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Nahost: Gaza-Bewohner spricht über Leben im israelischen Bombenhagel


Gaza-Bewohner über israelische Luftschläge
"Das ist das, was ihr im Westen nicht versteht"

  • Daniel Mützel
Von Daniel Mützel

Aktualisiert am 24.10.2023Lesedauer: 6 Min.
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Luftaufnahme in Al-Zahra im Norden von Gaza: Steinhügel, die mal Häuser waren.Vergrößern des Bildes
Luftaufnahme in Al-Zahra im Norden von Gaza: Steinhügel, die mal Häuser waren. (Quelle: BELAL ALSABBAGH/Getty Images)

Einst warf Samir Zaqout der Hamas vor, die Palästinenser zu "unterwürfigen Sklaven" zu machen. Doch er sagt, der Krieg treibe auch Kritiker wie ihn in die Arme der Islamisten.

"Ja, ich bin noch am Leben", antwortet Samir Zaqout mit müder Stimme auf die Frage, wie es ihm gehe. Der 57-Jährige, der für eine Menschenrechtsorganisation in Gaza-Stadt arbeitet, wohne gerade übergangsweise in Rafah, erzählt er, eine Stadt am südlichsten Zipfel des Gazastreifens. Zaqout ist wie Hunderttausende andere Palästinenser in den Süden geflohen, seit die israelische Luftwaffe den Krieg von den Kibbuzen zurück nach Gaza getragen hat.

Das Telefonat mit ihm gestaltet sich schwierig. Immer wieder bricht die Verbindung ab, manchmal ist Zaqout über Stunden nicht erreichbar. Als Reaktion auf das Blutbad der Hamas mit über 1.400 Toten hatte der israelische Verteidigungsminister die "Belagerung von Gaza" verhängt. Internet gebe es seitdem kaum, erzählt Zaqout, auch Strom habe nur, wer einen Generator zur Verfügung hat. Und Sprit, um ihn zum Laufen zu bringen.

Er lebe mit mehr als 40 Menschen in einem Haus, die meisten davon seien Verwandte und ebenfalls aus dem Norden Gazas geflohen, erzählt der Politikwissenschaftler. Sie wohnten zusammengepfercht auf engstem Raum, hätten kaum Nahrung oder Trinkwasser, hätten sich seit Tagen nicht gewaschen, sagt Zaqout.

Auch die medizinische Situation sei dramatisch: Seine 14-jährige Tochter habe Angstzustände, seit am Samstagabend eine israelische Rakete ein Haus direkt nebenan getroffen hat. Der Einschlag habe die Fenster in ihrem Haus zerborsten und die Wände erschüttern lassen. Die Tochter sei seitdem traumatisiert, habe Phantomschmerzen am ganzen Körper. "Über den mentalen Schmerz der Menschen spricht niemand", sagt Zaqout.

"Es gibt keinen Quadratmeter Sicherheit"

Zaqout, der in Gaza und Algerien Politik- und Literaturwissenschaft studiert hat, arbeitet für Al-Mezan, eine der führenden palästinensischen Menschenrechtsorganisationen. Al-Mezan dokumentiert laut eigenen Angaben Menschenrechtsverletzungen im Gazastreifen und im Westjordanland, Zaqout ist der stellvertretende Direktor. Die Organisation wirft den israelischen Luftstreitkräften vor, bei ihrer Bombenkampagne in Gaza vor allem Zivilisten zu schaden.

"Wir sind seit Jahrzehnten immer wieder Luftangriffen aus Israel ausgesetzt. Aber solche Flächenbombardements wie im Moment haben wir noch nie erlebt", klagt Zaqout. Alles werde zerstört, ganze Nachbarschaften würden "gelöscht". Jeden Abend, wenn er ins Bett gehe, wisse er nicht, ob er am nächsten Tag wieder aufwache, sagt Zaqout. "Es ist ein Albtraum. In Gaza gibt es keinen Quadratmeter Sicherheit."

