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EM 2021 | Lutz Pfannenstiel: Ich erlebte Ähnliches wie Christian Eriksen


Turnier-Tragödie
Ich erlebte Ähnliches wie Dänen-Star Eriksen

MeinungVon Lutz Pfannenstiel

Aktualisiert am 17.06.2021Lesedauer: 5 Min.
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Christian Eriksen: Die Nummer zehn der dänischen Mannschaft wird das Spiel gegen Belgien vom Krankenhausbett aus verfolgen.Vergrößern des Bildes
Christian Eriksen: Die Nummer zehn der dänischen Mannschaft wird das Spiel gegen Belgien vom Krankenhausbett aus verfolgen. (Quelle: ULMER Pressebildagentur/t-online/imago-images-bilder)

Als Christian Eriksen auf dem Platz kollabierte, stand die Sportwelt still. Fußball und die EM rückten in den Hintergrund. t-online-Kolumnist Lutz Pfannenstiel ging die Situation besonders nahe. Er brach selbst auf dem Platz zusammen, war zwischenzeitlich klinisch tot. Eine persönliche Kolumne.

Happy Birthday – nur wenige Menschen können sich zweimal im Jahr beglückwünschen lassen. Zwei Geburtstage feiern die, die dem Tod von der Schippe gesprungen sind. So wie Christian Eriksen am vergangenen Samstag. Der 12. Juni 2021 wird wohl sein zweiter Geburtstag in diesem Jahr. An diesem Tag brach er beim EM-Spiel der Dänen gegen Finnland auf dem Rasen des "Parken" in Kopenhagen plötzlich zusammen, wurde minutenlang behandelt – und überlebte. Ich weiß, wovon ich spreche. Denn ich habe selbst so eine Nahtoderfahrung gemacht. Bei mir war es der zweite Weihnachtstag im Jahr 2003. Seitdem feiere ich jedes Jahr am 26. Dezember meinen zweiten Geburtstag.

Damals stand ich in England bei Bradford unter Vertrag und prallte im Spiel gegen Harrogate Town mit Clayton Donaldson zusammen. Sein Knie traf mit voller Wucht meinen Solar Plexus. Ein brutaler Knall! Dann sind meine Lungenflügel in sich zusammengefallen – und ich verlor das Bewusstsein. Aufgewacht bin ich erst mehrere Stunden später auf der Intensivstation. Zwischenzeitlich war ich dreimal klinisch tot. Eine Erfahrung, die einen Menschen von Grund auf ändert – zumindest in meinem Fall.


Nicht nur deshalb geht mir die Szene von Eriksen besonders nahe. Die Art und Weise, wie er abtransportiert wurde: Das waren grausame Szenen. Zuerst habe ich das alles gar nicht wahrgenommen. Aber spätestens als die Ärzte einen Defibrillator einsetzten, wurde mir klar: Sein Leben steht auf dem Spiel! Das war bei mir damals ähnlich. Als mich unser Physiotherapeut Ray Killick damals untersuchte, wurde die Situation dramatisch. Wie am Samstag in Kopenhagen standen auch meine Teamkollegen völlig fassungslos im Kreis um mich herum.

Der Arzt ging davon aus, dass es mit mir zu Ende geht – und sagte das auch meiner damals hochschwangeren Freundin, damit sie sich noch auf dem Platz von mir verabschieden könne. Von daher kann ich mich sehr gut in Eriksens Frau hineinversetzten. Was macht du in diesem Moment? Dein Mann, der Vater deiner Kinder, liegt auf einmal im Sterben – auf einem Fußballplatz, vor deinen Augen – und vor Tausenden Zuschauern. Eine geradezu surreale Situation!

"Christian lag auf der Seite, atmete und hatte auch Puls. Aber plötzlich änderte sich das. Er war schon von uns gegangen. Wir mussten mit Herzmassage und Schock beginnen, weil er weg war. Wir haben es geschafft, ihn zurückzuholen", beschrieb Dänemarks Teamarzt Christian Boesen die Situation. Ein Glück war in diesem Fall, dass Simon Kjaer geistesgegenwärtig reagierte und Eriksen sofort in die stabile Seitenlage brachte. Das hat seinem Freund wahrscheinlich das Leben gerettet. Kjaer hat fast wie ein Superheld agiert. Die Art und Weise, wie der sich dann auf dem Platz um die Familie gekümmert hat, war fantastisch.


