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Carlsen gegen Niemann: Untersuchungen der Betrugsvorwürfe sollen Schach-Krimi lösen


Experte spricht über Ermittlungen
Ein Deutscher könnte den Schach-Krimi lösen

Von Florian Vonholdt

Aktualisiert am 30.09.2022Lesedauer: 5 Min.
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HANDOUT - 04.09.2022, USA, St. Louis: Magnus Carlsen (l) aus Norwegen sitzt Hans Niemann aus den USA in der dritten Runde vom Schachturnier Sinquefield Cup im Saint Louis Chess Club gegenüber. Foto: Crystal Fuller/Saint Louis Chess Club/dpa - ACHTUNG: Nur zur redaktionellen Verwendung und nur mit vollständiger Nennung des vorstehenden Credits +++ dpa-Bildfunk +++Vergrößern des Bildes
Letztes physisches Aufeinandertreffen: Magnus Carlsen (l.) sitzt Hans Niemann beim Sinquefield Cup in St. Louis Anfang September gegenüber. Der Amerikaner wirkt abwesend. Das kam Carlsen verdächtig vor. (Quelle: Crystal Fuller)

Die Betrugsvorwürfe des Weltmeisters gegen seinen Widersacher halten die Schachwelt in Atem. Nun sollen sie untersucht werden – womöglich mit deutscher Hilfe.

Nach tagelangem Schweigen hat Magnus Carlsen am Montag Stellung zu seinem Verhalten gegenüber Widersacher und Schach-Teenager Hans Niemann (19) bezogen. Für Ruhe im größten Schach-Eklat der letzten Jahre hat er damit jedoch nicht gesorgt. Im Gegenteil.

Das, was allerorts als ursächlich für sein sonderbares Verhalten vermutet wurde, bestätigte der Superstar der Szene. Carlsen unterstellt seinem Kontrahenten aus den USA unsauberes Spiel: "Ich glaube, dass Niemann – auch in letzter Zeit – mehr betrogen hat, als er öffentlich zugegeben hat." Deswegen hatte sich Carlsen, seit 2013 Dauer-Weltmeister, nach einer Niederlage gegen Niemann Anfang September in St. Louis erstmals überhaupt aus einem Turnier zurückgezogen. Und deswegen verließ er wenige Wochen später auch die Online-Partie gegen den US-Boy nach nur einem Zug. Kommentarlos und ohne Vorankündigung.

Niemann betrog zweimal bei Online-Partien

Das Problem: Der Norweger lieferte in seiner Stellungnahme keine Beweise, schrieb lediglich: "Während unseres Spiels beim Sinquefield Cup hatte ich den Eindruck, dass er in den entscheidenden Phasen nicht vollständig fokussiert und auf das Spiel konzentriert war, während er mir mit den schwarzen Spielsteinen auf eine Art und Weise überlegen war, die ich nur von einem kleinen Personenkreis kenne."

Niemann beteuert seine Unschuld. Er sei sauber und bot sogar an, nackt zu spielen, um zu beweisen, dass er keine Hilfsmittel benutzt.

Es steht Aussage gegen Aussage. Der Weltschachverband FIDE sah sich deshalb und "angesichts der Tatsache, dass der Vorfall immer weiter eskaliert", in der Pflicht, "die Integrität des Spiels und sein Image zu schützen", und veröffentlichte am vergangenen Wochenende eine Stellungnahme.

Präsident Arkady Dvorkovich prangert darin zum einen das Verhalten Carlsens an: "Seine Handlungen wirken sich auf den Ruf seiner Kollegen und die sportlichen Ergebnisse aus und können letztendlich unserem Spiel schaden. Wir sind der festen Überzeugung, dass es bessere Möglichkeiten gegeben hätte, mit dieser Situation umzugehen."

Zum anderen heißt es: "Gleichzeitig teilen wir seine tiefe Besorgnis über den Schaden, den der Betrug dem Schachspiel zufügt." Das klare Ziel sei Aufklärung des Falls: "Die FIDE ist bereit, ihre Fairplay-Kommission mit einer gründlichen Untersuchung des Vorfalls zu beauftragen, wenn die entsprechenden ersten Beweise vorgelegt werden und alle beteiligten Parteien die ihnen zur Verfügung stehenden Informationen offenlegen."

Genau das soll in den kommenden Tagen geschehen. Und da kommt der Deutsche Klaus Deventer ins Spiel. Er ist als Anti-Cheating-Officer beim Deutschen Schachbund den spielenden Betrügern auf der Spur. Und darüber hinaus auch noch Mitglied eben jener Fairplay-Kommission des Weltverbandes FIDE. Somit könnte er eine entscheidende Rolle im Ausgang der größten Schach-Fehde der letzten Jahre einnehmen.

Was nun geschieht? Aus der zwölfköpfigen Kommission wird zeitnah Gremium aus ein bis drei Personen bestimmt, das sich der Untersuchung des Falls Carlsen-Niemann annimmt. Einer der Kandidaten ist Deventer. Der 64-Jährige erklärt im Gespräch mit t-online, dass "in zweierlei Richtungen ermittelt" wird. Also nicht nur gegen den Beschuldigten Niemann, sondern auch gegen Ankläger Carlsen: "Zum einen würden wir prüfen: Gibt es genügend Fakten, die einen Betrugsvorwurf rechtfertigen? Wenn wir zu dem Ergebnis kommen, dass das der Fall ist, würden wir entsprechend Anklage bei der Ethik- und Disziplinarkommission der FIDE erheben."

