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Hamas lässt Geiseln frei: Warum Israel jetzt vor einem Dilemma steht


Experte über die Geiselfreilassung
"Die Feuerpause stellt Israel vor ein Dilemma"

InterviewVon Malte Bollmeier

23.11.2023Lesedauer: 5 Min.
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Wütende israelische Demonstranten: Erst durch die zahlreichen Proteste wurde die Befreiung der Geiseln ein zentrales Thema der israelischen Regierung.Vergrößern des Bildes
Wütende israelische Demonstranten: Erst durch die zahlreichen Proteste wurde die Befreiung der Geiseln ein zentrales Thema der israelischen Regierung. (Quelle: Eyal Warshavsky/imago-images-bilder)

Nach zähen Verhandlungen will die Terrorgruppe Hamas mehrere Dutzend Israelis freilassen. Der Politikwissenschaftler Stephan Stetter erklärt, was das für den Krieg bedeutet und warum Israels Ministerpräsident trotzdem weiter um seinen Posten fürchten muss.

Unter Vermittlung Katars und der USA haben sich die israelische Regierung und die Hamas auf die Freilassung von 50 der über 200 Geiseln geeinigt, die die Islamisten bei ihrem Angriff am 7. Oktober aus Israel entführt hatten. In den folgenden Tagen könnten 30 weitere Geiseln freigelassen werden. Im Gegenzug lässt Israel 150 palästinensische Gefangene frei, legt eine viertägige Feuerpause im Gazastreifen ein und gewährt pro Tag 300 Lkw mit humanitärer Hilfe die Zufahrt zum Krisengebiet.

Welche Auswirkungen hat der Deal für Israel und die Hamas? Stephan Stetter von der Universität der Bundeswehr in München beobachtet den Nahostkonflikt schon seit Jahren genau: Im Interview mit t-online spricht er darüber, warum die Freilassung der Geiseln für die israelische Regierung zunächst keine große Rolle gespielt hat, wie Ministerpräsident Netanjahu mittlerweile von der Bevölkerung gesehen wird und welche der Parteien der Gewinner der Einigung ist.

t-online: Herr Stetter, welche Rolle spielt die Freilassung der Geiseln für Israel?

Stephan Stetter: Eine gewaltige. In der starken israelischen Zivilgesellschaft gab es von Tag Eins die Forderung, dass die Freilassung der Geiseln höchste Priorität bekommt.
Darauf musste auch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu reagieren. Am Anfang war die Geiselbefreiung der vierte oder fünfte Punkt auf seiner Tagesordnung. Dann fanden riesige Demonstrationen statt, auch vor seinem Amtssitz. Mittlerweile sind die Geiseln ein zentrales Thema geworden.

Warum war die Freilassung der Geiseln für Netanjahu zuerst nur Nebensache?

Die Geiselfrage passt nicht zu den Interessen der Regierung. Für die sehr radikalen Parteien in Netanjahus Koalition ist sie kein wichtiges Thema. Sie interessieren sich vor allem dafür, das Westjordanland zu annektieren. Die Radikalen möchten keinen Friedensprozess. Sie wollen auch nicht, dass die palästinensische Autonomiebehörde eine Rolle spielt. Das militärische Vorgehen gegen die Hamas war damit konsensfähig, die Befreiung der Geiseln spielt hingegen erst seit den Protesten eine größere Rolle.

(Quelle: UniBw M)

Stephan Stetter

Stephan Stetter ist Professor für Internationale Politik und Konfliktforschung an der Universität der Bundeswehr in München. Seine Schwerpunkte liegen auf der Politik und der Gesellschaft Israels und Palästinas, Imperien und (Post-)Kolonialismus sowie EU-Außenpolitik.

Wird Netanjahu von der Vereinbarung profitieren können?

Als erfahrener Politiker wird er die Befreiung der Geiseln als Erfolg verkaufen, obwohl das wie gesagt erst gar nicht sein Thema war. An seiner Beliebtheit wird das aber wenig ändern.

Warum?

Netanjahu wird für die desolate politische Lage verantwortlich gemacht, die erst zum Angriff der Hamas am 7. Oktober geführt hat. Seinetwegen hat sich der Sicherheitsapparat Israels zu sehr auf das Westjordanland und zu wenig auf die Hamas konzentriert. Netanjahu hat viele Warnungen ignoriert, etwa von den Geheimdiensten. Große Teile der israelischen Bevölkerung lehnen ihn ab, auch aus seinem eigenen Mitte-Rechts-Lager. Seine Glaubwürdigkeit und Umfragewerte sind im Keller.

Aus anderen Kriegen ist das Phänomen bekannt, dass sich die Bürger im Kriegsfall hinter "dem starken Mann" versammeln. Ist das in Israel etwa nicht der Fall?

