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Kita-Diskussion: Schadet zu frühe Fremdbetreuung Kindern?


Nur jede zehnte Krippe ist gut
Schadet zu frühe Fremdbetreuung unseren Kindern?

t-online, Nicola Wilbrand-Donzelli

07.04.2014Lesedauer: 5 Min.
Zu frühe Fremdbetreuung kann bei Kindern zu großem Stress führen.Vergrößern des BildesZu frühe Fremdbetreuung kann bei Kindern zu großem Stress führen. (Quelle: Thinkstock by Getty-Images-bilder)
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Seit letztem Sommer haben Eltern einen Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz für ihr Kind ab einem Alter von einem Jahr. Dadurch können Mütter beziehungsweise Väter nach der Elternzeit schneller ins Berufsleben zurückkehren. Wie aber geht es ihren kleinen Sprösslingen dabei? Wie verkraften sie es, lange vor dem klassischen Kindergartenalter, täglich mehrere Stunden ohne Mama oder Papa in einer Einrichtung zu verbringen und welche Auswirkungen kann das auf das Familienleben haben?

Vollbesetzte Bollerwagen, in denen Kleinkinder von ihren Betreuern durch den Stadtpark kutschiert werden, sind heute kein ungewöhnlicher Anblick mehr. Doch es gibt immer wieder Passanten, die nicht glauben wollen, dass die Minis, die noch Windeln tragen und oft noch ziemlich unsicher auf den Beinen sind, schon in den Kindergarten gehen - weit weg von Mama und Papa.

Studien: großer Stress für kleine Kinder

Genau diese Abwesenheit der Eltern und das ungewohnte Umfeld können bei den Kleinen offenbar Stress und Unsicherheit verursachen. Das wurde mittlerweile in einigen Untersuchungen nachgewiesen. Zum Beispiel zeigten laut der "Krippenstudie" der Wiener Universität von 2012 Kinder unter zwei Jahren bereits zehn Wochen nach ihrem Krippeneintritt ungünstige Reaktionen: Die Stressverarbeitung wurde mit der Zeit zunehmend ungünstiger und der Stresslevel war nach einer anstrengenden Woche meist freitags am höchsten. Das konnten die Studienautoren durch Messungen des Stresshormons Cortisol nachweisen. Je jünger ein Kind war, so die Wiener Psychologen, desto sensibler reagierte es auf die neue Lebenssituation, vor allem wenn es ganztags betreut wurde.

Besonders groß ist demnach das "Krippe-Risiko" für die sozial-emotionale Entwicklung von Kleinstkindern, die noch kein Jahr alt sind. Doch in Deutschland besteht für diese Altersgruppe durch das Elterngeld fast kein Betreuungsbedarf. Das hat das Deutsche Jugendinstitut in seiner "AIDA-Studie" ("Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten") herausgefunden.

Die bislang umfangreichste US-Langzeitstudie "Nichd - Early Child Care Research Network", die seit den 90er Jahren rund 1300 Kinder von der Geburt bis zum sechsten Schuljahr begleitete, kommt sogar zu dem Ergebnis, dass die Belastungen und der Stress einer mehrstündigen, täglichen Fremdbetreuung in der frühesten Kindheit noch bis in die Pubertät negativ nachwirken können. So zeigte sich, dass selbst der Besuch einer guten Krippe später vermehrt mit sozialen Verhaltensauffälligkeiten wie etwa Streiten, Kämpfen, Lügen oder mutwilliger Sachbeschädigung einhergeht.

Andere Studien kommen zu positiven Erkenntnissen über Krippenbetreuung

Es gibt jedoch auch Experten, die Krippenbetreuung und deren Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung positiver bewerten. Nicht selten wird dann auf unsere Vorfahren in Jäger- und Sammlergemeinschaften verwiesen, bei denen eine exklusive mütterliche Betreuung schon aus praktischen Gründen unrealistisch war und sich deshalb immer mehrere Bezugspersonen der Sippe mit um den Nachwuchs kümmerten.

So kam zum Beispiel eine amerikanische Erhebung von der Universität Minnesota, in der Einzel-Studien seit 1960 ausgewertet wurden, zu dem Ergebnis, dass Kinder, deren Mütter schon lange vor dem dritten Lebensjahr an den Arbeitsplatz zurückkehrten, später nicht häufiger Schul- oder Verhaltensprobleme hatten, als Kinder, deren Mütter zu Hause blieben. Viele profitierten laut der Untersuchung sogar davon, dass ihre Mütter früh arbeiten gingen: Sie schnitten im Intelligenztest oftmals besser ab, konnten sich besser anpassen, zeigten sich kooperativer und waren auch seltener ängstlich als die Sprösslinge von Müttern, die nicht arbeiteten.

In anderen Untersuchungen stellten Eltern und Erzieher fest, dass in Krippen betreute Kleinkinder durch den gemeinsamen Alltag mit ihresgleichen häufig ein besseres Kommunikationsverhalten entwickelten, und bescheinigten ihnen außerdem eine schnellere und größere Selbstständigkeit bei Alltagsfertigkeiten.

