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Trotz Haftstrafe in Russland: "Nawalny will an die Macht kommen"


Kremlkritiker im Gefängnis
So kämpft Nawalny um die Macht


20.08.2023Lesedauer: 6 Min.
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Alexej Nawalny: Der Regimegegner wurde erst vergiftet, überlebte und kam dann in Lagerhaft.Vergrößern des Bildes
Alexej Nawalny: Der Regimegegner wurde erst vergiftet, überlebte und kam dann in Lagerhaft. Seine Strafe: 19 Jahre unter besonders strengen Auflagen. (Quelle: Anton Denisov/imago-images-bilder)

Im Westen sehen viele Alexej Nawalny als wichtigsten Oppositionellen, unter russischen Exildissidenten hat er aber nur wenige Unterstützer. Warum er dennoch Russlands Zukunft prägen könnte.

Der jüngste Auftritt glich einem grotesken Schauspiel. Alexej Nawalny war auf einem verzerrten Bild einer Gefängniskamera zu sehen, aufgenommen in einem improvisierten Gerichtssaal in der Strafkolonie IK-6 in Melechowo, etwa 250 Kilometer östlich von Moskau, sichtlich abgemagert.

Die Presse zwängte sich in einen Vorraum, zumindest die Vertreter, die einen Platz ergattert hatten. Das Urteil, bei dem auch noch der Ton ausfiel, rundete die Absurdität ab: 19 Jahre Gesamtstrafe. Russlands bekanntester Oppositionspolitiker, 47 Jahre alt, muss noch mindestens bis er 66 Jahre alt ist, hinter Gittern bleiben. Einer der vielen Vorwürfe gegen ihn: Nawalny sei ein Extremist, er agitiere auch aus dem Gefängnis heraus.

Im heutigen Russland überrascht ein derart nahezu stalinistisches Urteil kaum mehr. Nawalny gab sich wie gewohnt kämpferisch, rief seine Millionen Anhänger zum Kampf gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin auf. "Verliert nicht den Willen zum Widerstand", ließ er seine Mitarbeiter auf Facebook veröffentlichen.

Doch was kann ein Oppositioneller – und sei er noch so populär – ausrichten, wenn er über Jahre das Gefängnis nicht verlassen wird? Wieso wird ausgerechnet Nawalny, der für populistische Töne bekannt ist, im Westen hochgelobt? Warum kritisieren ihn viele Menschen in der Ukraine scharf? Und warum geht er mit der Opposition, die im Exil agiert, hart ins Gericht?

Vom Westen gesteuert?

An diesem Sonntag kommen in zahlreichen Städten in Europa Menschen zu Demonstrationen zusammen, um für seine Freilassung zu demonstrieren. Alexej Nawalny steht unangefochten an der Spitze einer breiten gesellschaftlichen Bewegung. Als Korruptionsbekämpfer mit eigener Stiftung namens FBK; als Gefangener, der politische Missstände in russischen Gefängnissen publik macht; als Russlands lauteste Stimme, die Putin stürzen will. Dass er dabei immer wieder polarisiert, scheint ihm nicht zu schaden.

Doch in seinem Heimatland ist Nawalnys Ruf nicht eindeutig positiv. Vielen gilt er dort als vom Westen gesteuert, als verurteilter Krimineller, der ins Gefängnis gehöre. International werden die Vorwürfe gegen ihn als politisch motiviert kritisiert. Doch tatsächlich sympathisierte Nawalny lange mit den extremen Rechten und Nationalisten in Russland. Er marschierte mit ihnen in Moskau auf und veröffentlichte Videos, in denen er Migranten diffamierte, ihnen gar mit der Pistole drohte. Auch rechtfertigte er den russischen Einmarsch in Georgien im Jahr 2008.

Der Politikwissenschaftler und Nawalny-Biograf Jan Matti Dollbaum fasste bereits 2020 zusammen: "Nawalny operiert mit den klassischen Instrumenten populistischer Rhetorik – für ihn gibt es (...) nur unten gegen oben, Volk gegen Elite", kommentierte er in den "Russland-Analysen". Darin sei er Putin gar nicht so unähnlich. Im Fall der Ukraine scheint es gar, als kümmere sich Nawalny wenig darum, ob die, für die er eintritt – die Ukrainer –, auch tatsächlich seine Mitstreiter sein wollen.

