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Zwangsrekrutierungen im Ukraine-Krieg: "Russland benutzt sie als Kanonenfutter"


Gouverneur von Luhansk
"Sie benutzen sie als Kanonenfutter"

InterviewVon Margaryta Biriukova

Aktualisiert am 17.07.2022Lesedauer: 4 Min.
Interview
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Ein russischer Soldat im Einsatz: In den von Russland besetzten Gebieten werden Ukrainer nach Angaben des Gouverneurs von Luhansk zwangsrekrutiert.Vergrößern des Bildes
Ein russischer Soldat im Einsatz: In den von Russland besetzten Gebieten werden Ukrainer nach Angaben des Gouverneurs von Luhansk zwangsrekrutiert. (Quelle: Itar-Tass/imago-images-bilder)

Russland behauptet, die Region Luhansk zu kontrollieren. Der Gouverneur widerspricht – und berichtet von katastrophalen Zuständen und Zwangsrekrutierungen.

Die Region Luhansk ist der östlichste Teil der Ukraine und in drei Richtungen von russischem Gebiet umgeben. Viele russische Nationalisten hatten deshalb erwartet, dass Luhansk schnell ein Außenposten des "russischen Reichs" werden würde, das Wladimir Putin anstrebt. Stattdessen ist die Region in den vergangenen Wochen zu einem Symbol des ukrainischen Widerstands geworden.

Auch nach dem kürzlich erfolgten Rückzug der ukrainischen Streitkräfte aus den wichtigsten Städten der Region, Sjewjerodonezk und Lyssytschansk, kam nicht alles so, wie Russland es sich erhofft hatte.

Der Leiter der militärisch-zivilen Verwaltung der Region, Serhiy Haidai, berichtet im Interview über die aktuelle Situation und den Widerstand seiner Landsleute. Unabhängig lassen sich die Details der militärischen Lage derzeit nicht überprüfen.

t-online: Wie ist die aktuelle Lage in der Region Luhansk? Russland behauptet, dass es das gesamte Gebiet erobert habe.

Haidai: Alles, was (der russische Verteidigungsminister Sergej, Anm. d. Red.) Schoigu Putin berichtete, war wie immer eine Lüge. In den Außenbezirken der Region Luhansk wird weiter gekämpft. Obwohl der größte Teil des Gebietes vorübergehend besetzt ist, leistet ein kleiner Teil noch immer Widerstand.

Um welche Siedlungen handelt es sich?

In zwei Siedlungen der Region Luhansk – Werchnokamjanka und Bilohoriwka – gibt es weiterhin Gefechte. Die Russen können diesen Teil noch nicht einnehmen.

Russland hat dort zahlreiche Streitkräfte zusammengezogen. Sie sagen, Russland konnte die Region trotzdem noch nicht unter Kontrolle bringen?

Nun, wenn sie es könnten, würden sie dort nicht bis jetzt den Tod von Soldaten in Kauf nehmen. Die Russen versuchen ständig, mit Artillerie, Sabotage und Aufklärungseinheiten voranzukommen, aber alles ohne Erfolg. Neulich hat unsere Artillerie einige russische Munitionsdepots getroffen, sodass sich ihre Offensive jetzt verlangsamen wird.

Ist dies in gewisser Weise eine Folge der Waffenlieferungen der westlichen Länder an die Ukraine?

Das ist aber erst der Anfang, wir brauchen mehr Waffen. Das verändert die Situation auf dem Schlachtfeld entscheidend. Ich hoffe, dass unser Militär noch viel mehr davon bekommt, mehr Langstreckenartillerie und Raketen, aber auch Panzerartillerie wie Caesars, Haubitzen wie M777 und Mehrfachraketen-Systeme wie Himars.

Ein Teil der Region Luhansk ist seit 2014 von prorussischen Separatisten besetzt. Hat Russlands Invasion Ihrer Meinung nach die Meinung der Menschen dort verändert?

Diejenigen, die früher prorussisch waren und seit 2014 in den besetzten Gebieten geblieben sind, haben ihre Ansichten wahrscheinlich nicht geändert. Sie standen jeden Tag unter dem Einfluss der Propaganda. Aber in den neu besetzten Gebieten, in die die Russen nach dem 24. Februar eingedrungen sind, kann ich sagen, dass viele Einheimische eine proukrainische Einstellung haben.

