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Berlin: Telefonseelsorge – Diese Probleme haben Menschen in der Hauptstadt


Warum Menschen bei der Telefonseelsorge anrufen
"Die Berliner sind ständig mit Elend konfrontiert"


Aktualisiert am 05.04.2024Lesedauer: 5 Min.
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Ein Mitarbeiter nimmt in der Dienststelle des Telefonseelsorge Berlin e.V. Anrufe entgegen: Die Telefonseelsorge unter der Rufnummer 0800 111 0 111 ist rund um die Uhr besetzt.Vergrößern des Bildes
Ein Mitarbeiter nimmt in der Dienststelle der Telefonseelsorge Berlin e. V. Anrufe entgegen: Die Telefonseelsorge unter der Rufnummer 0800 111 0 111 ist rund um die Uhr besetzt. (Quelle: Telefonseelsorge Berlin e.V.)

Die Telefonseelsorge ist ein niedrigschwelliges Angebot, das von vielen Menschen genutzt wird. Eine Leiterin der Telefonseelsorge Berlin hat t-online erzählt, über welche Probleme die Berlinerinnen und Berliner am Telefon sprechen.

Im Dienstzimmer der Telefonseelsorge Berlin klingelt ein Telefon. Worüber möchte der Mensch am anderen Ende der Leitung sprechen? Ist er einsam, krank, hat Angst oder weiß einfach nicht mehr weiter? Der Anrufer kann sicher sein: Er findet mit seinem Thema ein offenes Ohr. Denn die Mitarbeiter sind darin geschult, Menschen zuzuhören, die sich verletzlich zeigen. Manchmal sind sie die einzigen Zuhörer, die die Anrufer in ihrem Leben haben.

"Es geht nicht darum, jeden Tag Leben zu retten. Nicht jedes Gespräch ist gleich ein Seelsorgegespräch", sagt Bettina Schwab zu t-online. Sie ist die fachliche Leiterin der Telefonseelsorge Berlin in der Nansenstraße in Neukölln. Oft gehe es in den Gesprächen um das Leid im Banalen, um Alltagsprobleme, die die Anrufer nicht mehr ertragen können. Häufig geht es einfach nur ums Zuhören – weil es sonst keiner tut.

Mitarbeit von drei Jahren von Ehrenamtlichen erwartet

Die Telefonseelsorge Berlin beschäftigt neun hauptamtliche und rund 100 ehrenamtliche Mitarbeiter. Um sich bei dem eingetragenen Verein engagieren zu können, müssen Interessierte an einem Bewerbungsverfahren teilnehmen und eine eineinhalbjährige Ausbildung absolvieren. Pro Jahr gibt es zwei Ausbildungskurse mit jeweils 14 bis 16 Ehrenamtlichen.

Danach wird von den Freiwilligen erwartet, dass sie mindestens drei Jahre lang etwa zwölf Stunden pro Monat ehrenamtlich im Telefondienst tätig sind. "Viele halten die drei Jahre nicht durch. Das ist nicht leicht zu schaffen", sagt Bettina Schwab – nicht, weil sie nicht wollen. Berufliche und private Veränderungen führten oft dazu, dass Menschen ihr Ehrenamt aus Zeitgründen aufgeben.

Die Arbeit in der Telefonseelsorge kann nur vom Büro aus erfolgen. In der Telefonseelsorge Berlin sind zwei Dienstzimmer mit je einer Telefonleitung rund um die Uhr besetzt. Die Möglichkeit, von zu Hause aus zu arbeiten, gibt es bei der Telefonseelsorge bundesweit nicht. Der Dachverband TelefonSeelsorge® Deutschland e.V. hat dazu gewisse Standards definiert. Um die eigene psychische Gesundheit nicht zu gefährden, sei eine räumliche Trennung von Telefonseelsorge und Privatleben wichtig.

Derzeit ist die Telefonseelsorge Berlin nur telefonisch erreichbar. In Zukunft soll es auch möglich sein, mit den Ehrenamtlichen zu chatten oder E-Mails auszutauschen.