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Butterbrot-Vergleich löste Kritik aus

Nach der Annexion der Krim etwa erklärter er, dass es gar nicht so leicht sei, die Halbinsel "wie ein Butterbrot" wieder herzugeben. Zwar distanzierte er sich später von der Aussage und fordert heute eine Ukraine in den Grenzen von 1991, also mit der Krim. Über das Wie aber bleibt er uneindeutig. Viele Ukrainer empfinden seine Abkehr daher als halbherzig, für sie ist er eine Persona non grata. Daran ändert auch nichts, dass er stets ein Ende des Krieges fordert und Putin stürzen will.

Viele Ukrainer stören sich auch daran, dass die FBK in sozialen Medien nie auf das Leid der Ukraine hinweise. Der Vorwurf, den etwa die ukrainische Journalistin Maria Buchelnikova im "Spiegel" erhebt: Nawalnys Team vermeide es, sich klar zur Ukraine zu bekennen, um die zum Krieg schweigende Mehrheit der Menschen in Russland nicht zu verprellen. Auch deswegen kursiert unter russischen Oppositionellen aus dem Nawalny-Lager der Spruch, es handele sich nicht um "Russlands Krieg", sondern um "Putins Krieg".

Doch das kommt international nicht immer gut an. Als der Film "Nawalny" Anfang 2023 bei den Oscars prämiert wurde, folgten sarkastische Kommentare in sozialen Medien: Nawalnys Team und seine Familie hätten nur sich selbst gefeiert, ihre Gala-Kleidung zur Schau gestellt und dabei das Antikriegsnarrativ für ihre Zwecke genutzt – nur leider vergessen, das Leid der Menschen in der Ukraine zu erwähnen.

Nawalny braucht nicht die Sympathie der Ukraine

Für Nawalny seien diese Vorhaltungen irrelevant, sagt der Berliner Politikprofessor Alexander Libman t-online. Nawalny sei nicht auf Sympathien aus der Ukraine angewiesen, für ihn zähle es, in Russland erfolgreich zu sein. "Sein Ziel ist klar: Nawalny will an die Macht kommen und Russland reformieren", sagt Libman, der an der Freien Universität Berlin lehrt.

Dass Nawalny in Haft ist und seiner politischen Bewegung derzeit die Spitze fehlt, sieht Libman nicht als akutes Problem. Mit einem sofortigen Umsturz des Putin-Regimes sei derzeit nicht zu rechnen. Komme aber eine Transformation, helfe es Nawalny, dass er sich im Land aufhalte. Allein seine physische Anwesenheit in Russland führe automatisch zu einem besseren Draht zu den Menschen. Die Exilopposition hingegen agiere abgeschottet von jenen Menschen, um die es eigentlich gehe – die russische Bevölkerung.

Zu den Exilanten zählen Kremlkritiker wie Michail Chodorkowski und Garri Kasparow, die von London, New York und Berlin ein Ende des Kriegs fordern und für ein Russland nach Putin werben. "Oppositionelle im Exil müssen aber nicht nur die politischen Narrative bedienen, die in Russland eine Rolle spielen", sagt Libman, "sondern auch die im Ausland." Sie müssten also auch dem Westen gefallen.

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Nawalny hingegen könne sich auf Russland fokussieren. Über die Jahre habe sich sein Fokus auf Themen verlagert, die breitere Unterstützung in Russland genießen, die Antikorruptionsarbeit etwa. Ob Nawalny von seinen nationalistischen Ansichten abgerückt sei, sei schwer zu beurteilen, meint Libman. Nawalny meidet klare Aussagen dazu.

Das erscheint logisch: Eine Rückgabe der Krim wäre selbst mit einem Nawalny an der Macht kompliziert. 2014 fand die Annexion in Russland bei weiten Teilen der Bevölkerung hohen Anklang. Und es wurden Fakten geschaffen: Auf die Halbinsel sind Hunderttausende Russen übergesiedelt, längst sind russische Strukturen tief verankert. Würde sich Nawalny klar für die Rückgabe aussprechen, könnte ihn das viel Zustimmung kosten.

Distanz zu Kollegen im Exil

In seiner Oppositionsarbeit ist der 47-Jährige hingegen weniger um Umsicht bemüht. Zuletzt ging er klar auf Distanz zu seinen Kollegen im Exil: Nach seinem jüngsten Gerichtsprozess ließ er sein Team einen Beitrag veröffentlichen. Darin macht er die Eliten und Amtsträger der 1990er-Jahre dafür verantwortlich, dass Russland nicht demokratisiert worden sei. Mit ihnen wolle er nichts zu tun haben. Will heißen: Von Verstrickungen zwischen Oligarchen und dem Kreml solle "sein" Russland nach Putin vollkommen frei sein.