Video | Israel greift Hamas mit Bodentruppen an
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Quelle: Reuters

6.000 Bomben in sechs Tagen

UN-Angaben zufolge ist die Zerstörungswirkung der israelischen Luftkampagne enorm: 42 Prozent aller Gebäude im Gazastreifen seien demnach zerstört oder beschädigt worden. Rund 5.000 Palästinenser sollen getötet, über 15.000 weitere verwundet worden sein. Von den Getöteten sollen rund 40 Prozent Kinder und Ältere sein.

Die UN beziehen sich allerdings auf das Gesundheitsministerium in Gaza, eine Behörde, die von der Terrororganisation Hamas kontrolliert wird. Verlässliche Zahlen sind das also nicht. Doch dass die Luftschläge ganze Häuserreihen dem Erdboden gleichmachen, belegen auch Fotos und Satellitenaufnahmen. Zaqout spricht von "Flächenbombardements, die alles unter sich begraben".

Dafür sprechen auch Zahlen aus Israel: Rund 6.000 Bomben hat die israelische Armee nur in den ersten sechs Tagen ihrer Militärkampagne laut eigenen Angaben über Gaza abgeworfen – fast so viele wie in einem Jahr Afghanistan-Krieg.

Taktik des "Dachklopfens" beendet?

Im Gegensatz zu den Mörderbanden der Hamas, deren erklärtes Ziel es war, so viele Zivilisten wie möglich zu töten, betont die israelische Armee stets, man versuche, die zivilen Opfer gering zu halten. Ziel der Operation sei die Zerstörung der Hamas und ihrer Infrastruktur.

Allerdings scheint man weniger Rücksicht als sonst auf palästinensische Zivilisten zu nehmen. So berichtete der US-Sender CNN, dass die Taktik des "Dachklopfens", bei dem Scheinmunition auf das Dach eines Gebäudes gefeuert wird, um einen anstehenden Luftangriff anzukündigen, offenbar ausgesetzt wurde.

Zudem würden die Bewohner durch Anrufe, SMS oder aus der Luft abgeworfene Flyer vor einem Luftschlag gewarnt. Doch Zaqout bezeichnet die Warnungen als "Fake": "Sie rufen an, und die Leute verlassen das Haus, aber oft passiert nichts. Man steht vier, fünf Stunden auf der Straße, aber es kommt kein Angriff." Manchmal kehrten Leute nach Tagen in ihre Häuser zurück und fänden sie unbeschadet vor. So entstehe Verunsicherung, inwieweit man den Warnungen trauen könne, sagt Zaqout.

Hilfe kommt nicht an

Die Situation in Rafah werde von Tag zu Tag dramatischer, erzählt Zaqout. Vor dem Krieg lebten in Rafah rund 275.000 Menschen. Mit der Fluchtwelle aus dem Norden sind vermutlich Hunderttausende dazugekommen. "Es gibt von allem zu wenig: Nahrung, Medikamente, Schutzräume, Sprit für die Generatoren. Menschen kämpfen um einzelne Flaschen Wasser", sagt er.

Um die humanitäre Krise zu lindern, hatten sich vergangene Woche die Nachbarstaaten Israel und Ägypten unter Vermittlung der USA auf Hilfslieferungen verständigt. Die Einigung beinhaltete, zunächst nur 20 Lastwagen nach Gaza zu erlauben, ein Testlauf, um zu sehen, ob man Hilfe an der Hamas vorbei nach Gaza schaffen kann.

"20 Lastwagen sind ein Witz. Wir sind zwei Millionen Menschen", sagt Zaqout. Von den 20 Transportern, die am Samstag die Grenze passierten, und den 14 weiteren, die am Sonntag nach Gaza rollten, habe er nichts gesehen, sagt er. UN-Angaben zufolge bräuchte es 100 Lastwägen täglich, um die humanitäre Lage einigermaßen in Griff zu bekommen.

