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Amoklauf in Alsterdorf: So verhinderte die Polizei Hamburg noch mehr Tote


Ein Jahr nach dem Amoklauf bei Zeugen Jehovas
"Achtung, Philipp schießt"


Aktualisiert am 09.03.2024Lesedauer: 8 Min.
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Durch ein zerbrochenes Fenster gelangte der Amokläufer Philipp F. in das Gebäude: Hinter dem Fenster fand die Zusammenkunft der Zeugen Jehovas statt.Vergrößern des Bildes
Durch ein zerbrochenes Fenster gelangte der Amokläufer Philipp F. in das Gebäude: Hinter dem Fenster fand die Zusammenkunft der Zeugen Jehovas statt. (Quelle: Gregor Fischer/Getty Images, privat; Montage: ha/t-online)

Vor einem Jahr tötete der Amokläufer Philipp F. sieben Mitglieder seiner ehemaligen Gemeinde der Zeugen Jehovas. Es ist eines der größten Verbrechen, das Hamburg erlebt hat.

Um 21.09 Uhr am 9. März 2023 erreicht die Polizeieinheit USE das Gebäude der Zeugen Jehovas in Hamburg-Alsterdorf. Die elf Beamten wissen zwar nicht, was sie im Inneren erwartet, als sie aus ihren Transportern springen. Die Aufgabe der Sondereinheit ist aber klar: Einen Angreifer ausschalten. Aus dem Haus der Glaubensgemeinschaft kommen dramatische Notrufe. Es ist von Schüssen die Rede.

Als die Polizisten am Einsatzort sind, sehen sie eine dunkel gekleidete Person, die hinter einer Glastür in einem Treppenhaus steht. Es kommt zum Blickkontakt, bevor der Mann die Treppe hochläuft. Wenige Sekunden später hören sie einen Schuss: Der Amokläufer Philipp F. hat sich seine eigene Waffe auf die Brust gesetzt und abgedrückt. Er ist sofort tot.

Der letzte Schuss

Es fällt nur noch ein letzter Schuss an diesem Abend, er kommt aus der Maschinenpistole eines Angehörigen der USE. Er zerstört so die Scheibe der schweren Eingangstür, die sich von außen nicht öffnen lässt. Mit einem Handgriff durch die Scheibe öffnet er die Tür.

Acht Menschen verlieren an diesem Abend ihr Leben. Unter ihnen ist auch ein sieben Monate alter Fötus, den Philipp F. im Bauch einer werdenden Mutter erschießt. Die Frau überlebt. Es ist anzunehmen, dass noch viel mehr Menschen gestorben wären, wenn die Polizei später vor Ort gewesen wäre. Eine Rekonstruktion des Abends.

"Mir kann man nicht mehr helfen"

Wochenlang wurde ermittelt, jede Minute des Abends nachgezeichnet. Um 18.52 Uhr setzt ein Taxi Philipp F. an einer Tankstelle ab, genau neben dem Haus der Zeugen Jehovas. Er trägt ein weißes Hemd, eine schwarze Stoffhose und einen dunkelblauen Parka mit Fellkragen. Während der Fahrt von seiner Wohnung in Altona schweigt er. F. bezahlt, gibt dem Fahrer Trinkgeld und steigt aus.

Der 35-Jährige kennt den Ort. Er wurde in eine Familie der Zeugen Jehovas im Allgäu geboren. In Hamburg schließt er sich der Gemeinde Winterhude an, die sich zweimal in der Woche in der Deelböge 17 versammelt. Noch heute hängt vor dem Gebäude ein Schild mit den wöchentlichen Zusammenkünften. Donnerstag, 19 Uhr. Seit der Tat werden die Räume nicht mehr genutzt.

An diesem Abend erkennen Gemeindemitglieder Philipp F. und freuen sich, dass er mal wieder da ist. Warum und unter welchen Umständen er die Gemeinde verlassen hatte, ist bis heute nicht geklärt. Aber er geht nicht hinein, sondern bleibt draußen. Mehr als zwei Stunden hält er sich in der Nähe des Gebäudes auf, er "tigert" herum, sagen Ermittler später. Mitarbeitern der Tankstelle, die ihn ansprechen, soll er gesagt haben: "Mir kann man nicht mehr helfen."

