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"Mein Leben ohne mich": Mutter werden im Wachkoma


Die Geschichte einer Frau, die im Wachkoma Mutter wurde

t-online, Nicola Wilbrand-Donzelli

28.01.2016Lesedauer: 5 Min.
Carola Thimm lag fünf Jahre lang im Wachkoma und bekam in dieser Zeit eine Tochter.Vergrößern des BildesCarola Thimm lag fünf Jahre lang im Wachkoma und bekam in dieser Zeit eine Tochter. (Quelle: Bild der Frau, Karin Costanzo)
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Wegen eines Aneurysmas fiel Carola Thimm für fünf Jahre ins Wachkoma. Als sie aufwachte, hatte sie eine Tochter im Kindergartenalter. Über den Schwebezustand zwischen Leben und Tod und ihren Kampf zurück in einen selbstbestimmten Alltag berichtet die heute 47-Jährige in ihrem Buch "Mein Leben ohne mich - wie ich fünf Jahre Koma erlebte".

"Ein stechender Schmerz jagt durch meinen Kopf. In der Ferne sehe ich einen Spaziergänger auf einem der Felder, über mir zieht ein Bussard seine Kreise am wolkenlosen Frühlingshimmel. Sein Schrei, der spitz in meinen Ohren klingt, ist das letzte, was ich in diesem Moment wahrnehme - dann ist plötzlich alles schwarz." Das sind die letzten Erinnerungen von Carola Thimm, bevor sie vor zwölf Jahren beim Walken zusammenbricht und das Bewusstsein verliert. Zu dieser Zeit ist sie im fünften Monat schwanger.

Auf das künstliche Koma folgt das Wachkoma

Im Krankenhaus wird schließlich ein Aneurysma diagnostiziert, ein geplatztes Gefäß im Kopf hatte zu einer Blutung geführt. Zweimal muss Carola am offenen Schädel operiert werden, um den Druck am Hirn zu minimieren. Irgendwann gleitet sie dann vom künstlichen Koma, in das sie versetzt wurde, ins Wachkoma - ein Zustand, der fünf Jahre andauert.

So hat die werdende Mutter, deren Schwangerschaft von den Ärzten solange wie möglich aufrecht erhalten wird, auch keine Erinnerung mehr daran, wie bei ihr in der 31. Schwangerschaftswoche die Wehen einsetzen. Carolas Tochter Marie wird daraufhin per Kaiserschnitt auf die Welt geholt. Sie ist noch ziemlich klein, aber gesund.

Ins Hier und Jetzt bringt auch die Geburt ihres Kindes Carola Thimm nicht zurück. Sie bleibt im Dämmerzustand - mit offenen Augen. Mit 39 Jahren wird sie schließlich nach Aufenthalten in verschiedenen Reha-Kliniken in ein Pflegeheim eingewiesen.

Die Familie gab Carola nie auf

In zahlreichen Passagen des Buches, das mit Unterstützung von Co-Autorin und Journalistin Diana Müller entstand, wird Carolas außergewöhnliches und bewegendes Schicksal aus der Perspektive von Angehörigen und medizinischem Personal erzählt. Carolas Ehemann Michael, die Familie ihrer Schwester, ihre Eltern und Therapeuten schildern, wie belastend es war, die Schwerkranke zu betreuen und zu begleiten: Die unendlichen Stunden am Krankenbett ohne eine Reaktion und die unzähligen Versuche, die Patientin durch Ansprache, körperliche Nähe oder Vorlesen von Büchern wieder aus ihrem geheimnisvollen Schlummerzustand heraus zu locken.

Auch die kleine Marie, die zu einem temperamentvollen Wildfang heranwächst, ist mit ihrem Papa, ihrer Tante oder ihrer Oma oft bei Carola. Für sie ist es selbstverständlich, auf dem Bett ihrer leblosen Mutter herumzuturnen. Sie weiß, dass die Frau, die immer regungslos und mit leerem Blick im Bett liegt, ihre kranke Mutter ist. Sie kennt sie nur so.

Gefangen im eigenen Körper: Carola nahm sich die ganze Zeit über wahr

Besonders berührend und beeindruckend sind jene Teile der Lektüre, in denen die Komapatientin selbst zu Wort kommt und sich tatsächlich an vieles erinnern kann, was um sie herum geschieht, allerdings in fragmentarischen Puzzlestücken. Sie erkennt immer jeden Besucher aus ihrer Familie. Nur mitteilen kann sie sich nicht, ist gefangen in ihrem bewegungsunfähigen Körper.

