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München: So bewertet ein Blinder die Barrierefreiheit der Stadt München


"Barrierefreiheit noch ausbaufähig"
Wie blindengerecht ist München? Blinder bewertet

Von Sarah Koschinski

03.01.2024Lesedauer: 6 Min.
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Bernhard Claus im Münchner Hauptbahnhof: Hier kann er mit seinem Stock dem Leitsystem zur U- und S-Bahn folgen.Vergrößern des Bildes
Bernhard Claus im Münchner Hauptbahnhof: Hier kann er mit seinem Stock dem Leitsystem zur U- und S-Bahn folgen. (Quelle: Sarah Koschinski)

Blinde in München haben es nicht leicht, wenn sie sich in der Stadt orientieren müssen. t-online hat einen Betroffenen durch die Innenstadt begleitet.

Sein Stock bewegt sich von links nach rechts über den Boden. Er sucht nach einer Orientierung, doch findet sie nicht. Bernhard Claus ist blind. Seit 38 Jahren nimmt er die Welt um sich herum nur in Schwarz wahr. Er bleibt geduldig und fährt weiter mit seinem Blindenstock den Boden ab. Und dann hat er ihn endlich gefunden – den Leitstreifen.

Eine t-online Reporterin hat Bernhard Claus einen Vormittag lang durch die Landeshauptstadt begleitet, um zu erfahren, an welchen Stellen der Stadt die Barrierefreiheit bereits gegeben ist und wo es Verbesserungsbedarf gibt.

Bernhard Claus beginnt seine Route in Richtung Stadt am Hauptbahnhof. In der Arnulfstraße 22 befindet sich das Gebäude des Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenverbunds e. V. Der 60-Jährige ist hier für die Öffentlichkeitsarbeit der Bezirksgruppe Oberbayern-München zuständig.

Nicht alle Fußgänger nehmen Rücksicht

Keine zehn Meter ist Claus unterwegs, schon stellen sich ihm die ersten Hindernisse in den Weg. Der Weg zur S- und U-Bahn ist von Hotels gesäumt, deren Gäste ihre Koffer auch mal gerne auf dem Gehweg stehen lassen. Für die sehende Bevölkerung etwas störend, für Claus ein großes Hindernis. "Am schlimmsten sind Fahrräder und E-Roller. Wenn ich dagegen laufe, dann stelle ich sie woanders hin", sagt er.

Claus weiß aus Routine, wie er von seinem Büro in der Nähe des Hauptbahnhofs zum Marienplatz kommt. Leute, die ihm entgegenkommen, machen Platz, weichen aus. Manch einer ist nicht schnell genug und wird von Claus' Stock erwischt. "Oh, tut mir leid", sagen sie dann. Claus deutet auf einen Knick in seinem Stock. Er erzählt, dass ihn ein Schüler übersehen hat, weil er auf sein Handy geschaut hat. Er konnte nicht mehr rechtzeitig ausweichen und fiel über den Stock von Claus.

Und wie sieht es mit Zivilcourage aus? "Wenn sie mich sehen und merken, dass ich Hilfe brauche, helfen sie." Angekommen an der Treppe runter zum Hauptbahnhof an der Arnulfstraße, beginnt das sogenannte taktile Leitsystem. Der hier in den Boden eingelassene Leitstreifen markiert laut Claus in diesem Fall einen Treppenauf- oder abgang.

In München wird in den U-Bahnhöfen Stück für Stück das taktile Leitsystem erneuert.
In München wird in den U-Bahnhöfen Stück für Stück das taktile Leitsystem erneuert. (Quelle: Sarah Koschinski)

Was ist ein taktiles Leitsystem?

Als tastbare oder taktile Bodenleitsysteme für blinde und sehbehinderte Menschen werden Systeme bezeichnet, die es diesen ermöglichen, sich mithilfe eines Pendel- bzw. Blindenstocks selbständig im Innen- und Außenbereich – wie etwa im öffentlichen Raum, in Gebäuden oder an Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel – sicherer und leichter zu bewegen, heißt es bei blindenleitsysteme.com.

