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Verletzungen beim Skispringen: Wenn das Material zum Problem wird


Wenn das Material zum Problem wird
So gefährlich ist Skispringen wirklich

  • Melanie Muschong
Von Melanie Muschong

Aktualisiert am 20.12.2020Lesedauer: 7 Min.
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Die Skisprung-Schanze in Trondheim (Norwegen): Stephan Leyhe liegt nach seinem Sturz im Schnee.Vergrößern des Bildes
Die Skisprung-Schanze in Trondheim (Norwegen): Stephan Leyhe liegt nach seinem Sturz im Schnee. (Quelle: Eibner Europa/imago-images-bilder)

Der Traum aller Skispringer ist es, Weltcup-Sieger zu werden. Dabei gehen sie große Risiken ein. Denn das Material entwickelt sich rasant weiter – und das ist für die Athleten extrem gefährlich.

Die Flugphase von Skispringer Stephan Leyhe im März 2020 in Trondheim sah aus wie immer. Er sprang von der Schanze ab und flog durch die Luft, bis er zur Landung ansetzte. Doch dann geschah es: Das linke Bein war gerade in der typischen X-Bein-Stellung, als Leyhe dramatisch stürzte, durch den Schnee wirbelte und liegen blieb. Schmerzverzerrt hielt er sich das linke Knie. Die Diagnose kam kurze Zeit später: Kreuzbandriss.

Eine ähnliche Situation erlebte Killian Peier bei den Schweizer Meisterschaften in Einsiedeln im Oktober 2020. Er hob ab, flog, setzte zur Landung an. Doch dann zog es den rechten Ski des 25-Jährigen nach hinten, er stürzte, rutschte die Schanze hinunter und blieb regungslos liegen. Auch bei ihm hieß die Diagnose: Kreuzbandriss. Ausfallzeit des besten Schweizer Springers: Neun bis zwölf Monate. Die Saison konnte er damit abhaken. Mit Andreas Wellinger, David Siegel, Severin Freund und eben Stephan Leyhe teilten gleich vier der besten deutschen Skispringer Peiers Schicksal in den vergangenen Jahren. Sie alle zogen sich einen Kreuzbandriss zu. Sie alle sind Beispiele für eines der größten Probleme des Skispringens.

Die Zuschauer, die den Sport im Fernsehen verfolgen, sehen oft nur das Spektakel: Die Sprünge werden weiter, die Schanzen höher, das Material innovativer. Damit wird jedoch auch der Druck auf die Athleten größer.

t-online hat Fachärzte, sowie ehemalige und aktuelle Protagonisten der Skisprung-Elite gesprochen, um sich ein Bild zu machen. Wie gefährlich ist die Situation wirklich?

Sven Hannawald: "Froh, wenn Sprünge gut gehen"

Im immer größer werdenden Druck für die Athleten liegt der Knackpunkt. Während sich für die Zuschauer optisch nicht viel verändert, entwickelt sich der Sport durch Materialveränderungen immer weiter. Und diese zwingen die Skispringer zu Ablaufänderungen in ihren Sprüngen. Denn wenn ein Skispringer – so wie früher – flach landen möchte, wird er heute zu einer X-Bein-Stellung gezwungen. Sonst verkanten die Skier. Die Folge: immer mehr Kreuzbandrisse.

Sven Hannawald gewann 2002 als erster Springer alle vier Wettkämpfe der Vierschanzentournee, zudem krönte sich der gebürtige Sachse 2000 und 2002 zum Skiflug-Weltmeister. Im Gespräch mit t-online sagt er: "Ich liebe weite Sprünge. Allerdings bin ich mit dem aktuellen Material immer froh, wenn die Sprünge auch gut gehen."

"Die Kräfte werden an das Kniegelenk weitergegeben"

Die Materialentwicklung in den vergangenen Jahren ging dahin, dass die Performance in der Luft während des Sprunges verbessert wurde. "Das heißt, die Flugeigenschaften des Systems "Skispringer-Schuh-Bindung-Ski" wurden durch eine stabilere Bindung und durch speziell geformte Schuhe unterstützt, deren Schaft leicht gebogen ist, sodass der Ski zum Schluss in der V-Stellung eine bessere Luftunterstützung erfährt", erklärt Privatdozent Dr. Peter Brucker, Leitender Mannschaftsarzt der Deutschen Ski-Nationalmannschaft alpin und Kniespezialist t-online. Der Nachteil ist die Landeposition, die Leyhe zu Fall gebracht hat.