Zu Beginn der Invasion gingen die Menschen zu Kundgebungen in den Städten Starobilsk, Swatowe, Nowopskow und Bilokurakyne. Die Menschen würden auch noch weiter teilnehmen, wenn die Besatzer nicht mit Schießereien begonnen hätten. Dort wurden sogar mehrere Menschen verwundet. Deshalb wollten sich die Bewohner natürlich nicht in Gefahr begeben.

Vor Kurzem ist die letzte große Stadt der Region Luhansk – Lyssytschansk – unter die Kontrolle der russischen Truppen geraten. Was wissen Sie über die Lage in den besetzten Gebieten?

Sie (Russland, Anm. d. Red.) versuchen, jemanden zu finden, der das Kommando übernimmt, um in diesen zerstörten Städten für Ordnung zu sorgen. Aber sie können die Probleme mit der kritischen Infrastruktur nicht lösen. Theoretisch können sie Erdgas aus den nächstgelegenen Städten nach Sjewjerodonezk liefern, aber innerhalb der Stadt sind alle Pipelines zerstört, alles ist in Stücke gesprengt.

Dasselbe gilt für die Wasserversorgung. Da Lyssytschansk auf einem Hügel liegt, wurde Wasser in die Stadt gepumpt. Jetzt, nach der Zerstörung der Wasserversorgung, ist es einfach unmöglich, die Stadt zu versorgen. Und natürlich werden die Städte nicht auf die Heizperiode vorbereitet sein.

Wissen Sie von Fällen, in denen Mitarbeiter Ihrer Verwaltung mit den Besatzern zusammengearbeitet haben?

Nein, Gott sei Dank. In der regionalen Verwaltung gibt es keine Kollaborateure. Zumindest sind mir keine derartigen Fälle bekannt. Wir wissen von einigen wenigen Fällen, in denen die Leiter von Hromadas (Grundeinheiten der Verwaltung in der Ukraine, ähnlich einer Gemeinde, Anm. d. Red.) mit den Feinden zusammenarbeiteten. Dabei handelt es sich jedoch hauptsächlich um Vertreter der prorussischen politischen Parteien.

Glauben Sie, dass Lokalpolitiker dieser Art in der Ukraine eine Zukunft haben?

Natürlich haben sie eine: Jeder Kollaborateur wird bestraft werden.

Die Besatzungsbehörden haben in Teilen der Regionen Saporischschja und Cherson Menschen zum Kampf gegen die Ukraine zwangsrekrutiert. Ist dies auch in der Region Luhansk der Fall?

Ja, natürlich. Sie wenden die folgende Taktik an: Sie nehmen frisch rekrutierte Soldaten und werfen sie an die Frontlinie. Ukrainische Soldaten verteidigen ihre Positionen und eröffnen das Feuer, und so finden die Russen heraus, wo sich die ukrainischen Truppen verstecken. Dann beschießen die Russen die ukrainischen Stellungen mit Artillerie. Sie benutzen die zwangsmobilisierten Soldaten buchstäblich als Kanonenfutter.

Und was ist der Ausweg für diese Menschen, die gegen ihren Willen eingezogen wurden?

Sie müssen sich der ukrainischen Armee ergeben. Das ist schwer, denn im Moment stehen sie auf der Seite des Feindes. Aber sie müssen versuchen, auf dem Schlachtfeld zu bleiben, während der Angriff stattfindet, und alles tun, um sich zu ergeben. Das ist die einzige Möglichkeit, am Leben zu bleiben.

Wie schätzen Sie die Schäden in der Region ein?

Die Schäden sind kritisch, sowohl für die Infrastruktur als auch für die Wirtschaft. Mehrere Monate hintereinander haben sie das gesamte von der Ukraine kontrollierte Gebiet beschossen. Sie setzten Mörser, Panzer, Artillerie verschiedener Kaliber ein, darunter Selbstfahrlafetten wie Giatsint-S, Tyulpan, selbst fahrende Mehrfachraketenwerfer wie "Grad", "Smerch", "Uragan", das taktische ballistische Raketensystem "Tochka" und Fliegerbomben. Es ist ein Grauen. Alles ist zerstört. Eine große Zahl der Wohnhäuser kann nicht wiederaufgebaut werden.

Am Ende des Gesprächs versichert Haidai, dass Luhansk nicht kapitulieren werde. "Wir werden nicht aufgeben, zu 100 Prozent. Leider werden wir dieses Gebiet vielleicht verlassen müssen, aber wir werden es auf jeden Fall zurückholen", sagt der Gouverneur, der seine Region vielleicht schon sehr bald vollständig verlieren wird.

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