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Kommt jetzt Australiens Brexit-Moment?


Abstimmung in Down Under
Kommt jetzt Australiens Brexit-Moment?


Aktualisiert am 13.09.2023Lesedauer: 6 Min.
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Quelle: Darrian Traynor/Getty Images

Australien steht vor einem Schlüsselmoment. Das Volk soll im Oktober über seine eigene Zukunft abstimmen – mit weitreichenden Konsequenzen.

Aus Brisbane berichtet Anna-Lena Janzen

Die Stimmung ist angespannt, die Debatten sind hitzig. Australien steht vor einem historischen Moment: Zum ersten Mal seit 24 Jahren wird über eine Verfassungsänderung abgestimmt. Es geht um Menschenrechte, Würde, Versöhnung. Darum, wie ein Land seine Kolonialgeschichte aufarbeiten kann. Noch in diesem Jahr sollen die Australier per Referendum darüber entscheiden, ob die Ureinwohner des Landes künftig eine Stimme im Parlament bekommen.

Das Ergebnis dürfte weitreichende Konsequenzen für die australische Bevölkerung haben und auch die internationale Meinung auf Jahre hinaus beeinflussen. Ein 'Nein' wäre das australische Äquivalent zum Brexit oder zu einem Trump-Moment, sagte der ehemalige BBC-Korrespondent Nick Byrant kürzlich. Es könnte im Ausland als Beweis dafür angesehen werden, "dass das Land ein rassistischer Schurkenstaat ist", so Bryant. Auch die renommierte australische Kommentatorin Michelle Grattan warnte, dass ein "Nein" möglicherweise als "Ohrfeige der Australier für die indigene Bevölkerung des Landes" ausgelegt werden könnte.

Was sind die Hintergründe?

Aber beginnen wir von vorne – bei den ersten Völkern. Denn lange bevor der Union Jack geschwungen und Fish & Chips gebraten wurden, lebten die Aboriginal und Torres-Strait-Insulaner Peoples in dem Land, das heute als Australien bekannt ist. Genauer gesagt wandeln die Urvölker bereits seit mindestens 60.000 Jahren auf diesem abgelegenen Kontinent. Der Ursprung des weißen Einflusses scheint im Vergleich dazu wie ein Wimpernschlag: 1788 erreichte die erste britische Flotte den Kontinent. Ein Schicksalstag für die Ureinwohner, die bis dahin abgeschottet von der Außenwelt als steinzeitliche Jäger und Sammler gelebt hatten.

Was dann folgt, ist erschütternd: Vertreibung, Ausgrenzung, Vergewaltigung, Massenmorde, Sklaverei: Die Erzählungen aus der Kolonialzeit, die auch heute noch wie dunkle Gewitterwolken über dem Land schweben, sind unfassbar. Die First Nations Peoples sind für die Weißen damals weniger wert als Tiere. Sie werden in Reservate verfrachtet, ihre Kinder in Heime gesteckt oder bei weißen Familien eingepflanzt. Man bezeichnet diese Kinder, die jahrzehntelang ihren Familien entrissen wurden, als die "gestohlene Generation".

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Ayers Rock in Australien. (Quelle: IMAGO)

Wie nennt man die indigenen Völker Australiens?

Das Wort "Aborigine" wird in Australien als taktlos angesehen, da es seinen Ursprung im Kolonialismus hat. Die indigenen Gruppen Australiens bezeichnen sich selbst als "First Nations peoples", "First peoples" oder "Aboriginal und Torres-Strait-Islander peoples". Man benutzt den Plural, um auf die Diversität unter den indigenen Kulturen aufmerksam zu machen. Von den rund 26 Millionen Einwohnern Australiens sind fast eine Million Aboriginal und Torres-Strait-Insulaner. Torres-Strait-Insulaner sind eine indigene Gruppe, die die gleichnamige Meerenge zwischen Australien und Papua-Neuguinea bewohnt.

