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Olympia-Attentat 1972 in München: "Die Polizisten haben vorher den Mut verloren"


Überlebender des Olympia-Attentats 1972
"Die Polizisten haben kurz vorher den Mut verloren"

InterviewVon Jennifer Lichnau

Aktualisiert am 05.09.2022Lesedauer: 5 Min.
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Blutiges Attentat: Die Olympischen Spiele 1972 sollten bunt werden, doch endeten in einer Tragödie. (Quelle: t-online)

Vor 50 Jahren starben elf israelische Sportler beim Olympia-Attentat in München. Shaul Ladany überlebte.

Shaul Ladany wurde 1936 in Jugoslawien geboren. Als er noch ein Kind war, deportierten die Nationalsozialisten ihn und seine Familie ins Konzentrationslager Bergen-Belsen. Er überlebte und zog nach Israel. Der heute 86-Jährige gehörte lange zu den besten Gehern der Welt und ist Professor für Ingenieurwesen. Mit t-online hat er über das Olympia-Attentat gesprochen, bei dem 1972 palästinensische Attentäter der Terrororganisation "Schwarzer September" elf israelische Sportler und einen deutschen Polizisten ermordeten.

t-online: Herr Ladany, Sie haben den Holocaust überlebt. Was war es für ein Gefühl, 1972 nach Deutschland zurückzukehren?

Ich war stolz, in München zu sein und die israelische Sportuniform zu tragen. Es war etwas Besonderes. Es war ein Statement. Wir sind hier! Obwohl das Dritte Reich versucht hat, uns auszulöschen. Wir sind hier und wir können sportlich mit der Welt mithalten.

Die Spiele begannen am 29. August 1972. Die Stimmung in München war euphorisch. Dann kam der 5. September.

Ich erinnere mich daran, als wäre es heute gewesen. Mein Mitbewohner Zelig Shtorch weckte mich und erzählte, dass "Muni" – also Mosche Weinberg – von Arabern erschossen wurde. Erst dachte ich, er macht einen Witz. Zelig war ein Spaßvogel. Aber es war kein Witz. Das wurde mir schnell klar. Über so etwas macht man keine Witze.

Was passierte dann?

Als ich meine Augen richtig öffnete, sah ich, dass ein weiterer Teamkollege sich schon eilig anzog. Und dann, ohne nachzudenken, schlüpfte ich in meine Laufschuhe, öffnete die Zimmertür zum Gang und sah hinaus. Dort stand ein Mann. Er war bewaffnet. Vor ihm standen vier Sicherheitsleute des Olympischen Dorfes. Von ihnen trug keiner eine Waffe. Ich hörte, wie eine Sicherheitsbeamtin versuchte, den Mann, der mitten im Gang stand, zu überreden, Sanitäter ins Gebäude zu lassen, um einen Verletzten zu versorgen. Er erlaubte es nicht. Sie bat ihn, Menschlichkeit walten zu lassen. Und ich erinnere mich, dass er antwortete: Die Juden seien keine Menschen. Da verstand ich sofort, dass etwas Schlimmes vor sich geht.

Sind Sie in Panik geraten?

Nein, ich blieb ruhig. Im Obergeschoss unserer Wohnung in der Connollystraße fand ich meine Zimmergenossen. Alle bereits angezogen. Ich fragte sie, was passiert sei. Einer zeigte aus dem Fenster, auf den Boden vor Apartment eins. "Siehst du den dunklen Fleck da", fragte er. "Das ist Munis Blut". Dann beschlossen wir, das Gebäude über die Terrasse zu verlassen.

Wie haben Sie sich gefühlt?

Ich habe in meinem Leben viel Tod gesehen. Ich glaube, ich habe deswegen eine Form von mentaler Stärke, die gewöhnliche Menschen nicht haben.

Sie sagen, die Wachen haben keine Waffen getragen?

Die Wachen hatten keine Waffen. Es war sehr leicht, in das Olympische Dorf zu gelangen. Deutschland wollte als Gastgeber der Olympischen Spiele beweisen, dass die Bundesrepublik von 1972 nicht mehr die Kriegsmaschine ist, die sie während des Dritten Reichs war. Als die Welt also Millionen Augen auf Deutschland richtete, sollten da keine Waffen zu sehen sein. Das kann ich verstehen.

Aber?

Ich verstehe nicht, warum nicht schon im Olympischen Dorf versucht wurde, die Geiseln zu befreien. Der ganze Einsatz lief sehr amateurhaft ab. Ich wusste zu dem Zeitpunkt nicht, dass das Militär in Deutschland nur mit der Zustimmung des Bundestages aktiv werden kann. Das heißt, bei dem Attentat war zunächst nur die örtliche Polizei im Einsatz. Die Beamten waren für einen solchen Einsatz nicht ausgebildet. Auch das kann ich verstehen. Was ich den Deutschen aber bis heute vorwerfe: Sie haben sich nicht von israelischen Einsatzkräften helfen lassen.

