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Erdbeben in der Türkei | Kurden in Deutschland verzweifeln: "Ein Horrorfilm"


Angehörige sind verzweifelt
Kurden über Erdbebenkatastrophe: "Ein Horrorfilm"

  • Patrick Schiller ist t-online Regio Redakteur in Hannover.
Von Patrick Schiller

Aktualisiert am 08.02.2023Lesedauer: 4 Min.
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Die Musiker Jan Jiyan und Aydin Amara vor Luftbildern der Erdbebenkatastrophe (Montage): Beide erfahren durch ihre Bekanntheit in der deutsch-kurdischen Community viel vom Leid vor Ort.Vergrößern des Bildes
Die kurdischen Musiker Jan Jiyan und Aydin Amara vor Luftbildern der Erdbebenkatastrophe (Montage): Beide erfahren durch ihre Bekanntheit viel vom Leid vor Ort. (Quelle: ZUMA WireMontage: UF/t-online/privat/imago images)

Die Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien fordert Tausende von Menschenleben. Kurden in Deutschland versuchen verzweifelt, Angehörige zu erreichen.

Die Nachricht der Erdbebenkatastrophe in der Südosttürkei und in Teilen Syriens, bei der laut aktuellen Zahlen mehr als 11.200 Menschen (Stand Mittwoch, 12 Uhr) getötet, viele weitere Tausende verletzt und nun mitten im türkischen Winter obdachlos geworden sind, schockiert Menschen weltweit. Doch wie gehen Kurden mit der Nachricht und den Bildern aus ihrer Heimat um? Laut aktuellen Schätzungen leben zwischen 500.000 und 1,5 Millionen Menschen kurdischer Abstammung in Deutschland.

Unter ihnen sind auch die Musiker Aydin Amara aus Hannover und Jan Jiyan aus Aachen. Amara wurde in Hannover geboren, Jiyan stammt aus der südostanatolischen Stadt Mardi, nahe dem Zentrum des Erdbebengebiets. Für beide waren die Nachrichten aus dem Katastrophengebiet ein Schock. "Das ist wie ein Horrorfilm", sagt Amara.

"Erdbeben in der Region sind ja nichts Neues", so Amara, der zunächst aus den sozialen Medien von der Naturkatastrophe in der Region erfuhr, in der er selbst als Musiker mehrfach auftrat und viele Fans und Freunde zählt: "Erst im Laufe des Tages wurde mir bewusst, wie groß das Ausmaß ist." Viele Menschen aus der kurdischen Community in Hannover seien auf die beiden zugegangen. "Das sind Leute aus unseren Städten, die ihre Angehörigen in der Türkei und in Syrien nicht erreichen können. Das sind Leute aus dem Katastrophengebiet, die uns Bilder schicken", so Amara weiter, der selbst vorsichtig ist, was Informationen aus den sozialen Medien anbelangt. "Es kursieren viele Falschmeldungen", weiß Amara.

"Menschen versuchen per Video, Straßen ihrer Angehörigen wiederzuerkennen"

"Jetzt hängen viele Menschen den ganzen Tag am Handy und versuchen, irgendwie in ihre Heimat durchzukommen, ihre Verwandten zu erreichen. Manche suchen mithilfe von Fernsehbildern nach bekannten Häusern und Straßenzügen – oder sie suchen die ersten Listen von Todesopfern". Amara befürchtet, dass die Zahl der Opfer weiter ansteigen wird: "Das werden viel, viel mehr Opfer sein, als uns bislang bewusst ist", befürchtet er.

Tatsächlich ist die Lage auch am dritten Tag nach der Erdbebenkatastrophe weiterhin unübersichtlich: Viele Gebiete können aufgrund zerstörter Infrastruktur wie Straßen und Flughäfen kaum bis gar nicht erreicht werden. Erste Drohnenaufnahmen lassen jedoch das Ausmaß der Katastrophe erahnen. Vor allem auf syrischer Seite sind viele Städte und Regionen kaum zugänglich. Das von vielen Jahren des Bürgerkriegs gebeutelte Land ist in ein Mosaik unterschiedlicher Machtbezirke zerfallen. Vor allem aufständische Gebiete erhalten angeblich kaum oder gar keine Hilfeleistungen durch das Regime. Und die Helfer, die vor Ort sind, sind oft selbst vom Erdbeben betroffen. Auch die Grenzsituation zur Türkei erschwert die Situation.