"Kinder müssen eine liebevolle und geborgene Umgebung erfahren"

Auch Elisabeth Nicolai, Professorin an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg und stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Systematische Therapie, Beratung und Familientherapie, will die Betreuung von Kleinkindern in Krippen oder bei Tagesmüttern nicht grundsätzlich verurteilen - vorausgesetzt die Bedingungen stimmten, betont sie gegenüber T-Online: "Entscheidend für ein stressfreies Wohlbefinden und eine gesunde, emotionale Entwicklung der Kleinkinder ist, dass sie einen sicheren, zuverlässigen und beständigen Kontakt zu ihren Bezugspersonen haben und so eine intensive Bindung aufbauen können. Das muss nicht unbedingt immer die leibliche Mutter sein."

Betreuungsschlüssel: nicht mehr als fünf Schützlinge pro Erzieher

Dabei komme es allerdings nicht nur auf die bloße Präsenz der vertrauten Erzieher an, sondern auch darauf, wie intensiv und differenziert sie sich mit den Kindern beschäftigten, weiß die Expertin: "Die Kleinen brauchen viel Ansprache, Zuwendung und Berührungen. Sie müssen konstant eine anregende, liebevolle und geborgene Umgebung erfahren."

Zu garantieren sei eine solche altersgerechte Betreuungsqualität in den Krippen allerdings nur, wenn der Personalschlüssel auch stimme, unterstreicht Nicolai. Eine pädagogische Kraft sollte sich deshalb auch nur um maximal fünf Schützlinge kümmern dürfen. Bei Kindern unter zwei Jahren müsste die Gruppe noch kleiner sein, raten Experten.

Nur zehn Prozent unserer Krippen sind gut genug

Die Realität in Deutschlands Krippen sieht meist anders aus. Oft muss eine Erzieherin bis zu acht Kinder betreuen. Manchmal sind es auch altersgemischte Gruppen. Hinzu kommt, dass viele pädagogische Kräfte, deren Teams üblicherweise auch mit Praktikanten und Aushilfen aufgestockt werden, nur Teilzeit beschäftigt sind und so die ihnen anvertrauten Winzlinge nicht kontinuierlich begleiten können.

So ist es nicht verwunderlich, dass die die aktuelle NUBBEK-Studie ("Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit"), für die die Autoren zwei Jahre lang 600 Betreuungseinrichtungen in acht Bundesländern unter die Lupe nahmen, nur zehn Prozent der Krippen und Kitas eine gute Qualität bescheinigt.

Jesper Juul: Nicht genügend qualifiziertes Personal

Entsprechend kritisch sieht auch der renommierte dänische Familientherapeut Jesper Juul die frühkindliche Fremdbetreuung hierzulande. In seiner Streitschrift "Wem gehören unsere Kinder" plädiert er dafür, sehr genau hinzusehen und individuell über eine solche Betreuung zu entscheiden, denn jedes Kind entwickle sich anders.

"Zu viele Kinder haben resigniert", glaubt Juul, "sind passiv, machen nicht mit und fühlen sich einsam." Diese "sehr bedenkliche Entwicklung" sei vor allem darauf zurückzuführen, dass die Qualität der Beziehungen zum Personal nicht stimme und dass die Eltern sich bei einer oftmals zu kurzen Eingewöhnungsphase zu wenig kritisch einmischten und sich dann zu selten eingeständen, dass der Zeitpunkt für eine ganztägige Fremdbetreuung vielleicht zu früh gewählt war.

Viele Eltern haben Angst vor Entfremdung

Während sich die meisten Experten mit den Befindlichkeiten der Kinder während der Frühbetreuung auseinandersetzen, bleibt meist unberücksichtigt, dass die neue Lebenssituation auch für Eltern und insbesondere für die meisten Mütter eine große emotionale Herausforderung ist. Denn nicht häufig quält sie nicht nur ein schlechtes Gewissen, ihr Kind möglicherweise zu früh Fremden zu überlassen, sondern auch die Angst, dass ihr Sprössling sich von ihnen entfremden könnte, wenn er täglich über mehrere Stunden mit anderen Bezugspersonen zusammen ist.

Diese Sorge sei unbegründet, beruhigt Familientherapeutin Nicolai. Auch bei einer mehrstündigen Betreuungsdauer in einer guten Einrichtung leide die Mutter-Kind-Beziehung nicht, solange die Mutter ihrem Kind Zeiten ungeteilter Aufmerksamkeit widme und sensibel und empfindsam auf seine Bedürfnisse eingehe. "Rituale wie Bücher anschauen, kuscheln oder gemeinsame Mahlzeiten spielen hier eine große Rolle, weiß die Expertin.

Nicht die Quantität des Zusammenseins sei dann entscheidend, sondern die Qualität der gemeinsamen Stunden. Das Kind sollte dann die Zeit mit den Eltern als erlebte Gemeinsamkeit erfahren. "Das bedeutet allerdings nicht, dass ständig animierende Sonderaktionen für das Kind inszeniert werden müssen. Für kleine Kinder ist das größte Highlight und der beste Rahmen für Geborgenheit einfach ein Stück Normalität mit Mama und Papa - ohne Riesenansprüche und Erwartungen."

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