Telefonseelsorge Berlin

Die Telefonseelsorge Berlin ist die älteste Telefonseelsorge in Deutschland. Am 5. Oktober 1956 begann die "Lebensmüdenbetreuung" im Berliner Stadtteil Charlottenburg mit der Bekanntgabe der privaten Rufnummer 32 01 55 durch das Ehepaar Helene und Julius Wissinger, die damit als erste deutsche Telefonseelsorger gelten.

"Jeder Ratschlag ist für den Anrufer ein Schlag"

Das Durchschnittsalter der Ehrenamtlichen liegt bei 56 Jahren, die älteste Mitarbeiterin ist 86 Jahre alt. "Wir haben in Berlin großes Glück. Wir bekommen Bewerbungen aus allen Altersgruppen", sagt Bettina Schwab. Sie vermutet, dass es an der Stadt selbst liegt, dass sich Menschen engagieren wollen. "In Berlin sind die Menschen mit besonderen Problemen konfrontiert. Sie sehen viel Elend auf der Straße, viele erleben am eigenen Leib, was es heißt, einsam zu sein", erklärt die Diplom-Psychologin. Viele, die sich in Berlin ehrenamtlich engagieren wollen, hätten zudem selbst Krisen erlebt und wüssten, wie wichtig es sei, sich Hilfe zu holen.

Aber nicht jeder ist für die Arbeit als Telefonseelsorger geeignet. In den Auswahlgesprächen wird versucht, die Reflexionsfähigkeit der Bewerber einzuschätzen. "Dem Ehrenamtlichen muss klar sein: Wir sind keine Beratungshotline. Wir sind aktive Zuhörer. Jeder Ratschlag, den wir geben wollen, ist für den Anrufer ein Schlag", erklärt Schwab. "Ein Ehrenamtlicher sollte empathisch, neugierig, vorurteilsfrei und belastbar sein", sagt sie.

Menschen in Berlin haben vielfältige Probleme

Denn die Probleme und Themen, die die Anrufer mitbringen, sind vielfältig. Wenn Leute aus Berlin anrufen, sei vor allem die Einsamkeit "ein Klassiker unter den Sorgen". "Viele Menschen haben nur oberflächliche Kontakte, ihre Familien sind nicht in der Nähe, sie fühlen sich von ihren Mitmenschen abgelehnt", nennt Bettina Schwab Beispiele aus den Seelsorgegesprächen.

"In Berlin haben manche Probleme eine besondere Brisanz", sagt Schwab. Obdachlosigkeit zum Beispiel gebe es auch in anderen Städten, aber in Berlin sei sie besonders sichtbar. "Die Berliner sind ständig mit Elend konfrontiert. Die Leute nehmen Drogen auf der Straße. Viele sind frustriert über die Entwicklung der Stadt in den letzten Jahren", sagt die Leiterin.

Hörer klingelte oft, als trans Frau in Berlin starb

Es kann ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren sein, warum Menschen in Berlin zum Hilfetelefon greifen. Zur Einsamkeit und Sichtbarkeit der Not kommen Stress und Hektik. Berlin ist eine sehr dicht besiedelte Stadt. Staus und überfüllte Verkehrsmittel sind an der Tagesordnung. Die hohen Mieten in Berlin können zu finanziellen Schwierigkeiten führen. Hinzu kommt, dass es für manche Menschen schwierig ist, sich beruflich auf dem Arbeitsmarkt zu etablieren, weil die Konkurrenz so groß ist. Auch die leichte Verfügbarkeit von Drogen sei ein Problem.

Die Berliner wenden sich auch an die Telefonseelsorge, wenn in der Stadt Schreckliches passiert. Als sich beispielsweise 2021 die trans Frau Ella am Alexanderplatz mit Benzin übergoss und anzündete, riefen viele Menschen bei den Ehrenamtlichen an, erinnert sich Bettina Schwab.