Das Licht fällt aus

Es ist 20.59 Uhr, die Zusammenkunft ist vorbei. F. läuft die Zeit davon, denn die erste Teilnehmerin verlässt mit ihrem Auto das Gelände der Zeugen Jehovas. Kurz zuvor hat er noch gegoogelt: "Welches Glas durchbricht 9-Millimeter-Patrone?" Als die zweite Frau aus dem Gebäude kommt und mit ihrem Wagen den Parkplatz verlassen will, schießt F. neunmal auf die Windschutzscheibe. Sie wird leicht verletzt und flüchtet. Es ist 21.01 Uhr.

Im Inneren des Gebäudes hören die Zeugen Jehovas die Schüsse auf das Auto. Eine Frau ruft: "Achtung, Philipp schießt." Dann fängt er an, durch die Scheiben auf die Menschen im "Königreichssaal" zu schießen. Ein Projektil aus seiner Heckler & Koch P30L trifft eine Stromleitung, das Licht geht aus. Durch ein zerbrochenes Fenster klettert er schließlich in den Saal. Auf dem Weg vor der Fensterfront werden später acht leere Magazine gefunden, in jedes davon passen 15 Patronen.

Um 21.03 Uhr geht in der Polizeieinsatzzentrale der erste von insgesamt 19 Notrufen aus der Deelböge ein. Die Nachtschicht hatte um 20 Uhr den Dienst aufgenommen. "Es war ein eher ruhiger, entspannter Donnerstagabend", sagt fast ein Jahr später Felix R. zu t-online. Er ist stellvertretender Dienstgruppenleiter in der Polizeieinsatzzentrale. Hier landen alle Anrufer aus Hamburg, die die 110 wählen. Sein Nachname wird zum Schutz seiner Privatsphäre gekürzt.

"In diesem Moment stand ich zufällig neben einer Auszubildenden und ihrer Ausbilderin in der Aufnahme, wo die Notrufe entgegengenommen werden", erinnert sich R. "Die Auszubildende hatte gerade einen Anruf angenommen, als ihre Ausbilderin eingriff und ihr die Tastatur wegnahm. Die Stimmung änderte sich schlagartig, als das Wort Schuss fiel."

Video | Augenzeuge filmt das Drama
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Quelle: t-online

Innerhalb von Sekunden nach dem ersten Notruf gehen weitere Anrufe ein. "Die Atmosphäre im Raum war konzentriert und angespannt, der Geräuschpegel ging hoch. Im System ploppte ein Einsatz nach dem anderen auf, alle mit dem Stichwort Schuss. Es war schlagartig klar: Da passiert etwas Schlimmes." Ohne zu überlegen, haben alle in der Einsatzzentrale funktioniert, sagt er.

Ein Glücksfall, inmitten des Schreckens

Die Anrufer in den Leitungen wissen, wer der Angreifer ist. Sie nennen seinen Namen: "Philipp. Ich höre ihn", sagt ein Anrufer. Die Beamten am anderen Ende konnten nichts tun. "Diese Hilflosigkeit auszuhalten, ist die große Herausforderung in einer solchen Situation. Man kann nur zuhören", sagt R.

Um 21.04 Uhr sind die Beamten der Sonderheit USE gerade wieder auf den Hof zurückgekehrt, direkt neben dem Polizeipräsidium. Von hier aus sind es nur genau zwei Kilometer zum Tatort. Ein Glücksfall, inmitten des Schreckens. Eigentlich ist gleich Feierabend, als die USE über Funk von den Schüssen erfährt.

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"Für genau solche Lagen ist die USE gemacht", sagt Lars Eggers zu t-online. Eggers ist Chef der Beweissicherungs- und Festnahmehundertschaft der Bereitschaftspolizei, zu der auch die USE gehört. Er schreibt in jener Nacht die Berichte zu dem Einsatz, noch frisch unter dem Eindruck des Erlebten schildert ihm dafür der Zugführer der USE minutiös alle Details.