"Es gibt einen schrägen Impuls auf das Kniegelenk und dieser wird eins zu eins übertragen. Diese Kräfte, die bei der Landung wirken, werden an das Kniegelenk weitergegeben", erläutert Hannawald. Für Springer bedeutet dies, dass sie sich jeden Winter an die neuen Bedingungen anpassen müssen. Und das Risiko immer mit springt.

Severin Freund: "Wir versuchen alles für uns rauszuholen"

Einer, der sich selbst nach zwei Kreuzbandrissen zurück gekämpft hat, ist Severin Freund. Der DSV-Springer sagt t-online: "Ich bin Leistungssportler, um die Veränderungen anzunehmen. Die Häufungen der Kreuzbandrisse sind nicht schön, aber dafür überdreht es in den letzten Jahren die Springer in der Luft nicht mehr. Es ist immer ein Für und Wider. Aber generell gilt trotzdem, dass man im Leistungssport innerhalb des Reglements immer auf der Suche nach Dingen ist, die einen besser machen. Auch, wenn das Risiko, dass man sich etwas tun könnte, ein wenig höher ist. Es ist Leistungssport und wir versuchen alles für uns rauszuholen."

Auch der aktuelle Überflieger des deutschen Teams, Markus Eisenbichler, ist ähnlicher Meinung. "Wir betreiben einen Risikosport. Wir halten bei der Beschleunigung in der Luft und beim Landen enormen Kräften stand. Wenn man nicht damit klarkommt, dass man sich dabei verletzen kann, dann kann man den Sport nicht auf Top-Niveau betreiben", sagt er. Eisenbichler selbst verletzte sich in den vergangenen Jahren aber auch nicht am Kreuzband.

Markus Eisenbichler: "Der Zuschauer will großen Sport sehen"

Eisenbichler fügt an: "Der Zuschauer vor dem Fernseher will großen Sport sehen und wir versuchen das auszureizen." Zusätzlich sei es für Springer nicht immer ersichtlich, ob sich alle an Regeländerungen halten würden. Deshalb fordert Ex-Springer Hannawald: "Es muss von ganz oben eine Regel geben, die alle zwingt diesen Weg zu gehen."


Der internationale Ski-Verband FIS reagierte darauf inzwischen. "Man hat die Materialien seit diesem Jahr wieder soweit verändert, dass die im Sprungschuh befindlichen Keile, die den Ski in der Luft flacher stellen, nun symmetrisch aufgebaut sein müssen und somit die Athleten nicht mehr so stark in die für das Kreuzband gefährliche X-Bein-Stellung bei der Landung drücken", sagt Dr. Brucker.

Der Teamarzt der Deutschen Skisprung-Nationalmannschaft der Herren, Dr. Mark Dorfmüller, erklärt t-online: "Die Keile, die ihre Berechtigung hatten, wurden von den Athleten ausgereizt. Jeder Spitzensportler geht mit seinen Möglichkeiten ans Äußerste und möchte das Maximum an Legalität ausnutzen. Deswegen ist es gut, wenn auch hinsichtlich des Materials Grenzen gesetzt werden, durch die dem Athleten die riskanten Variationsmöglichkeiten genommen werden."

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Auch der aktive Springer Severin Freund sagt: "Die Keile, die man im Schuh trägt, wurden in Dicke und Symmetrie reglementiert, um das Knie bei der Landung mehr in der Achse zu halten. Das ist auf jeden Fall ein guter Schritt."

DSV-Mannschaftsarzt Brucker: "Ein erster Schritt"

Doch ist das genug, um die Sportart in Zukunft sicherer zu machen? "Es ist ein erster, aber wichtiger Schritt", meint Dr. Brucker. "Wir sind allerdings noch nicht soweit, dass wir von einem gelösten Problem sprechen können. Man muss in diesem Winter die Verletzungszahlen abwarten und analysieren. Erst dann bekommt man einen Eindruck davon, ob sich diese verringert haben oder ob sie unverändert geblieben sind. Insgesamt ist die Problematik der Knieverletzungen noch nicht zu Ende gedacht."

Statistiken zu Verletzungen der Springer sind nicht öffentlich zugänglich, auch Studien nicht weiter verbreitet. Dr. Dorfmüller sagt: "Der Punkt ist, dass es noch keine aussagekräftigen Erhebungen gibt. Aus dem Bauch heraus habe ich das Gefühl, dass es weniger Kreuzbandverletzung seit diesem Winter in dieser kurzen Zeit gibt, aber man muss ein, zwei Winter abwarten, um zu sehen, ob das einer der wesentlichen Punkte ist."