Ein langer Weg

Der Weg zur Anerkennung ist lang: 1901 verabschiedete Australien seine Verfassung, in der die Ureinwohner nicht erwähnt wurden. Erst 1949 erhalten sie offiziell die australische Staatsbürgerschaft. Ab 1962 durften sie zwar wählen, hatten aber keine Bürgerrechte. 1967 wurde die Verfassung durch ein Referendum entsprechend geändert – nun haben sie die gleichen Bürgerrechte wie die Weißen, dürfen Immobilien besitzen und haben Anspruch auf staatliche Leistungen. Doch die Schmerzen der kulturellen Entwurzelung wiegen schwer. In vielen Gemeinschaften sorgen Armut, Gewalt und Alkoholismus für Probleme. 2008 entschuldigte sich Kevin Rudd als erster Regierungschef bei der "gestohlenen Generation". 2013 verabschiedete die Regierung von Julia Gillard ein Gesetz zur Anerkennung der Ureinwohner Australiens.

Es sind nur erste Schritte in Richtung Versöhnung und Wahrheitsfindung, die jedoch nicht ausreichend sind, um jahrzehntelange Unterdrückung aufzuarbeiten. Auch heute noch scheint in weiten Teilen der weißen Gesellschaft wenig Verständnis für die Belange der Ureinwohner zu herrschen. Im Pub wird oft unbedacht und respektlos über ihre Kultur gescherzt. Was wirklich passiert ist, wissen jedoch viel zu wenige. Manche Australier bestreiten die Gräueltaten der Vergangenheit, während andere sie zu relativieren versuchen.

"Uluru Statement from the Heart"

Im Jahr 2017 zündete eine Initiative einen Funken für einen möglichen Wandel: Ein Gremium aus führenden Vertretern der ersten Völker traf sich zu Beratungen am Ayers Rock. Über 1.200 Vertreter der Aboriginal und Torres-Strait-Insulaner-Gemeinschaften aus dem ganzen Land nahmen an der Veranstaltung teil. Vier Tage lang debattierten sie intensiv und verfassten schließlich das "Uluru Statement from the Heart" (Uluru-Erklärung aus dem Herzen). Dabei handelte es sich um einen kraftvollen Appell an die Politik, dass indigene Australier künftig auch an Entscheidungstischen sitzen und in Gesetzgebungsprozessen angehört werden dürfen.

"Voice to Parliament" soll in der Verfassung verankert werden

In ihrem Herzens-Statement nennen die Gesandten folgende Forderungen: Eine in der Verfassung verankerte Stimme im Parlament ("Voice to Parliament") und eine sogenannte "Makarrata-Kommission". Das ist ein Ausschuss, der Souveränitätsverträge und Wahrheitsfindung zwischen indigenen und nicht-indigenen Australiern ermöglichen soll. "Makarrata" ist ein komplexes Wort, das von einer Bevölkerungsgruppe im nordöstlichen Arnhem Land stammt, dem Yolngu-Volk. Es beschreibt eine Philosophie der Konfliktlösung, Friedensstiftung und Gerechtigkeit.

Für besonders viel Wirbel sorgt der Vorschlag, eine indigene Stimme in der Verfassung zu verankern. Konkret wird sie als eine Instanz beschrieben, die die Regierung bei Themen, die die Ureinwohner betreffen, beraten soll. Sie soll weder ein Vetorecht im Parlament noch eine Befugnis zur Gesetzgebung erhalten. Damit wollen die Ureinwohner dafür sorgen, dass die Regierung ihnen Antworten auf die vielen drängenden Probleme in ihren Gemeinschaften gibt, die noch immer allzu oft nicht gehört werden. Das in der Verfassung eingebettete Recht auf eine Stimme im Parlament soll auch dazu beitragen, systemische Diskriminierung im Land zu bekämpfen.

Die Initiative kommt schnell ins Stocken: Denn um die Verfassung zu ändern, muss es einen Volksentscheid geben. Eine "doppelte" Mehrheit ist erforderlich, nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch in den sechs Bundesstaaten und Territorien. Es ist notwendig, dass mehr Ja- als Nein-Stimmen erzielt werden. Die frühere liberale Regierung unter Premierminister Malcolm Turnbull wies diese Forderung als zu hohe Hürde zurück.

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Abstimmung im Oktober

Doch mittlerweile hat sich einiges getan. Im Mai 2022 wurde der sozialdemokratische Labor-Politiker Anthony Albanese zum Premierminister gewählt. Eines seiner Wahlversprechen war es, das Referendum für eine indigene Stimme im Parlament voranzutreiben.