"Bin ich tot? Lebe ich? Ich weiß es nicht. Leben ist anders", schildert sie ihr Empfindungen und Eindrücke. "Ich liege im Bett, mir ist warm. Schmerzen? Nein. Manchmal habe ich Angst. Viele Leute kommen und gehen. Was machen sie? Oft bin ich müde. Sehr müde. Will nur schlafen. Schlafen ist schön. Da spüre ich nichts. Mein Kopf ist ruhig. Keine Gedanken. Ich hab Mutti gesehen. Sie war hier. Das tut gut. Ich möchte die Hand heben und mit den Fingern winken, etwas sagen, meiner Mutti zuzwinkern. Aber es geht nicht. Keine Kraft. Alles ist federleicht. Zu leicht, um die Hände, die Füße oder das Gesicht zu bewegen."

Die eigene Tochter - vertraut und fremd zugleich

Sogar die Besuche ihrer Tochter registriert Carola. Sie weiß allerdings nicht, dass das Mädchen, das regelmäßig zu ihr kommt, ihr eigenes Kind ist. "Wer ist das? Hat meine Schwester noch ein Kind bekommen? Das wäre toll! (...) Das kleine neue Mädchen hat mich gern. Komisch, wir kennen uns doch gar nicht. Manchmal kommt sie mit meiner Mutti, mal mit Michael. Dann klettert sie auf mein Bett - einige Male hat sie sich zu mir gelegt - und schmiegt sich an mich. Das Kind fühlt sich warm an und duftet. Aber es ist auch schwer."

Der zähe Kampf zurück ins Leben

2009, fünf Jahre nach dem Zusammenbruch, geschieht schließlich ein medizinisches Wunder. Carola Thimm nimmt wieder Kontakt mit ihrer Umwelt auf, nachdem ihre Medikation neu eingestellt worden ist und dadurch plötzlich ein langsamer Aufwachprozess beginnt. Die ehemals begeisterte Taucherin formt nämlich als Reaktion auf eine Frage ein O mit den Fingern, das Taucherzeichen für Okay. Danach dauert es noch weitere fünf mühsame Jahre, bis sich Thimm mit unglaublicher Energie wieder zurückkämpft ins Leben. Alles muss sie neu lernen: Zähne putzen, gehen, sprechen und schreiben.

Das große Glück, plötzlich Mutter zu sein

Carola lernt jetzt auch Marie bewusst kennen. Doch es dauert einige Zeit, bis Carola wirklich versteht, dass das fröhliche, aufgeweckte Kind ihr Fleisch und Blut ist. Denn sie erinnert sich nicht mehr daran, dass sie vor der Hirnblutung schwanger war. So muss sie erst lernen, Muttergefühle zu entwickeln.

"Ich habe eine Tochter. Ich bin Mutter. (…) Langsam lasse ich mir das Wort auf der Zunge zergehen. In mir drinnen wird es ganz warm. Noch immer kann ich es nicht verstehen, aber das kleine Mädchen, das meine Mama oft mitbringt, ist meine Tochter. Marie (…). Jetzt freue ich mich ohne Ende. Das ist ein tiefes Glücksgefühl in mir. Marie ist ein tolles Kind."

Marie lebt heute beim Vater

Obwohl die heute 47-Jährige nun wieder weitgehend ein selbstbestimmtes Leben führen kann und sich über jeden neuen Tag freut, ist Carolas Traum von einem glücklichen Neuanfang mit ihrer kleinen Familie nicht in Erfüllung gegangen. Ihre Ehe ist schließlich an den schmerzhaften und belastenden Jahren des Wachkomas zerbrochen. Ihr Mann lebt heute in einer neuen Beziehung. Auch Carola hat einen neuen Partner. Doch alle kommen gut miteinander aus.

Und Marie? Sie wohnt bei ihrem Vater, Carola teilt sich aber mit ihm das Sorgerecht. Alle 14 Tage sehen sich Mutter und Tochter nun. Dann ist die inzwischen elfjährige Marie am Wochenende bei ihrer Mama. Eine Mama, die so anders war und immer noch ein wenig anders ist als die meisten Mütter. Immerhin fehlen den beiden in ihrer Beziehung zueinander die ersten fünf kostbaren und prägenden Jahre. Umso mehr genießt Carola jetzt das verspätete Mutterglück, wenn sie an wenigen Tagen im Monat zusammen mit ihrem Kind den gemeinsamen Alltag leben kann.

Zuversicht und Lebensmut für die Zukunft

Mit der Veröffentlichung ihres Buches will Carola Thimm nicht nur ein Stück weit ihr Schicksal verarbeiten. Sie möchte mit ihrer außergewöhnlichen Geschichte auch anderen betroffenen Familien, die einen Angehörigen im Koma betreuen, Mut machen, nie die Zuversicht zu verlieren und aufzugeben. Passend dazu beschließt sie ihr Buch mit den Zeilen: "Die Zukunft liegt vor mir und ich freue mich darauf. Alles ist gut. Ich lebe."

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  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
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