"60 Zentimeter links und rechts vom Leitstreifen müssen frei sein", sagt Claus. Mit frei meint er ohne Hindernis. Ob das immer eingehalten werde? "Nein", sagt Claus. Auf dem Weg zur S-Bahn im Hauptbahnhof wird sein Weg dann plötzlich von Menschen, die auf dem Leitstreifen stehen und warten, unterbrochen. "Die Bahn hat uns versprochen, dass es keine offenen Verkaufsflächen gibt", sagt Claus, während er sich mit seinem Stock einen Weg durch die wartenden Leute bahnt.

Das Problem an dieser Stelle des Hauptbahnhofs ist, dass Kunden vor der Starbucks-Filiale stehen und auf ihren Kaffee warten. Ihnen ist nicht bewusst, dass sie auf etwas stehen, das für Menschen ohne Sehvermögen eine wichtige Orientierung darstellt. Bernhard Claus hat keine andere Wahl, als dem Leitsystem zur S-Bahn zu folgen. Auch wenn das bedeutet, dass er in die wartenden Gäste reinlaufen muss. "Nur dieses Teilstück ist ein Problem", sagt er. Der Rest des Hauptbahnhofs sei Dank des Leitsystems gut erreichbar.

Angekommen an der S-Bahn nimmt Claus meistens die Treppen, "um einigermaßen fit zu bleiben", wie er sagt. In der Bahn selbst ist für ihn alles in Ordnung. Hier gibt es ja Ansagen vor der jeweils nächsten Station. An der Haltestelle Stachus heißt es: "Aufzug links." Diese Zusatzinformation war lange nicht selbstverständlich. "Diese Durchsage war ein Kampf", sagt Claus und hebt hervor, dass dieser Hinweis für Menschen im Rollstuhl schließlich wichtig sei.

Angekommen am Marienplatz, beginnt im wahrsten Sinne des Wortes der Blindgang. Bis das Leitsystem beginnt, sei es für viele Blinde schwer, sich hier zu orientieren. "Irgendwo in der Sendlingerstraße, auf Höhe des Breuningers, müsste das Leitsystem anfangen", sagt Claus, der gebürtig aus Frankfurt stammt. Seit 28 Jahren lebt er nun in der bayerischen Landeshauptstadt.

"Für mich ist Blindheit keine Behinderung", sagt Claus. Vor 38 Jahren erblindete er wegen eines Motorradunfalls. Die Akzeptanz für sein Schicksal kam über die Jahre. "Es ist okay, niemand kann etwas dafür, dass ich blind bin", sagt er. Fragt man ihn, ob es nicht komisch ist, dass er nicht weiß, wie er selbst und alle anderen um ihn herum aussehen, lacht er. "Für mich sieht jeder so aus wie vor 38 Jahren. Ich sehe mich immer noch als 22-Jährigen."

"Es ist nicht so, dass ich mein Augenlicht nicht vermisse"

"Es ist nicht so, dass ich mein Augenlicht nicht vermisse", gesteht Claus. Trotzdem lebt er sein Leben so weiter, als könnte er noch sehen. Er geht Skifahren, Langlaufen und Joggen. Alles mit Begleitung oder über Anweisungen per Funkgerät.

Und dann hat er ihn endlich gefunden: den Leitstreifen, der auf Höhe des Bekleidungsgeschäfts Breuninger beginnt. Kaum ein paar Meter weit ist Bernhard Claus gekommen, da stößt sein Stock gegen das erste Hindernis. Das Auto eines Handwerkers, ein kleiner Transporter, blockiert den Streifen. Doch weit und breit ist niemand zu sehen. Claus umrundet das Fahrzeug vorsichtig und setzt seinen Weg fort.

