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Frankfurt/Hessen: Wie der Krieg in der Ukraine eine Familie entzweit


Flucht nach Deutschland
Wie der Krieg in der Ukraine eine Familie entzweit

Von Stefan Simon

Aktualisiert am 01.03.2022Lesedauer: 4 Min.
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Yana Dudka (links) und ihre Schwiegermutter Valentyna auf dem Weg nach Deutschland: Die Kinder dachten, dass sie in den Urlaub fahren.Vergrößern des Bildes
Yana Doodka (links) und ihre Schwiegermutter Valentyna auf dem Weg nach Deutschland: Die Kinder dachten, dass sie in den Urlaub fahren. (Quelle: Privat/leer)

Eine ukrainische Familie flüchtet über 20 Stunden an die Grenze zu Polen, um dem Krieg im eigenen Land zu entkommen. Die Frauen sind jetzt in Sicherheit – aber die Männer müssen bleiben.

Es ist 5 Uhr morgens am 24. Februar. In Irpin, am Stadtrand von Kiew, klingelt bei Yana Doodka das Telefon. "Es waren Freunde am Hörer. Sie sagten, dass sie Raketenschüsse hörten", erzählt sie. Yana und ihr Ehemann reagieren sofort. Sie packen all ihr Habseligkeiten in einen Koffer und verlassen mit ihren beiden vierjährigen Kindern Irpin. Sie fahren in ein Bauernhaus, das der Familie gehört, 100 Kilometer entfernt von Kiew.

Etwa zur selben Uhrzeit rund 90 Kilometer entfernt von Kiew in dem kleinen Ort Bila Tserkva wird Valentyna Doodka von Sirenengeheul geweckt. Dann hören Valentyna und ihr Ehemann die erste Explosion. Auch sie packen ihre Koffer. Auch sie fahren in das Bauernhaus.

Es ist der Tag, der die ganze Welt in Atem halten soll. Russland greift die Ukraine an. Ein Angriffskrieg, in einem Ausmaß, den Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebte. Zum jetzigen Zeitpunkt sind nach Angaben der Vereinten Nationen über eine Million Menschen bereits aus der Ukraine geflüchtet.

Nach ersten Unsicherheiten fahren sie los Richtung Grenze

Bei Anna Doodka in Brachttal, etwa 70 Kilometer entfernt von Frankfurt, klingelt am Tag der Invasion das Telefon. Ihre Familie in der Ukraine ist am Telefon – Valentyna ist ihre Mutter, Yana ihre Schwägerin. "Sie sagten, dass alles okay sei. Sie wussten nicht, ob sie fliehen sollten. Meine Schwiegermutter bot ihnen direkt an, dass sie nach Brachttal in ihr Haus kommen sollen", erzählt Anna. Doch ihre Familie überlegte zunächst, ob die Flucht überhaupt sicher sei, besonders wegen der Kinder. Denn die Fahrt bis an die polnisch-ukrainische Grenze dauert unter normalen Umständen bereits neun Stunden.

Die Flucht nach Deutschland erscheint ihnen dennoch als der sicherste Weg: Bereits am nächsten Morgen ist es so weit. Die Doodkas fahren gegen 11 Uhr mit dem Auto los. Sie meiden den Weg über die Autobahn, nach rund 14 Stunden sind sie in der Nähe der Grenze. Stets dabei: die Ungewissheit, ob sie es wirklich bis nach Polen schaffen. "Das Schrecklichste waren die Sirenen. Immer wieder, wenn wir durch einen Ort oder durch eine Stadt fuhren, hörten wir diese Sirenen", berichtet Valentyna Doodka.

Aber in Panik auszubrechen, kam für sie nicht infrage. "Wir hatten diese Aufgabe und die mussten wir erledigen. Wir mussten uns zusammenreißen, ganz besonders für die Kinder", sagt sie. Sie hatten keine Zeit, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Keine Zeit, zu weinen.

Geflüchtete Ukrainerin: "Meine Kinder dachten, dass wir in den Urlaub fahren"

"Ich hatte sehr große Angst um meine Kinder. Ich musste mich darauf fokussieren, sie aus dem Land zu bringen", sagt Yana Dudka. Ihre beiden vierjährigen Kinder bekommen von all den Sorgen, der Angst, der Panik, nichts mit. "Sie dachten, dass wir in den Urlaub fahren", sagt Yana Dudka.