Er war es dann auch, dem Eriksen, als er wieder bei Bewusstsein war, gesagt hat: "Spielt das Spiel zu Ende." Meiner Einschätzung nach hatten 999 von 1000 Spielern das ähnlich gemacht – eine menschliche Reaktion. Ob es letztendlich richtig war weiterzumachen, ist eine andere Frage. Aus meiner Sicht hätte man das Spiel absagen müssen, aber in dem Moment, als Eriksens Zustand stabil war und er diese Worte sagte, war klar, dass das Spiel nicht mehr zu verhindern war. Hinzu kam wohl noch "sanfter" Druck von der Uefa, wie Dänemarks Trainer Kasper Hjulmand inzwischen erklärte.

Auf der Intensivstation habe ich einen Schreck bekommen

Das war in Bradford damals anders. Keine fünf Minuten nach dem Zusammenprall brach der Schiedsrichter die Partie ab. Das hört sich jetzt so an, als ob ich es bewusst mitbekommen habe, doch letztendlich weiß ich das nur aus Erzählungen. Denn: Erinnern konnte ich mich später an nichts mehr. Als ich dann auf der Intensivstation wach wurde, habe ich erstmal einen Schreck bekommen. Denn das Personal hatte grüne Kittel an und da ich alles noch verschwommen gesehen habe, dachte ich erst, es handele sich um Aliens, die mich entführt hätten. Die habe ich dann erstmal gefragt, wo ich bin und wie der Spielstand ist, worauf mich alle völlig entgeistert angeschaut haben – zumal ich ihnen danach klar gemacht habe: "Ich muss spielen. Lasst mich zurück auf den Platz." Von daher kann ich Eriksens Reaktion umso besser verstehen.

Die Frage wird nun sein, wie er mit diesem einschneidenden Erlebnis umgeht? Bisher präsentiert er sich ja äußerst positiv und will dem dänischen Team heute gegen Belgien (ab 18 Uhr im Liveticker von t-online) sogar vom Krankenhausbett aus die Daumen drücken. Ich wünsche mir, dass er so positiv bleibt. Doch der Umgang mit einer solchen Situation, wie ein Mensch psychologischen Stress verarbeitet, ist sehr individuell. Ich für meinen Teil war direkt nach dem Aufwachen für einige Minuten komplett schockiert und dann mehrere Stunden total glücklich. So richtig begriffen, was passiert ist, habe ich allerdings erst nach zwei bis drei Tagen. Und dann war auf einmal eine große Angst da. Mir wurde klar: Wenn du die Angst besiegen willst, musst du so schnell wie möglich auf den Platz zurück. Sieben Tage später war es dann soweit – trotz absolutem Verbot der Ärzte und des Trainers. Doch ich habe ihnen gesagt: "Ihr könnt mich nicht festbinden. Ich muss spielen, um dass alles überhaupt verarbeiten zu können." Und das hat dann auch geklappt. Die Angst war nach den ersten brenzligen Situationen weg und ich habe noch fast ein Jahrzehnt weitergespielt.

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Wie beeinflusst diese Erfahrung Eriksens weiteres Leben?

Dass Eriksen es genauso macht und schnell auf den Platz zurückkehrt, kann ich mir indes nicht vorstellen. Bei mir wusste man ja, was es für eine Verletzung ist. Bei ihm sind die medizinischen Hintergründe andere und er bekommt einen implantierbaren Defibrillator. Eriksen steht nun vor der großen Herausforderung, in sich zu gehen und herauszufinden, wie er das Ganze am besten verarbeitet. Da ist jeder Mensch anders. Ich würde ihm raten, sich die Szene nicht nochmal anzuschauen. Das hat mir sehr geholfen. Aber ist das wirklich realistisch? Sein Name wird ab jetzt mit dieser Aktion verbunden sein. Da erscheint es fast unmöglich, eine Trennlinie zu ziehen. Ich werde mir die Szenen allerdings ganz sicher nicht noch einmal anschauen – und gucke mir auch die Bilder meines Unfalls von damals nicht an.

Eine weitere Frage wird sein, wie so eine Erfahrung sein Leben beeinflusst? Es gibt nicht viele Leute, die so eine Erfahrung haben machen müssen. Mein Leben hat das total verändert. Ich war einfach unglaublich dankbar, eine zweite Chance bekommen zu haben. Da merkt man dann wirklich, was einem im Leben wichtig ist. Da wird der Fußball zur Nebensache. Seitdem ist mir wirklich klar geworden, dass in einer Zehntelsekunde alles vorbei sein kann und ich lebe bewusster, bin für die einfachsten Sachen dankbar – mal was Schönes zu Essen, in den Urlaub zu fahren, vor allem einfach Zeit mit der Familie zu verbringen. Und natürlich auch dafür, am 26. Dezember meinen zweiten Geburtstag feiern zu dürfen. Ich wünsche Christian Eriksen, dass der 12. Juni für ihn eine ähnliche Bedeutung bekommt. Happy second birthday, Mr. Eriksen!

Verwendete Quellen
  • Instagram-Account von Christian Eriksen
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