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Krise an der Grenze von Polen und Belarus: Ein Wettbewerb der Brutalität


Krise an polnischer Grenze
"Ein Wettbewerb der Brutalität"


09.11.2021Lesedauer: 4 Min.
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Tumultartige Szenen: Zuletzt versuchten verzweifelte Migranten den Grenzzaun mithilfe gefällter Bäume zu durchbrechen. (Quelle: t-online)

Tausende Migranten sitzen in der Grenzregion von Polen und Belarus fest, eine humanitäre Katastrophe bahnt sich an. Diktator Lukaschenko legt einen ungeklärten Konflikt der EU offen. Ein Experte rät zu einem Anti-Erpressungspakt.

"Germany, Germany!", rufen die Migranten in der Grenzregion zwischen Belarus und Polen, so ist es auf Videos zu sehen. Sie sind Tausende – und wollen in die Europäische Union, am liebsten nach Deutschland. In ihrem Rücken: belarussische Sicherheitskräfte. Auf der anderen Seite: Stacheldrahtzaun und nach polnischen Angaben insgesamt 12.000 Soldaten und Polizisten.

Viele der Menschen, die zwischen diese beiden Fronten geraten sind, kommen aus Afghanistan, Irak oder anderen Krisenregionen. Tausende Kilometer entfernt von ihrer Heimat sind sie zum Spielball in einem "Wettbewerb der Brutalität" zwischen Belarus und der EU geworden, so formulierte es der Migrationsexperte Gerald Knaus im Deutschlandfunk.

Seehofer befürwortet polnisches Vorgehen

Das Regime des belarussischen Diktators Lukaschenko, so der Vorwurf der EU, hole gezielt Menschen aus Krisenregionen ins Land und bringe diese sogar aktiv zur EU-Außengrenze. Mindestens die Visapflicht für bestimmte Länder hat Belarus aufgehoben, und die aktuelle Lage so befeuert. Das Ziel ist politischer Druck auf die EU, die ihre Sanktionen gegen Belarus aufheben soll.

Doch wie soll mit dem organisierten Ansturm umgegangen werden? Diese Frage stürzt die Europäische Union auf mehreren Ebenen in eine Zwickmühle.

Die Praxis der vergangenen Monate sieht so aus: Polen lässt die Menschen nicht ins Land oder drängt sie zurück nach Belarus, auch mit Gewalt. Unabhängige Beobachter lässt die Regierung derzeit nicht in die Grenzregion. Auch die Hilfe der EU-Grenzschutzagentur Frontex hat sie, anders als Litauen, abgelehnt.

Der deutsche Innenminister Horst Seehofer (CSU) attestierte Polen eine bislang korrekte Reaktion. Natürlich nicht mit Schusswaffengebrauch, aber mit anderen Mitteln seien direkte Rückschiebungen richtig. Er sagte der "Bild" zudem: "Wir müssen der polnischen Regierung bei der Sicherung der Außengrenze helfen." Er befürworte eine "bauliche Lösung". Gemeint ist ein Grenzzaun, den Polen bereits mit Stacheldraht provisorisch errichtete.

Politisch geduldete Abschreckung

Das Problem ist aber: Polens Vorgehen ist rechtlich höchst umstritten. Es steht zwar in Einklang mit einem kürzlich erlassenen nationalen Gesetz, das wiederum widerspricht aber nicht nur EU-Recht, sondern auch der Genfer Flüchtlingskonvention. Beide verbieten sogenannte Pushbacks, also das Zurückdrängen von Asylsuchenden – völlig unabhängig davon, ob es einen Grenzzaun gibt oder nicht.

Grundsätzlich dürfen Staaten Menschen an ihren Grenzen abweisen oder zurückschieben. Entscheidend ist, ob ein Asylgesuch vorgebracht wird und Menschenrechte gewahrt werden. Zahlreiche internationale Prozesse versuchen Details zu klären. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat aber mehrere Fälle dokumentiert, in denen Polen Schutzsuchende zweifelsfrei illegal nach Belarus abgeschoben hat.

Polen bewegt sich, wie auch andere EU-Staaten, in einer bewusst gewählten Grauzone. Berichte über Pushbacks gab es in der Vergangenheit beispielsweise auch aus Ungarn, Kroatien oder Griechenland. Sie zogen aber kaum Konsequenzen nach sich. Als Mittel der Abschreckung sind sie quasi politisch geduldet.