Etwa zur selben Zeit steigen Anna Dudka und ihr Ehemann ins Auto und fahren Richtung polnisch-ukrainische Grenze. Gegen 3 Uhr nachts, am 26. Februar, kommen sie an. "Auf der polnischen Seite war alles relativ gut organisiert. Es gab Wasser und Kekse für die Geflüchteten. Viele Autos standen dort. Auf etwa zwei Kilometern waren Menschen zu sehen. Sie standen mitten auf einem Feld, saßen oder gingen spazieren", erinnert sich Anna Dudka.

Wo aber ihre Familie ist, weiß sie zu dem Zeitpunkt nicht. Denn immer wieder bricht das Mobilfunknetz zusammen, als sie mit ihrem Bruder telefoniert.

Acht Kilometer vor der Grenze müssen sie zu Fuß gehen

Ein paar Stunden zuvor, auf der anderen Seite der Grenze, parkt Yanas Ehemann – Annas Bruder – das Auto. Sie stehen in einem acht Kilometer langen Stau. Sie sehen keinen anderen Weg, als zu laufen. Ob auf der anderen Seite Anna warten wird, ist unsicher, sie wissen nicht genau, ob sie am gleichen Grenzübergang ankommen. Doch dann treffen sie sich.

Anna kann ihre Mutter und ihre Schwägerin in die Arme nehmen – doch Vater und Bruder müssen in der Ukraine bleiben. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi hatte zuvor angeordnet, dass alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren nicht mehr ausreisen dürfen. Sie müssen bleiben, um für ihr Land zu kämpfen.

Ukrainische Familie rechnete nicht mit Invasion

Nun sitzen Valentyna, Yana und Anna Dudka sowie die beiden Kinder bei Annas Schwiegereltern in Brachttal. Weit weg von Vater, Bruder, Ehemännern. Diese warten auf die Mobilisierung in den Krieg. "Mein Vater ist eigentlich Professor an der Universität. Jetzt ist er im Schichtdienst als Wachmann", berichtet Anna.

Die Sorgen steigen. Denn die Angriffe auf die ukrainischen Städte haben in den letzten zwei Tagen zugenommen. Auch in ihrer Heimatstadt Irpin, am Stadtrand von Kiew, gab es Angriffe.

Wie viele Menschen in Europa, waren auch Anna, Valentyna und Yana überrascht, dass Russland die Ukraine angegriffen hat. "Nach Putins Rede machten wir uns schon Sorgen. Wir konnten uns aber niemals vorstellen, dass so etwas passiert, dass er das ganze Land angreift", erzählt Valentyna Dudka.

Sie stehen nach wie vor unter Schock. "Letzte Nacht konnten wir das erste Mal schlafen", sagt Anna. "Du kannst nichts essen, nicht atmen, nichts machen. Man kann über nichts nachdenken", sagt sie. Jeden Tag erhalte Anna Videos von ihren Freunden aus der Ukraine. "Jetzt wird dort bombardiert, jetzt dort, du kannst dich nicht davon entfernen."

Yana Dudka: "Demonstrationen sind mehr als nur ein symbolischer Akt"

Aber die Frauen nehmen auch positive Dinge wahr, etwa die Solidarität in Deutschland. "Wenn in Berlin eine halbe Million Menschen auf die Straße gehen, dann ist das mehr als nur ein symbolischer Akt. Danach hat Deutschland entschieden, Waffen an die ukrainische Armee zu schicken", sagt Yana. Und Valentyna ergänzt: "Die Demonstrationen bringen nicht nur Wärme, sondern wirklich auch Ergebnisse." In Brachttal fragten Freunde und Nachbarn, wie sie der Familie helfen könnten. Den Kindern brachten sie Spielzeug vorbei, berichtet Anna.

Wie es nun weitergehen soll, wissen die Dudkas nicht. Man könne Putin nicht einschätzen. "Ich hoffe einfach nur, dass der Krieg bald vorbei ist", sagt Valentyna. Yana glaubt, dass die Gefechte nicht mehr lange anhalten. "Putins Ressourcen sind ausgeschöpft. Wenn wir weiter von der internationalen Gemeinschaft Waffen und militärische Ausrüstung bekommen, dann wird der Krieg nicht mehr lange dauern." Geflüchtet ist sie – doch aufgeben will sie ihr Land niemals.

Verwendete Quellen
  • Video-Gespräch mit Yana, Valentyna und Anna Dudka
  • Eigene Recherche
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