"Das ist ein internationales Problem"

Brucker ergänzt: "Man kann sicherlich noch weitere Maßnahmen treffen. Das ist kein national, sondern ein international zu lösendes Problem." Allerdings sagt Alexander Stöckl, Trainer der norwegischen Skisprung-Mannschaft, zu t-online: "Die Kräfte, die auftreten, wenn man schlecht landet, kann man nicht umgehen. Man kann das Knie nicht so stark trainieren, dass es nicht mehr verletzt wird. Ich glaube aber schon, dass man die Technik dementsprechend anpassen kann, dass man gar nicht in so eine Situation kommt. Man muss dafür Zeit aufwenden und Trainingsmethoden finden."

"Medizinische Kommission hat keine Entscheidungsfunktion"

Dr. Dorfmüller erklärt das so: "Es ist entscheidend, dass man eine optimale Koordination trainiert. Sodass beim Springer in Situationen, in denen er überrascht wird, ein Automatismus einsetzt und er richtig reagieren kann. Das muss im allgemeinen Training regelmäßig mitberücksichtigt werden." So wie die deutschen Teams, arbeiten auch die Schweizer bereits im Nachwuchsbereich präventiv. Die Athleten lernen, wie sie bei der Landung wirkende Kräfte auffangen und stabilisieren können. Bis zu Peiers Sturz blieb das Team von Kreuzbandrissen verschont.

Auch Dr. Brucker ist der Meinung, dass "das Training insbesondere in der Wettkampfphase so gesteuert werden muss, dass der Athlet nicht in das Übertraining kommt, sondern ausreichend regeneriert." Hier werden laut dem Fachmann in den nächsten Jahren zunehmend die Digitalisierung und neue Techniken in der Trainingssteuerung und Trainingsdokumentation zum Monitoring der Athleten stattfinden. Aber auch "die mentale Betreuung und Unterstützung ist mindestens so wichtig wie eine gute Operation und die anschließende Rehabilitation", sagt Dr. Dorfmüller.

Auch wenn die FIS nun einen ersten Schritt gemacht hat, ist der Weg noch nicht zu Ende. Der internationale Ski-Verband verfügt über das sogenannte "Medical Committee", das in einer beratenden Funktion tätig ist. Sandro Pertile, der Renndirektor der FIS im Bereich Skispringen, erklärt dies so: "Das 'Medical Commitee' ist eine wichtige Unterstützung für das Skisprung-Komitee. Während der Sitzung des FIS-Sprungausschusses nimmt immer ein Vertreter des medizinischen Ausschusses daran teil und berichtet über Sachverhalte aus medizinischer Sicht."

Dr. Dorfmüller unterstreicht die Problematik an diesem Konstrukt: "Wir sind in der Regel beratend tätig und die verantwortenden Funktionäre können das dann in ihrem Sinne umsetzen. Inwieweit man sich regelmäßiger treffen und beraten könnte, ist eine andere Frage." Dr. Brucker geht noch etwas weiter und sagt: "Die medizinische Kommission in der FIS hat keine Entscheidungsfunktion. Es wäre aus meiner Sicht wünschenswert, dass Mediziner und andere Experten auch im Rahmen von Entscheidungsprozessen der FIS mehr integriert werden."

"Permanente Suche nach perfektem Sprung"

Sprich: Die medizinische Abteilung kann zwar Empfehlungen abgeben, aber kein Veto setzen, sollte eine Situation für den Sportler zu risikoreich sein. Eine Situation, der sich die FIS zwar bewusst ist, die aber nur folgendermaßen von Pertile kommentiert wurde: "Wir beachten diesen Vorschlag normalerweise und die Sichtweisen sind oft in unseren Regeln enthalten." Dr. Dorfmüller ergänzt mit Nachdruck: "Wichtig ist, dass auch im Spitzensport, die Gesundheit des Sportlers immer absoluten Vorrang haben muss und die Erhaltung der Gesundheit immer oberste Prämisse sein muss, bei allen Ideen und Visionen, die man hat."

Und trotz der zuletzt negativen Entwicklung und den immer wiederkehrenden Verletzungen stehen die Springer am Ende doch wieder oben auf der Schanze. Severin Freund erklärt das so: "Es ist die permanente Suche nach dem perfekten Sprung." Natürlich. Die Athleten werden immer springen, egal, wie gefährlich der Sport ist. Es ist ihr Job. Doch gerade deshalb muss es für alle anderen Beteiligten das Ziel sein, das Risiko für die Sportler so gering wie möglich zu halten.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Eigene Interviews mit Sven Hannawald, Severin Freund, Markus Eisenbichler, Dr. Peter Brucker, Dr. Markus Dorfmüller, Alexander Stöckl, Sandro Pertile
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