Ende Mai stimmte dann das Abgeordnetenhaus mit großer Mehrheit für die Volksbefragung. Diese Woche folgte der nächste Schritt: Der Senat gab grünes Licht für ein entsprechendes Referendum, das innerhalb von sechs Monaten durchgeführt werden muss. In der Kammer brach Applaus unter den Senatoren aus.

Die Albanese-Regierung versucht derzeit auf verschiedenen Ebenen, eine Annäherung an die Ureinwohner zu erreichen. Dafür holte der neue Premier auch eine Ministerin für indigene Australier in sein Kabinett: Linda Burney.

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Burney sagte nach der Entscheidung des Senats: "Es ging den indigenen Australiern viel zu lange durchweg schlechter als den nicht-indigenen Australiern". Das System sei kaputt. "Ich sage meinen australischen Landsleuten: Parlamente verabschieden Gesetze, aber es sind Menschen, die Geschichte machen. Dies ist Ihre Zeit, Ihre Chance, Teil der Geschichte zu sein." Das Referendum wird nun am 14. Oktober stattfinden.

Das Land ist gespalten

Viel hängt von diesem Volksentscheid ab. Die Nervosität im Land ist förmlich zu greifen. Wie stehen die Chancen, dass das Referendum die vorgeschlagenen Änderungen bewirkt? Was passiert, wenn das Vorhaben abgeschmettert wird? Die Bevölkerung ist bei der Frage offenbar gespalten.

Umfragen zufolge hat die vorgeschlagene Verfassungsänderung in der gesamten australischen Bevölkerung derzeit weniger als 50 Prozent Unterstützung. So berichtete die Zeitung "The Sydney Morning Herald" im Juni, dass der Anteil der Befragten, die zustimmen wollen, von 53 auf 49 Prozent gesunken sei. Die Unterstützung in der indigenen Bevölkerung für das Vorhaben ist jedoch enorm: In zwei Umfragen in diesem Jahr befürworteten jeweils 80 und 83 Prozent eine Stimme im Parlament.

Das sagen Gegner einer "Voice to Parliament"

Oppositionsführer Peter Dutton, bekannt für seinen harten Kurs als ehemaliger Migrationsminister der Liberal Party, ist ein bekannter Kritiker der Idee. Eine solche Verfassungsänderung spalte das Land entlang ethnischer Linien und verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz, so Dutton.

Auch in der indigenen Gemeinschaft selbst gibt es einige Gegner des Vorhabens. Die indigene Senatorin Jacinta Price bezeichnete den Plan, eine indigene Stimme in der Verfassung zu verankern, als "sehr gefährlich". "Die Tatsache, dass die Stimme die Möglichkeit hat, bei der Exekutive vorstellig zu werden, deutet darauf hin, dass sie im Grunde eine stärkere Macht hat als ein Kabinettsminister", so Price. Es gibt keine Garantie dafür, dass sie Entscheidungen der Regierung nicht vor dem Obersten Gerichtshof anfechten könnte.

Andere Vertreter erklärten, die Stimme schaffe eine weitere Ebene der Bürokratie in der Hauptstadt Canberra, gehe aber nicht auf die Probleme ein, mit denen die lokalen Gemeinden zu kämpfen hätten. Andere zeigten sich besorgt, dass ein verfehltes "Ja" bei einem Volksentscheid noch größere Gräben auftun könnte.

Das letzte Mal stimmten die Australier im Jahr 1999 in einem Referendum darüber ab, ob das Land eine Republik anstelle einer Monarchie werden sollte. Die Mehrheit entschied sich jedoch dafür, der britischen Krone treu zu bleiben.

Verwendete Quellen
  • ulurustatement.org: Statement of the heart (englisch)
  • theguardian.com: "Indigenous voice to parliament referendum tracker: how many people support or oppose" (englisch)
  • abc.com.au: "It's official — the Voice referendum is happening. Here's what comes next" (englisch)
  • lowyinstitute.org: "Getting ready to explain to the world if Australia votes "No"" (englisch)
  • afp.com.au: "Why the No to the Voice campaign is gaining traction" (englisch)
  • planet-wissen.de: Aboriginal
  • Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
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