Nein, das ist in Israel nicht so. Auch Netanjahus Justizreform haben die Bürger nicht vergessen. Netanjahu hat zu viel Vertrauen verspielt. Das ist nicht mehr zu reparieren. Obendrein hat er immer noch Korruptionsprozesse gegen sich. Seine Glaubwürdigkeit ist verloren, auch wenn er sich durch Taktieren vielleicht noch an der Macht halten kann.

Was bedeutet die Freilassung der Geiseln für die Hamas?

Militärisch ist das für die Hamas ein wichtiger Schritt, da sie sich ein wenig erholen kann. Israels Druck wird aber nicht nachlassen.

Und politisch?

Gegenüber den eigenen Anhängern wird es schwierig für die Hamas, die Freilassung der Geiseln als großen Erfolg zu verkaufen. Es war immer ihr Ziel, möglichst viele ihrer in Israel gefangenen Mitstreiter freizupressen, also auch Terroristen zu befreien. Beim letzten großen Gefangenenaustausch 2011 tauschten die Hamas den entführten israelischen Soldaten Gilad Schalit gegen 1.027 palästinensische Gefangene aus. Diesmal werden keine Terroristen, sondern erst einmal Frauen, Kinder und Alte ausgetauscht. Und das Tauschverhältnis beträgt jetzt eins zu drei, 50 Israelis gegen 150 Palästinenser.

Für wen ist die Geiselfreilassung der größere Erfolg, für die Hamas oder Israel?

Das kann man so nicht beantworten. Das hängt ganz davon ab, wo man selbst politisch steht und zu welcher Seite man hält. Die Meinung, die die Menschen heute zu dem Konflikt haben, werden sie auch morgen noch haben, daran hat die Geiselvereinbarung nichts geändert.

Welche Rolle spielten ausländische Staaten bei der Verhandlung des Deals?

Der Deal zeigt, wo Druck von außen möglich ist, nämlich von den USA und Katar. Sie stellen politisches, finanzielles und militärisches Kapital. Joe Biden hat sich nach dem Angriff der Hamas symbolisch hinter Israel gestellt. Das zeigt Unterstützung, macht aber auch klar, dass die USA dort ihre eigenen Interessen haben. Für Katar gilt spiegelbildlich das Gleiche gegenüber der Hamas.

Warum hat sich Israel überhaupt auf diesen Deal eingelassen und nicht die Feuerpause an sich gegen die Freilassung der Geiseln getauscht? Militärisch haben sie schließlich die Oberhand.

Israel hat zwar die Oberhand, aber das Gebiet ist militärisch sehr schwierig. Außerdem ist der Konflikt so sehr im Brennglas der Weltöffentlichkeit, dass Israels Armee nicht so frei handeln kann, wie manche Länder das in anderen Konflikten tun. Zudem spielt die Meinung der arabischen Staaten eine Rolle, mit denen Israel Abkommen zur Normalisierung ihrer diplomatischen Beziehungen geschlossen hatte. Auf der anderen Seite hat Israel riesigen Druck, militärisch deutlich heftiger zu reagieren als bei vorigen Kriegen mit der Hamas. Daher hat die israelische Regierung nach dem 7. Oktober erklärt, dass sie mit der Hamas nicht politisch interagieren, sondern sie nur militärisch besiegen kann. Die meisten Staaten hätten sich wahrscheinlich ähnlich entschieden.

Was spielte bei der Entscheidung noch eine Rolle?

Zum außenpolitischen Zeitdruck kommt auch der innenpolitische, wobei die humanitäre Situation eher eine kleine Rolle für die israelische Zivilgesellschaft spielt. Sie interessiert wie gesagt vor allem die Situation der Geiseln, bei denen die Zeit drängt. Die israelische Regierung hat also Zugeständnisse an die Hamas in Kauf genommen, um die Geiseln so schnell wie möglich zu befreien.

Wie wird sich der Konflikt nun weiterentwickeln?

Die Feuerpause stellt Israel vor ein gewisses Dilemma, denn sie wollen den Kampf fortsetzen, um die Hamas als Bedrohung auszuschalten. Es wird für Israel aber nicht einfach, die militärische Kampagne wieder zu starten. Denn eine Wiederaufnahme des Kampfes wird wieder neu medial wahrgenommen und braucht wieder neue Rechtfertigungen. Den Israelis ist klar, dass es ihnen von Woche zu Woche schwerer wird, ihren Angriff politisch durchzuhalten. Es könnte daher sein, dass sie ihre Kampfstrategie anpassen, von einer sehr massiven Militärkampagne zu einer gezielteren. Einstellen werden sie den Kampf aber nicht.

Herr Stetter, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Telefoninterview mit Stephan Stetter
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