Der heutige Oppositionelle Michail Chodorkowski dürfte sich davon angesprochen gefühlt haben. Er war in den 90ern milliardenschwerer Oligarch, ging im Kreml ein und aus. "Dieser Text war politisch sehr klug", sagt Libman, denn: In Russland erinnern sich viele Menschen nur ungern an die politisch, aber auch wirtschaftlich turbulente Zeit zurück. Gleichzeitig solidarisiert sich Nawalny in dem Beitrag mit in Russland verbliebenen und ebenfalls inhaftierten Oppositionellen: Wladimir Kara-Mursa (25 Jahre) und Ilja Jaschin (8,5 Jahre). Damit macht er einmal mehr klar, wer für ihn richtige Opposition ist: Diejenigen, die nicht ins Exil gegangen sind.

Wandel durch Eliten-Erosion

Dass Nawalny vom Gefängnis aus einen tiefgreifenden Wandel einleiten kann, ist unwahrscheinlich. Wladimir Putin ist weiter beliebt. Daran ändern auch nichts die fast zur Regel gewordenen Drohnenattacken auf Moskau (mehr dazu lesen Sie hier) und dem schleppend laufenden Krieg in der Ukraine. Putin schweigt sich dazu aus. Nach dem Wagner-Aufstand im Juni sah es kurz so aus, als könnte nun die gesamte politische Landschaft aufreißen. Stattdessen blieben die Menschen politisch-apathisch und Putin ging nahezu unbeschadet aus dem Tumult hervor.

Die russische Politologin Tatjana Stanowaja sieht dennoch für das Land eine politische Krise voraus. "Auf absehbare Zeit wird der Kreml zur gleichen Zeit mit unterschiedlichen internen Kräften zu kämpfen haben: einer sich verschärfenden Führungskrise Putins (...), einer zunehmenden Zersplitterung der Eliten und einer Gesellschaft, die sich zunehmend gegen das Establishment wendet", schreibt Stanowaja im Fachmagazin "Foreign Affairs". Die Gesellschaft könnte aus ihrer Apathie aufwachen.

Proteste als Lauffeuer

Eine Chance für Nawalny und seine Mitstreiter, meint Russland-Forscher Libman. "In dem Moment, in dem das Regime zu bröckeln beginnt, wenn es größere Konflikte in den Eliten gibt, dann wird Nawalnys Bewegung eine wichtige Rolle spielen."

Wie? Das sei einfach, meint der Experte. Genügend einfache Leute seien schon jetzt mit vielem extrem unzufrieden. "Sie organisieren ihren Protest aber nicht, weil sie davon ausgehen, dass es nichts bringt. Sobald sie annehmen, dass sie nicht gefährdet sind und etwas bewirken können, werden sie protestieren."

Eine Kettenreaktion könnte das auslösen, meint Libman, mehr und mehr Leute würden protestieren. "Der Kollaps der DDR – das war genau dasselbe. Niemand protestiert, bis jemand merkt, dass Protestieren möglich ist. Und dann protestieren alle."

Folgt man dem Gedanken, würden sich die Proteste ausbreiten wie ein Lauffeuer: Polizisten, die eigentlich Demonstrationen niederschlagen, könnten den Befehl verweigern und zu Überläufern werden. Aus Loyalisten würden Oppositionelle, ein Prozess, der auf alle gesellschaftlichen Ebenen übergreifen könnte. Es könnte die Gunst der Stunde für Nawalny sein.

Verwendete Quellen
  • Telefongespräch mit Alexander Libman, 18. August 2023
  • YouTube.com: "НАРОД за легализацию оружия" (russisch)
  • foreignaffairs.com: "Putin’s Age of Chaos" (englisch)
  • euronews.com: "Racist or revolutionary: The complex legacy of Alexei Navalny" (englisch)
  • kyivpost.com: "ANALYSIS: Is Jailed Alexei Navalny Really Writing All of His Public Messages?"
  • Dekoder/Russland-Analysen: "Alexej Nawalny", Nr. 391, 4. Oktober 2020
  • navalny.com: "My fear and loathing" (englisch)
  • spiegel.de. "Die Wut der Ukrainer auf Nawalny" (kostenpflichtig)
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