Die USE ist eine mobile Einheit, die eine Lücke zwischen Streifendienst und Spezialeinsatzkommando, das zum LKA gehört, ausfüllen soll. USE steht für Unterstützungsstreife für erschwerte Einsatzlagen. Ein Trupp besteht aus zehn hoch ausgebildeten und schwer bewaffneten Beamten in drei Fahrzeugen. Sie können selbst entscheiden, wann sie eingreifen. An diesem 9. März sind es elf Männer, weil ein Hospitant der bayerischen Polizei dabei ist.

Einsatzzentrale muss Schüsse mitanhören

Ohne zu Zögern rast die USE los. Es ist 21.09 Uhr, als die Truppe vor Ort ist, wenige Augenblicke nach einem Streifenwagen. Schon auf der Anfahrt ist klar, es ist ernst. Die Beamten greifen nur nach ihren Waffen. Keine Helme, kein schwerer ballistischer Schutz: keine Zeit verlieren.

In der Einsatzzentrale gehen weitere Notrufe aus dem Gebäude der Zeugen Jehovas ein. Die Beamten müssen mitanhören, wie Philipp F. um sich schießt. "Die Menschen, die angerufen haben, haben teilweise aufgehört zu sprechen. Sie wurden erschossen, während sie den Notruf abgesetzt haben", berichtet der stellvertretende Dienstgruppenleiter R. Noch in der Nacht werden die Beamten von psychologisch geschulten Kollegen betreut.


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"Sein letzter Schuss war seine einzig gute Entscheidung an diesem Tag."


Lars Eggers, Chef der Sondereinheit USE


Am Einsatzort angekommen springt die USE vor dem unscheinbaren Gebäude aus ihren Transportern und steht vor der Glastür mit der Treppe dahinter. Sie sind die letzten Menschen, die Philipp F. sieht, bevor er sich im 1. Stock erschießt. Es ist 21.11 Uhr, als die Beamten im Gebäude sind. Dass sie gerade dem einzigen Täter in die Augen geschaut haben und er jetzt tot ist, wissen sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

"In solchen Situationen weiß jeder, was er machen muss und wie er sich zu bewegen hat", sagt Eggers. Taktisches Vorgehen heißt das im Polizeijargon. Nur von einem Schild geschützt, gehen sie hoch, finden den toten Philipp F. mit seiner Pistole in der Hand. Das Magazin ist leer. "Sein letzter Schuss war seine einzig gute Entscheidung an diesem Tag", sagt Eggers. Er ist froh, dass keiner seiner Leute den finalen Schuss setzen musste. "Das steckt niemand einfach so weg."

Der blanke Horror im "Königreichssaal"

Was die Einsatzkräfte der USE im Rest des Gebäudes vorfinden, ist der blanke Horror. In verschiedenen kleinen Räumen finden sie verängstigte, teils schwer verletzte Menschen. Die, die selbst gehen können, werden nach draußen geführt. Dort stehen mittlerweile viele Streifen- und Rettungswagen. Wer nicht offensichtlich ein Opfer ist, wird mit erhobenen Händen durchsucht. Andere werden an Armen und Beinen herausgetragen.

Vor der Tür übernehmen andere Polizisten die Schwerverletzten, bringen sie zu den Rettungskräften. "Da waren ganz junge Berufsanfänger dabei, teilweise erst seit wenigen Wochen ausgelernt. Jeder hat seinen Job gemacht", sagt Eggers.

"Die Kollegen haben mir später berichtet, wie absolut still es in dem Gebäude war. Es gab keine Schreie. Es war einfach nur ruhig." Hinter einer weiteren Glastür im Erdgeschoss entdecken Eggers Männer einen dunklen Raum. Es ist der "Königreichssaal", in dem die Versammlung stattfand. Die Fenster sind mit Einschusslöchern übersät. Die Lichtkegel an den Waffen der Polizisten fahren über den Boden und offenbaren den Schrecken: "Da lagen überall Menschen. Tote auf Lebenden, Lebende auf Toten."

