sogenannte Tetrapoden.

Sie nahmen die Steine von Hünengräbern

Bald aber zeigten sich die Nachteile dieser Maßnahmen: Die Mauern schützten zwar vor Brandung, doch vor ihnen räumte das Meer umso mehr Sand ab. Und die Wirkung der Tetrapoden offenbart sich an Sylts Südspitze eindrucksvoll: Die Hörnumer Odde schwindet, seit die Tetrapoden an ihrer nördlichen Grenze liegen.

Eine zweite Tetrapoden-Kette wirkt dort noch gravierender: Sie verläuft vor der Odde vom Strand im rechten Winkel ins Meer - und fängt den Sand ab, der zuvor an die Odde strömte.

Solch künstliche Hindernisse - seit Jahrhunderten als Buhnen bekannt - sammeln Sand vor Küsten, die von Abtragung bedroht sind. Früher nutzten die Sylter Steine von Hünengräbern als Buhnen.

Das Problem ist immer das gleiche: Politiker fordern Buhnen, Tetrapoden und Mauern, solange sie nur für ihren eigenen Ort verantwortlich sind - und nicht für die Umgebung.

In der Kersig-Siedlung bei Hörnum war es der ehemalige Bundesverkehrsminister Christoph Seebohm, der dort ein Ferienhaus besaß, dem die Nordsee näherzukommen drohte.

In den Sechzigerjahren ließ er Hunderte Tetrapoden vor die kleine Siedlung setzen. Und tatsächlich hatte der Minister seine Siedlung damit erfolgreich gesichert. Dafür wüteten die Fluten in der Nachbarschaft umso stärker - dort zerfällt die Odde.

Wollten die Sylter nicht ihre gesamte Küste einmauern, mussten sie sich etwas anderes einfallen lassen. Unter Protest vieler Anwohner griffen sie in den Achtzigern die Idee der Sandvorspülungen auf.

Die Natur rettet sich selbst

Diesmal holten sie den Sand aber nicht aus dem Watt, stattdessen saugten Schiffe ihn mit Schläuchen gut zehn Kilometer westlich von Sylt aus tieferem Wasser. Sie brachten ihn vor die Küste, wo sich eine Luke im Rumpf öffnete, sodass der Sand ins Wasser rauschte. Oder sie spülten ihn mit Schläuchen an die Strände.

Jetzt begann die Natur ihr rettendes Werk.

Die Strömung der Nordsee treibt den Sand an Sylts Westküste, wo sie sich vor Westerland in eine Nord- und eine Südströmung spaltet. Dort wandern kleine, unbeständige Sandinseln, lagern sich an den Strand, werden erneut mitgerissen.

Bald bemerkten die Sylter, dass sich etwas veränderte. Bislang waren die großen Dünen meist steil zum Strand geneigt. Nun hatten sich davor in eigens angelegten Fangzäunen aus Reisig kleine Sandwälle angehäuft. "Wir haben lernen müssen, mit der Natur zu planen, nicht gegen sie", resümiert Helge Jansen, Vorsitzender der Stiftung Küstenschutz auf Sylt.

Mittlerweile fahren die Sandschiffe regelmäßig, sie schütten jährlich zwischen einer und anderthalb Million Kubikmeter Sand vor die Westküste; mit der Menge ließen sich 400 bis 600 olympische Schwimmbecken füllen.

Gut sechs Millionen Euro kosten die jährlichen Vorspülungen den Steuerzahler. Der Sand komme der gesamten nordfriesischen Küste zugute, sagt Jansen: Die Insel wirke als Wellenbrecher für das Hinterland.

Stürme und Strömungen treiben allerdings große Mengen Sand von Sylt weg, fast eine Million Kubikmeter verliert die Insel im Jahr, also fast so viel wie die Schiffe vor die Insel spülen. Der Sand driftet in die Nachbarschaft. Vor der Südspitze Sylts etwa wuchern unter Wasser Sandbänke in Richtung Amrum.

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Der Sand lasse den Boden des Wattenmeers mitwachsen mit dem Anstieg des Meeresspiegels, sagt Karsten Reise. Schleswig-Holstein möchte deshalb das Sandwunder am liebsten aufs gesamte Wattenmeer ausdehnen.

So wäre die Südspitze zu retten

Denn im schlimmsten Fall, warnt Inselexperte Uekermann, könnte der Meeresspiegelanstieg das Watt ertrinken lassen: Es würde bei Ebbe nicht mehr trockenfallen, Watt-Lebewesen würden verschwinden.

Im neuen "Strategieplan Wattenmeer" verpflichtet sich Schleswig-Holstein dem Erhalt des Wattenmeers. Forscher haben Experimente gestartet, die zeigen sollen, ob Sandspülungen dem gesamten Watt zugutekommen können.

Selbst Sylts Süden scheint noch nicht verloren. Er ließe sich mit ein paar Sandrationen retten, meint Reise. Voraussetzung sei allerdings, dass die sandfressende Tetrapoden-Buhne beseitigt würde.

Und wenn dann doch eine Sturmflut die Insel an ihren schmalen Stellen durchbrechen würde? "Das macht nix", sagt Reise. Solch ein Graben ließe sich zuschütten. Sand drauf, den Rest regelt die Natur.

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