"Prüfen auch, ob eine falsche Beschuldigung vorliegt"

Und weiter: "Wir würden aber auch prüfen, ob eine falsche Beschuldigung vorliegt. Auch das würden wir dann gegebenenfalls zur Anzeige bringen." Mit in die Bewertungen würde der Bericht des Anti-Cheating-Schiedsrichters vom erwähnten Turnier in St. Louis ebenso einfließen wie eine Statistik-Analyse relevanter Partien Niemanns.

Sollte ein Betrug Seitens Niemanns festgestellt werden, droht ihm eine mehrjährige Spielsperre. Zur Einordnung: In einem früheren Fall wurde der Großmeister Igors Rausis für sechs Jahre aus dem Verkehr gezogen, nachdem ihm mehrfacher Betrug nachgewiesen worden war. Sollte Carlsen eine fälschliche Anschuldigung nachgewiesen werden, droht auch ihm ein Spielverbot. Geldstrafen seien zwar laut Statuten möglich, sagt Deventer, jedoch unüblich: "Ein Spieler dieser Klasse zerstört eigentlich selbst seine beruflichen Grundlagen.“

Betrügereien im Schach nachzuweisen, ist äußerst schwierig. Die Spekulationen bei Niemann gingen sogar so weit, dass ein Sexspielzeug als Betrugshelfer ins Spiel gebracht wurde (Mehr dazu lesen Sie hier). Eine Theorie, die gar nicht so weit hergeholt erscheint. Deventer sagt: "Wir haben tatsächlich derartige Fälle erlebt, in denen Vibrationen Züge angezeigt haben. Das ist dann nichts anderes als ein Morsecode."

Generell sei es bei Online-Partien leichter, unerlaubte Mittel zu nutzen, erklärt Deventer: "Man muss zwischen Betrugsfällen im Online-Schach und dem klassischen Turnier-Schach unterscheiden. Im Online-Schach wird es zahlenmäßig sehr viel mehr geben, weil dort die Überprüfungsmöglichkeiten geringer und die Betrugsmöglichkeiten höher sind.“

Zwar müssen zwei verschiedene Kameras laufen – eine, die den Spieler von vorne aufnimmt und eine, die den Raum aufnimmt – und der Spieler muss den Computer freigeben, damit man sieht, welche möglichen (Hilfs-)Programme sich auf dem Computer befinden. Doch im klassischen Turnier-Schach habe man doch mehr die Möglichkeiten, die Spieler zu überprüfen, so Deventer: "Das geht bis hin zu Durchsuchungen mit Körper-Scannern." Dabei können Mobiltelefone oder kleinste Knöpfe im Ohr entdeckt werden.

Auch wenn aktuell die Beweise fehlen, gerät Niemann zunehmend in die Bredouille. Es häufen sich die Stimmen, die sagen, es könne bei Niemann nicht mit rechten Dingen zugehen.
Eine der Stimmen ist die von FIDE-Meisterin und Schachtrainerin Yosha Iglésias. Sie untersuchte mehrere Partien von Niemann mithilfe spezieller Schachprogramme und Datenbanken. Die Ergebnisse veröffentlichte sie bei YouTube. Iglésias analysierte einzelne Spielzüge Niemanns auf ihre Präzision und Genauigkeit und verglich sie mit der von Carlsen oder auch Garry Kasparov, einer anderen Schachlegende und einem der besten Spieler der Geschichte.

Analyse der Niemann-Partien "hat mich schockiert"

Das Ergebnis ihrer Analyse: Niemann spielte in mehreren Partien mit einer Genauigkeit von 100 Prozent – also exakt so, wie es der Computer getan hätte. Für Carlsen und Kasparov kamen dagegen Werte von "nur" rund 70 Prozent heraus. "Das Ergebnis hat mich schockiert", sagte Iglésias dem norwegischen Rundfunk "NRK" hinterher.

Und: Der einzige Spieler, der je einen annähernd hohen Wert wie Niemann erreichte, war der Franzose Sébastien Feller mit 98 Prozent. Das war bei Partien während der Schach-Olympiade im Jahr 2010, bei der später nachgewiesen wurde, dass er betrogen hatte.

Was Niemann in diesem Zusammenhang verdächtig erscheinen lässt, sind vor allem zwei Tatsachen: Zum einen wurde er bereits zweimal des Betrugs überführt. Das hat er selbst zugegeben. Einmal als 12-Jähriger und einmal als 16-Jähriger – jeweils bei Online-Partien.
Zum anderen spielte er sich innerhalb kürzester Zeit in einem außergewöhnlich rasanten Tempo in der Weltrangliste nach oben. Es machte binnen weniger Monate mehr als 150 Plätze gut, steht inzwischen auf Position 41. Dies geschah während der Pandemie-Zeit, als vor allem digital gespielt wurde.

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Carlsen deutete in seinem Posting an, dass er offenbar eine Vermutung hat, wie Niemann betrogen haben könnte: "Ich würde gerne mehr sagen. Leider darf ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht ohne explizite Zustimmung von Niemann offen sprechen." Auch er hat das bevorstehende Verfahren im Hinterkopf.

Eine Partie zwischen den beiden wird es in (naher) Zukunft jedenfalls nicht mehr geben. Das hat der Norweger ausgeschlossen. Auch wenn sich die beiden Streithähne aus dem Weg gehen, dürfte das die Lage wohl kaum entspannen. Solange, bis der Fall aufgeklärt ist. Dafür ist nun der oberste Verband verantwortlich. Womöglich mit deutscher Unterstützung.

Verwendete Quellen
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