Kritik von den Ampelparteien

Eigentlich müsste Polen die Asylgesuche einzeln prüfen. Das scheitert allerdings nicht nur daran, dass Polen prinzipiell überhaupt keine Geflüchteten aufnehmen will. Es scheitert auch an der seit Jahren in der EU ungelösten Verteilungsfrage. Einen Mechanismus, nach dem Asylsuchende unter den Mitgliedsstaaten der Union gerecht aufgeteilt werden, gibt es weiterhin nicht. Eine Lösung wird unter anderem von Polen blockiert. So wird weiter mit Gewalt zurückgedrängt.

Die sich bildende Ampelkoalition spart dazu nicht mit Kritik: Nötig seien zwei Botschaften an Warschau, sagte Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt der "Welt". "Erstens: Nein zu menschenunwürdigen Pushbacks. Und zweitens: Ja zu Solidarität." Der migrationspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Lars Castellucci, sagte der Zeitung: "Die Grundrechte, darunter der Zugang zu Asyl, müssen an den europäischen Außengrenzen jederzeit gewahrt werden."

EU prüft weitere Sanktionen

Was also könnte die EU pragmatisch tun? Einigkeit besteht zwischen Politik und Experten zumindest beim Thema Sanktionen. Die Europäische Union hat im vergangenen Jahr Maßnahmen gegen Belarus erlassen, nachdem Diktator Lukaschenko gewaltsam gegen Proteste vorgegangen war und politische Gegner hatte einsperren lassen. Mithilfe der Migranten versucht er nun, Druck auf die EU aufzubauen und diese zur Rücknahme der Sanktionen zu bewegen.

Migrationsexperte Knaus sagte dem "DLF": "Es gibt nur eine Möglichkeit für die EU, nämlich Lukaschenko zu zeigen, dass seine Hoffnung sich nicht erfüllen wird." Andernfalls mache sich das Staatenbündnis auch für die Zukunft erpressbar. Beim nächsten Konflikt mit Russland könnte Wladimir Putin die Methode beispielsweise an der Grenze zu Estland nutzen.

Ein Einknicken der EU ist derzeit aber nicht zu erwarten. Im Gegenteil: Kommissionschefin Ursula von der Leyen (CDU) brachte am Dienstag weitere Sanktionen gegen Belarus ins Gespräch. "Ich fordere die Mitgliedstaaten auf, die erweiterte Sanktionsregelung gegen die belarussischen Behörden, die für diesen hybriden Angriff verantwortlich sind, zu billigen." Die EU arbeite zudem daran, Fluggesellschaften von Drittstaaten zu sanktionieren, die am Transport von Migranten nach Belarus beteiligt seien.

Experte schlägt Pakt mit Ukraine und Moldau vor

Ob das hilft? Migrationsexperte Gerald Knaus, der 2016 Kanzlerin Angela Merkel beim Flüchtlingsdeal mit der Türkei beraten hat, meint: "Europa braucht Verbündete." Seinen Plan dafür skizzierte er im Deutschlandfunk folgendermaßen: Die EU sollte seiner Meinung nach auf andere osteuropäische Staaten wie die Ukraine oder die Republik Moldau zugehen, beziehungsweise hätte das längst passieren müssen.

Die Idee: Die EU unterstützt diese Staaten nicht nur finanziell gegen anderweitige Drohungen und Erpressungsversuche aus Russland oder Belarus. Im Gegenzug müssten diese einen Teil der in Polen ankommenden Migranten aufnehmen. Einen "Anti-Erpressungspakt" nannte Knaus das bei N-TV. Indem die EU das von Lukaschenko befeuerte Problem bewältigt, soll auch dessen Motivation für eine weitere Eskalation sinken.

Spontan wird sich dieser Plan jedoch kaum umsetzen lassen. "Die Union war völlig unvorbereitet", kritisiert deshalb auch Experte Knaus. Eine andere Möglichkeit wäre eine "Koalition der Willigen" innerhalb der EU. Also eine Gruppe von Staaten, die bereit sind, die Menschen aus dem polnischen Grenzgebiet aufzunehmen. Kritiker warnen in diesem Fall jedoch vor einer Sogwirkung auf Tausende andere Menschen in Krisenregionen.

So bahnt sich weiter ungehindert eine humanitäre Katastrophe an. Mindestens zehn Todesfälle hat es bereits gegeben, eine höhere Zahl ist zu befürchten. Und jetzt kommt der Winter.

Wie auch immer der Erpressungsversuch aus Belarus ausgehen sollte – die Verlierer stehen jetzt schon fest. Es sind die Tausenden Menschen, die mit großen Hoffnungen aufgebrochen sind, nun unter Einsatz ihres Lebens als politisches Druckmittel missbraucht und von Europa enttäuscht werden.

Verwendete Quellen
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