"Die Hamas ist nicht an der Oberfläche"

Die USA und Israel haben am Sonntag betont, dass die Hilfe weitergehen soll. Allerdings ist das wohl eher Joe Biden zu verdanken als Benjamin Netanjahu. Das Mitgefühl für das Leid der Palästinenser ist in Israel derzeit nur bedingt vorhanden. Noch immer haben viele Menschen die Videos jubelnder Massen im Kopf, als Hamas-Terroristen nach ihrem Blutbad nach Gaza zurückkehrten und ihre Entführungsopfer präsentierten.

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"Aber warum werden wir dafür bestraft, was die Hamas angerichtet hat?", fragt Zaqout. Das Massaker sei ein Fehler gewesen, aber dafür sollten nicht die Zivilisten in Gaza darunter leiden, meint Zaqout. "Die Hamas ist nicht hier, sondern im Untergrund. Ihre Infrastruktur ist auch nicht in Wohnvierteln, sondern in den Tunneln."

Die Angaben der israelischen Armee, denen zufolge bisher mehrere hochrangige Hamas-Kommandeure durch die Luftschläge getötet werden konnten, will Zaqout nicht gelten lassen. Dafür hätten 5.000 Zivilisten (laut Angaben der Hamas, Anm. d. Red) sterben müssen, fragt er empört. "Bei wie vielen toten palästinensischen Zivilisten sagt die Welt, jetzt reicht es? Zehntausend? Hunderttausend?"

"Niemand liebt die Hamas"

Seit 1999 engagiere er sich für Menschenrechte, sei auf Konferenzen in Europa gewesen und habe sich dort für das Völkerrecht eingesetzt, sagt Zaqout. "Aber in Gaza existiere das Völkerrecht nicht mehr, sagt er. "Das internationale System ist kollabiert." Er verstehe nicht, wie es auch nur einen freien Menschen auf der Welt geben könne, der die israelischen Angriffe nicht verurteile, sagt er.

Auch das Argument, dass viele Palästinenser hinter der Terrororganisation stehen, diese 2006 ins Amt gewählt und das Massaker an israelische Zivilisten bejubelt haben, weist Zaqout zurück. "Niemand liebt die Hamas." Aber der Krieg treibe auch ihre Gegner in die Arme der Islamisten.

Der Menschenrechtler hatte die Hamas in der Vergangenheit mehrfach öffentlich kritisiert. In einem Artikel vom Dezember 2022 etwa warf er den Terroristen vor, in den 15 Jahren ihrer Herrschaft in Gaza den Rechtsstaat systematisch ausgehöhlt zu haben. Die Hamas rede "Tag und Nacht über die Befreiung von Land und Leuten" von der israelischen Besatzung, doch habe sie die Menschen in Gaza zu "unterwürfigen Sklaven gemacht", die Angst hätten, ihre Meinung zu äußern.

"Das ist das, was ihr im Westen nicht versteht"

Doch der Zaqout vom Oktober 2023 ist nicht mehr der vom vergangenen Dezember. "Jetzt ist nicht die Zeit für Kritik an der Hamas." Seine innere Ablehnung sei seinem Überlebensinstinkt gewichen, sagt er.

Der frühere Hamas-Kritiker Zaqout geht sogar so weit, die Raketenangriffe zu verteidigen, die die Terroristen seit Kriegsbeginn fast täglich gegen Israel ausführen. "Wir werden vernichtet, irgendwie müssen wir uns wehren", sagt er mit Verzweiflung in der Stimme. Es hat einen seltsamen Beigeschmack, wenn Zaqout die Raketen rechtfertigt, die auch auf Tel Aviv niedergehen, wo ein Reporter sitzt, der gerade ein Interview mit ihm führt.

"Das ist das, was ihr im Westen nicht versteht: Wenn man unter Belagerung steht und täglich mit dem Tod bedroht wird, klammert man sich an das, was da ist", sagt Zaqout. Die Raketen seien eine Botschaft an Israel. Sie laute: "Wir sind noch am Leben."

Verwendete Quellen
  • ochaopt.org: "Hostilities in the Gaza Strip and Israel | Flash Update #15" (englisch)
  • washingtonpost.com: "Israel says it will end Hamas rule in Gaza as casualties soar" (englisch, kostenpflichtig)
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