Eine ältere Frau tippt auf einem Festnetztelefon (Symbolbild): Die Anrufe bei Telefonseelsorgen haben durch die Pandemie zugenommen.
Eine ältere Frau tippt auf einem Festnetztelefon (Symbolbild): Die Ehrenamtlichen der Telefonseelsorge Berlin hören hin. (Quelle: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)

Telefonseelsorge Berlin in Zahlen

Eine Auswertung der Gesprächsdokumentationen aus dem Jahr 2023 zeigt, dass über 65 Prozent der Anrufer weiblich waren. 34 Prozent der Anrufenden waren zwischen 40 und 59 Jahre alt. Knapp 30 Prozent waren zwischen 60 und 70 Jahre alt. Die meisten Menschen, die sich an die Telefonseelsorge wandten, lebten allein (62 Prozent).
Fast die Hälfte der Anrufenden war erwerbsunfähig oder im Ruhestand. Ein Gespräch mit der Telefonseelsorge dauert im Durchschnitt etwa eine halbe Stunde. Die meisten Menschen (95,7 Prozent) nennen am Telefon nicht ihren Namen. Die häufigsten Gesprächsthemen sind Einsamkeit, gefolgt von körperlichen Beschwerden, familiären Beziehungen, depressiven Verstimmungen, Alltagsbeziehungen und Ängsten. In etwa zehn Prozent aller Gespräche geht es um Suizidgedanken oder den Suizid eines anderen.

"Telefonseelsorge wird kaputtgespart"

Die Telefonseelsorge sei ein sehr niederschwelliges Hilfsangebot, deshalb werde sie von vielen Menschen in Anspruch genommen – und der Bedarf steige, auch weil Therapieplätze fehlten, so Schwab: "Die große Welle der psychischen Erkrankungen kommt erst noch, und in diesen Zeiten wird ein so wichtiges Angebot wie die Telefonseelsorge kaputtgespart." Im Idealfall müsse es noch mehr Hauptamtliche geben, die all die Ehrenamtlichen organisieren und ausbilden, damit die Erreichbarkeit der Telefonseelsorge gewährleistet ist.

Doch dafür fehlt das Geld. Hier sieht Bettina Schwab die Politik in der Pflicht, ein wichtiges Angebot wie die Seelsorge am Telefon finanziell zu fördern. Die Telefonseelsorge Berlin e. V., die älteste deutsche Einrichtung dieser Art, ist kirchlich ungebunden und finanziert sich überwiegend aus privaten Spenden. Die überwiegende Zahl der Telefonseelsorge-Stellen in Deutschland werden im Wesentlichen aus den Kirchenkassen finanziert.

Telefonseelsorge ist Präventionsarbeit

Ein Gespräch bei der Telefonseelsorge ersetzt keine Therapie, das soll es auch nicht. Aber was die Ehrenamtlichen täglich am Telefon leisten, ist für Bettina Schwab Präventionsarbeit. Für Menschen kann ein Anruf bei der Telefonseelsorge ein erster Schritt nach vorne sein, ein Schritt aus der Isolation, aus dem Dunkel. "Hier geht es wirklich um etwas", sagt die Psychotherapeutin. Mit einer Projektgruppe kämpft Schwab derzeit um Geld vom Senat, damit sie und ihre Mitarbeiter ihre wichtige Arbeit mit ihrem Qualitätsanspruch fortsetzen können.

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Die Telefonseelsorge Berlin hat ihren Sitz in der Nansenstraße 27 in 12047 Berlin. Sie ist kostenlos, anonym und rund um die Uhr unter der Nummer 0800 111 0 111 erreichbar. Telefonseelsorge-Angebote liegen auch in weiteren Sprachen vor.

Im Jahr 2016 wurde neben der Telefonseelsorge ein zweites Projekt ins Leben gerufen: Die BeSu Berlin (Beratung für suizidbetroffene Angehörige). Die BeSu bietet sowohl Einzelgespräche nach Terminvereinbarung als auch Gruppenangebote an.

Wer bei der Telefonseelsorge Berlin ehrenamtlich arbeiten möchte, kann sich hier bewerben.

Verwendete Quellen
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