Was haben die Einsatzkräfte aus Ihrer Sicht falsch gemacht?

Lange wusste die Polizei nicht, wie viele Terroristen im Olympischen Dorf waren. Dabei wäre es so einfach gewesen, sie zu zählen. Immerhin sind die Terroristen nach Verhandlungen mit zwei Bussen durchs Olympische Dorf gefahren und dann in zwei Helikopter gestiegen. Mit ein bisschen mehr Verstand hätte man viele Fehler vermeiden können.

Die Nachrichtenagentur Reuters gab fälschlicherweise bekannt, dass alle Geiseln überlebt haben.

Ich erinnere mich, das war so um Mitternacht. Es kam überall im Radio und wir waren überglücklich, als wir das hörten. Um vier oder fünf Uhr morgens hörten wir dann, dass alle Geiseln getötet wurden. Das zu hören, nachdem wir dachten, sie hätten überlebt, war ein echter Schock.

Elf Teamkollegen und ein Polizist wurden bei dem Versuch, die Geiseln zu befreien, ermordet.

Ja. Es war viel Unerfahrenheit und viel Dummheit im Spiel. Am wütendsten macht mich allerdings, dass die Polizisten, die die Attentäter im Fluchtflugzeug in Fürstenfeldbruck überraschen und überwältigen sollten, kurz vorher einfach den Mut verloren haben. Wären die Geiseln Deutsche gewesen, hätten die Polizisten vielleicht anders gehandelt. Vielleicht.

Einige Überlebende haben von dem Olympia-Attentat ein Trauma erlitten. Sie auch?

Dass es mich persönlich nicht so verletzt hat, ist vielleicht mit meiner Geschichte zu erklären. Was mich aber getroffen hat, ist die Entscheidung, dass das israelische Team nach dem Massaker heimkehren sollte. Ich habe mich noch vor Ort dagegen ausgesprochen. Erst haben die Terroristen elf unserer Teamkollegen umgebracht und dann haben sie auch noch ihr Ziel erreicht: dass wir uns von der internationalen olympischen Bühne zurückziehen. Wir sind einfach verschwunden.

In einem Interview haben Sie mal gesagt, als Sie in Israel aus dem Flugzeug gestiegen sind, habe es sich angefühlt, als würden Sie von den Toten auferstehen.

Ja, ich glaube, das war das erste Mal nach dem Attentat, dass mir klar wurde, dass mir etwas Schreckliches widerfahren ist. Wobei, noch in München packten wir unsere Sachen und die der Ermordeten, und vor unserer Unterkunft kam eine riesige Menschenmenge zusammen. Diesmal schützte uns die Polizei. In der Menge sah ich einen Sportler aus der Schweiz. Wir kannten uns, weil wir in derselben Disziplin antraten: Langstrecken-Lauf. Er weinte. Er weinte, weil mein Name nicht auf der Liste der Überlebenden stand. Auch das hat sich eingebrannt.

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Die Spiele gingen nach einem Tag der Trauer weiter. Das israelische Team flog nach Hause. Wie stehen Sie zu der Entscheidung?

Manche unserer Athleten haben zehn Jahre trainiert, um der Welt bei den Olympischen Spielen zu zeigen, dass wir in der Lage sind, mit der Welt mitzuhalten. Hätten wir weiter an den Spielen teilgenommen, hätten wir die elf Ermordeten repräsentieren können. Wir sind aber mit den elf Särgen nach Hause geflogen. Die Terroristen haben erreicht, was sie wollten.

Sie haben den Holocaust überlebt und das Olympia-Attentat. Trotzdem kommen Sie noch immer nach Deutschland zurück. Warum?

Deutschland hat die Verantwortung für seine Vergangenheit übernommen und versucht, seine Bevölkerung über das Geschehene aufzuklären unter dem Motto "nie wieder". Ungarn tut das nicht, obwohl es im Dritten Reich mit den Nazis kollaboriert hat.

Das Attentat ist in diesem Jahr 50 Jahre her. Wie geht es Ihnen heute?

Ich glaube, ich bin einer der wenigen israelischen Sportler, die keinen seelischen Schaden vom Attentat davongetragen haben. Ich habe weitergemacht, bin wieder zu Wettkämpfen angetreten. Ich laufe immer noch, nur werde ich von Jahr zu Jahr langsamer.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Shaul Ladany am 09.05.2022
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