Die türkische Regierung weigert sich weiterhin, die Grenzen für Hilfskonvois nach Syrien zu öffnen: "Das ist eine Schande", sagt Jiyan. Amara stimmt zu: "Ich habe auf der syrischen Seite viele Freunde und Fans. Ich hatte dort Auftritte. Dank dieser Leute darf ich mich überhaupt Künstler nennen. Das bricht einem das Herz, nicht zu wissen, wie es denen geht."

Fordert die Kälte weitere Tote?

"Auch wenn jetzt vor allem kurdische Siedlungsgebiete betroffen sind, geht es dort um alle Menschen: egal ob türkische, kurdische oder syrische Opfer." Jeder müsse so schnell wie möglich Hilfe erhalten. Seit Tagen versucht Amara, einen eng befreundeten Musiker aus der Erdbebenregion zu erreichen. Vergeblich. "Vielleicht liegt er jetzt unter einem Haus. Das macht mich fertig. Und dabei ist er 'nur' ein Freund – kein Bruder, die Tochter oder die eigene Mutter."

Beide würden am liebsten selbst hinunterfliegen wollen. Für Jiyan, der sich bereits in der Vergangenheit kritisch zur türkischen Regierung geäußert hat, ist das jedoch unmöglich: "Man würde mich vermutlich noch am Flughafen wegen meiner politischen Äußerungen in meinen Liedern festnehmen." Amara stimmt zu: "Als Musiker und Tonmeister sollte ich nicht in vorderster Reihe die Profis bei ihrer Arbeit behindern." Stattdessen sehen sich beide als Botschafter für die Menschen in den Erdbebengebieten: "Die Leute da unten, die noch irgendwie die Zeit, das Glück und die Kraft haben, mit uns zu kommunizieren, melden sich bei uns, weil wir ihnen Reichweite liefern können und zudem ihre Sprache verstehen", sagt Amara.

Besonders die Kälte mache den Menschen, sowohl Opfer als auch Helfern, zu schaffen: "Die Preise für Decken steigen gerade von 100 Lira auf 300 Lira. Ich hoffe, dem Staat gelingt es, das abzufedern", sagt Amar. Außerdem: "Es war klar, dass in den kurdischen Gebieten früher oder später ein großes Erbeben stattfindet. Warum gab es keine funktionierenden Vorwarnsysteme? Warum sind die Gebäude im kurdischen Gebiet gegenüber Erdbeben derart instabil?", fragt Amara – findet aber keine Antworten auf die Fragen, die sich inzwischen viele Menschen im Bekannten- und Freundeskreis stellen. (Hier lesen Sie mehr zu den möglichen Ursachen, warum das Ausmaß der Zerstörung so gewaltig ist.)

Künstler planen Charity-Aktion

Dieser Kritik werde sich Erdogan stellen müssen – noch vor der Wahl, vermutet Amara. Doch beide befürchten schon bald Maßnahmen der Regierung: Erdogan könnte Demonstrationen verhindern wollen. Die Beratungsfirma Eurasia Group vermutet laut dem Sender n-tv hingegen, dass die Krise Erdogan eher helfen könnte, sein Image rechtzeitig vor der Wahl aufzupolieren – sofern es dem Staatspräsidenten gelingt, die Betroffenen ohne jegliche Diskriminierung zu unterstützen.

So hofft Jiyan, dass nun türkische Hotelbesitzer den Menschen eine warme Zwischenlösung anbieten: "So viele haben jetzt einfach alles verloren. Aber in Gebieten, die vom Erdbeben verschont wurden, gibt es sehr viele Hotels. Man sollte unverzüglich versuchen, die Menschen dort unterzubringen, sonst droht vielen auch noch der Kältetod."

Beide wollen selbst aktiv bleiben: Mit befreundeten Künstlern planen sie Charity-Konzerte in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Die Erlöse sollen Hilfsorganisationen zugutekommen. Vor allem aber wollen sie weiter helfen, Kontakt in die Erdbebengebiete zu halten und die Tragödie für Menschen in Deutschland sichtbar zu machen. Die Hilfe soll allen Menschen in den betroffenen Gebieten zugutekommen – egal, welcher Kultur sie sich zugehörig fühlen. Beide wollen mit ihren Spenden den Heyva Sor a Kurdistanê e. V. unterstützen, der bereits anlässlich der Erdbebenkatastrophe aufgerufen hat (Link siehe Quellen).

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Aydin Amara und Jan Jiyan
  • heyvasor.com: Spendenseite des Heyva Sor a Kurdistanê e. V.
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