Die Mitglieder der USE sind auf solche Situationen "konditioniert", sagt Eggers. Von Person zu Person gehen: "Lebt noch, lebt nicht." Um 21.19 Uhr, zehn Minuten nach Ankunft der USE, gibt der Zugführer per Funk durch: Das Gebäude ist sicher.

Obwohl Philipp F. seit 21.11 Uhr tot ist, herrscht noch lange Ungewissheit. Bei der Auswertung von Videoaufzeichnungen der benachbarten Tankstelle wird ein dunkler Schatten entdeckt. Ist er von Philipp F., kurz bevor er durch das Fenster in das Gebäude steigt oder ist er von einem zweiten, noch unbekannten Täter? Wegen dieser Unsicherheit durchsuchen USE und SEK noch eine angrenzende Baustelle, weitere Einheiten kontrollieren andere Gebäude der Zeugen Jehovas in Hamburg. Auch die Bevölkerung wird über Warn-Apps gewarnt.

"Den Rucksack Deelböge, den haben wir alle auf"

"Auch wir große Jungs haben mittlerweile gelernt, dass da oben viel passieren kann", sagt Eggers und zeigt auf seinen Kopf. "Ich kann noch so viel in die Muckibude gehen, wenn mein Kopf irgendwann sagt: Ich kann jetzt nicht mehr." Früher hätte man in solchen Situationen eine Flasche Cognac hingestellt, das "ist heute Gott sei Dank nicht mehr so". Auch die Spezialkräfte der USE sprechen noch in derselben Nacht mit Seelsorgern. "Den Rucksack Deelböge, den haben wir alle auf."

Die endgültige Entwarnung an die Bevölkerung geht am frühen Freitagmorgen um 3.54 Uhr raus. Am Mittag soll es eine Pressekonferenz geben, es werden weit mehr als 100 Journalisten mit Dutzenden Kameras kommen, auch aus dem Ausland. Der Amoklauf von Philipp F. gilt als das schwerste Gewaltverbrechen in der Geschichte der Hansestadt.

Die Ministerin kommt

Auch die Bundesinnenministerin Nancy Faeser kündigt sich für den nächsten Tag an. Um 12 Uhr klingelt deshalb bei Eggers das Handy. Er sitzt zu Hause, versucht die Nacht zu verarbeiten. Jetzt wird er in den Dienst gerufen, soll Frau Faeser treffen. "Die Innenministerin war sehr empathisch und hat viel zugehört", erinnert er sich. Seine Truppe hat er nicht mitgenommen. "Die wollte ich da raushalten."

Aus dem Einsatz hat die USE viel lernen können, sagt Eggers. Dieses Wissen wird jetzt an vergleichbare Einheiten im ganzen Land weitergegeben. Was nicht trainiert werden kann, ist der Umstand, dass die USE in anderen Teilen der Stadt nicht innerhalb weniger Minuten hätte da sein können. Ob Streifenpolizisten genauso entschlossen gehandelt hätten, lässt sich nicht beantworten. Hundertschaftsführer Lars Eggers sagt: "Die Örtlichkeit und ihre Nähe zu unserer Einheit war Glück. Mit Eintreffen vor Ort war es gute Polizeiarbeit."

Klar ist: Das schnelle Eingreifen hat Leben gerettet. Denn Philipp F. hätte wahrscheinlich noch viele mehr getötet. Der Rucksack, den er bei sich trug, war mit vollen Magazinen bepackt: 330 Schüsse, die nicht mehr fielen.

Hinweis: Falls Sie viel über den eigenen Tod nachdenken oder sich um einen Mitmenschen sorgen, finden Sie hier sofort und anonym Hilfe.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Gespräche mit Felix R. und Lars Eggers
  • Wortprotokoll der Sitzung des Innenausschusses der Hamburgischen Bürgerschaft am 6. April 2023
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