Das nächste Fahrzeug blockiert seinen Weg. Der Paketzusteller scheint nicht zu wissen, dass es sich bei dem Streifen im Boden nicht etwa um eine Art Haltelinie handelt. Claus spricht ihn an, macht ihn darauf aufmerksam, dass er hier nicht stehen dürfe. Der Fahrer, der kein Deutsch zu verstehen scheint, zuckt bloß mit den Schultern. Dann steigt er in den Transporter und parkt ein paar Meter parallel zum Leistreifen. Ein kleiner Erfolg für Bernhard Claus.

Sendlinger Tor und Harras sind auf dem neusten Stand

Claus erzählt, dass das Leitsystem vom Sendliger Tor bis zum Marienplatz gehen soll – durchgängig. So zumindest der Plan. Und auch die langjährige Baustelle am Sendlinger Tor hat sich für Menschen mit Behinderungen jetzt ausgezahlt: "Das Sendlinger Tor ist der Vorzeigebahnhof für Barrierefreiheit", sagt Claus. Auch am Harras gibt es Fortschritte: Dort wurde an der U-Bahn das taktile Leitsystem verlegt. Teile des weißen Streifens waren bereits zu erkennen, die anderen befanden sich noch unter einer Art Schutz, der vor Kurzem entfernt wurde.

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Das bestätigt auch Maximilian Kaltner, Pressereferent für das Ressort Mobilität der Stadtwerke München. Am neuen U-Bahnhof Sendlinger Tor seien viele neue Elemente hinzugekommen, die die Barrierefreiheit gewährleisten. Als Beispiele nennt er die neuen taktilen Wegeleitsysteme für blinde und sehbehinderte Menschen. Damit wird nicht nur die Wahrnehmung der Bahnsteigkante erleichtert, sondern auch das Finden von Treppenaufgängen, Aufzügen und Notfallsäulen.

Gerade mal zehn Prozent haben aktuelles Leitsystem

Die Bahnhöfe Münchner Freiheit, Marienplatz, Kieferngarten sowie Olympia-Einkaufszentrum entsprechen bereits den aktuellen Vorgaben. Der Plan der Stadtwerke München (SWM) und der Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG): das taktile Leitsystem an allen Bahnsteigen sukzessive den heutigen Anforderungen anzupassen, heißt es in einer Pressemitteilung der MVG vom 11. Dezember. Nach dem Bahnsteig am U6-Bahnhof Harras folgen nun die Bahnsteige am Hauptbahnhof und Odeonsplatz, sagt Kaltner.

Trotzdem ist Claus der Meinung, dass die Barrierefreiheit in der Stadt München noch ausbaufähig sei. "Es gibt noch viel zu tun. Alles, was neu gemacht wird, wird barrierefrei gestaltet. Aber der Bestand ist es nicht." Von den rund 100 U-Bahnstationen, die es laut Claus in der Landeshauptstadt gibt, haben gerade einmal zehn das Leitsystem, das den aktuellen Vorgaben entspricht. t-online hat beim Baureferat nachgefragt, was die Stadt tut und wie sie sich für blinde Bürger einsetzt.

Im Moment liegt dem Münchner Baureferat zu diesem Thema ein Antrag des Stadtrats vor, wie es vom Baureferat auf Anfrage von t-online heißt. Am 16. November hatte die CSU-Fraktion Münchens Oberbürgermeister Reiter in einem Schreiben auf das blockierte Leitsystem am Hauptbahnhof durch den Starbucks-Stand aufmerksam gemacht. Die Fraktion will in ihrem Antrag von Reiter wissen, welche Begründung das Baureferat hat, das Leitsystem nicht zu versetzen, sodass es nicht mehr von der offenen Verkaufsfläche und deren Kunden blockiert wird. Das Baureferat will sich dazu nicht weiter äußern, da ihm der Stadtrats-Antrag zu dieser Thematik vorliege und man der Beantwortung des Antrags nicht vorgreifen möchte.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Pressemitteilung der MVG vom 11. Dezember
  • Anfrage der CSU an die Stadt vom 16. November 2023
  • blindenleitsysteme.com
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