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Das Brexit-Drama in drei Akten: Lügen stürzten ein Land ins Chaos


Das Brexit-Drama in vier Akten
Wie Großbritannien ins politische Chaos stürzte

Von Patrick Diekmann

31.01.2020Lesedauer: 7 Min.
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Als britische Premierminister begleiteten Theresa May, David Cameron (M.) und zuletzt Boris Johnson den Brexit-Prozess.Vergrößern des Bildes
Als britische Premierminister begleiteten Theresa May, David Cameron (M.) und zuletzt Boris Johnson den Brexit-Prozess. (Quelle: T-Online-bilder)

Das dreieinhalbjährige Nervenspiel geht zu Ende: Großbritannien verlässt endgültig die EU. Das Land blickt auf eine Zeit zurück, in der Lügen und Ängste die Politik bestimmten. Eine Chronologie.

Das Chaos hat ein Ende. Zumindest tritt Großbritannien am heutigen Freitag um 24 Uhr aus der Europäischen Union aus. Nach 47 Jahren in der Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und in der EU ist für die Briten nun offiziell Schluss, auch wenn man nach diesem Chaos und den ganzen politischen Erschütterungen auf der Insel doch noch irgendwie eine Kehrtwende erwartet, allein weil man sich in den vergangenen dreieinhalb Jahren daran gewöhnt hat, dass in Großbritannien alles immer anders kommt, als man denkt.

Nach dieser Zeit ist die Insel tief gespalten. Die Brexit-Befürworter feiern, denn sie haben diesen Tag lange herbeigesehnt. Die Befürworter des EU-Verbleibs landen dagegen auf dem Boden der Realität – viele hatten bis zuletzt gehofft, den Austritt trotz des Referendums noch verhindern zu können. Für die europäische Gemeinschaft ist es in jedem Fall ein trauriges Ereignis, der Brexit war immer schon eine Niederlage des Multilateralismus. Großbritannien steht vor einer ungewissen Zukunft, die genauen Ausmaße des jetzt eintretenden Prozesses können noch nicht beziffert werden. Doch eines ist klar: Letztlich gewinnen weder die Briten noch die EU. National und international geht es um Schadensbegrenzung – wie schon in den vergangenen drei Jahren.

Doch wie konnte es eigentlich dazu kommen? Wie konnten sich letztlich die Angst und die Lügen der EU-Skeptiker durchsetzen? Die Brexit-Chronologie liest sich wie ein Theaterstück, es ist ein Drama in vier Akten:

1. Prolog

Es war von Anfang an keine politische Liebesbeziehung zwischen Großbritannien und dem europäischen Festland. Obwohl es mit Winston Churchill ein prominenter Brite war, der nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt erst eine Art "Vereinigte Staaten von Europa" ins Gespräch brachte.

Zunächst zeigten sich aber die restlichen Europäer und inbesondere Frankreich in den Sechzigerjahren skeptisch gegenüber einem Beitritt Großbritanniens in die EWG. Besonders der französische Präsident Charles de Gaulle befürchtete, dass die engen Beziehungen der Briten zu den USA und zum Commonwealth eine europäische Integration erschweren würde.

Im dritten Anlauf war es dann im Jahr 1973 soweit, Großbritannien wurde Mitglied der EG. Der damalige Premier Edward Heath gilt bis heute als einziger überzeugter Europäer in diesem Amt. Für viele Briten hatte der Beitritt vor allem wirtschaftliche Vorteile und auf der Insel erhoffte man sich viel von der Partizipation am großen europäischen Markt. Aber man wehrte sich von Anfang an immer dagegen, Souveränität an europäische Institutionen abzugeben, und zum Ärger der europäischen Bündnispartner nahmen die Briten oft Extraregelungen für sich in Anspruch.

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Mit der Abwahl von Health im Jahr 1974 wurden auch viele Briten skeptischer gegenüber dem europäischen Wirtschaftsraum. Es kursierte in den Medien das Bild der britischen Hausfrau, die nicht mehr günstig Milch und Eier kaufen konnte. Der damalige Labour-Premierminister Harold Wilson startete ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EWG – die britische Doppelstrategie, die die Briten von Margaret Thatcher bis Theresa May die vergangenen 45 Jahre immer wieder nutzten, war geboren: Einerseits drohten die Briten mit einem Austritt, um Zugeständnisse zu erreichen. Wenn dies erfolgreich war, verkauften die Premierministerinnen und Premierminister dies als ihren politischen Erfolg und warben im Wahlkampf für einen Verbleib der Briten in den europäischen Strukturen.

Besonders Margaret Thatcher stach dabei hervor. Ihre Tories waren beim Eintritt der Briten in die EWG noch mehrheitlich europafreundlich, anders als heute. "Ich will mein Geld zurück", erklärte Thatcher im Jahr 1984. Die Briten würden nicht ausreichend von der gemeinsamen Agrarpolitik der EWG profitieren. Trotz Protesten der europäischen Partner erreichte die Premierministerin den sogenannten Briten-Rabatt, mit dem Großbritannien von 1985 bis 2014 insgesamt 111 Milliarden Euro an Beitragszahlungen sparen konnte.

Das Spiel der Briten ging bis ins Jahr 2016 gut. Dann kam David Cameron.

1. Akt: Naivität und Machtgier

Wie oft in Dramen gibt es in der Brexit-Chronologie auch einen Charakter, der die Gefahr einer Niederlage unterschätzt und sich in eine vermeidbare Gefahr maneuvriert. In der Geschichte des britischen EU-Austritts ist das der frühere Premierminister David Cameron. In seiner ersten Amtszeit im Jahr 2010 brauchte Cameron für die Regierungsbildung einen Koalitionspartner und verbündete sich mit der Liberalen Partei. Auch um seine Macht im Land und bei den zunehmend EU-kritischen Tories auszubauen, legte sich Cameron in der Folge mit den europäischen Partnern an.

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"Für Großbritannien ist es am besten, sich die Teile von Europa auszusuchen, von den wir profitieren", sagte Cameron im Jahr 2011 im Gespräch mit Euronews. Die Liste der strittigen Themen war lang: Der britische Premier wollte keine gemeinsame europäische Migrations- und auch keine gemeinsame Fiskalpolitik, aber einen größeren Rabatt auf die EU-Beitragszahlungen der Briten.

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Deshalb wagte er im Jahr 2013, nach knapp drei Jahren im Amt, einen riskanten Schritt. Cameron kündigte ein neues EU-Referendum nach der nächsten Parlamentswahl an. Sollten die Tories im Jahr 2015 eine Mehrheit bekommen, dürften die Briten ein Jahr später über den Verbleib in der EU abstimmen. So wollte sich der Premier die absolute Mehrheit im Land sichern und gegenüber der EU, wie schon manche seiner Amtsvorgänger, eine gute Verhandlungsposition erreichen. Und obwohl Cameron sich stark für den Verbleib seines Landes in der EU einsetzte, ging sein Plan am Ende nicht auf.

2. Akt: Der Lügen-Wahlkampf

Das Ergebnis war denkbar knapp. Cameron gewann die Wahl 2015 zwar mit absoluter Mehrheit, aber beim Brexit-Referendum erlitt er am 23. Juni 2016 eine knappe, aber krachende Niederlage. Die Briten stimmten mit einer Mehrheit von 51,89 Prozent für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Cameron hatte sich zuvor stark für den EU-Verbleib eingesetzt und musste vor allem deshalb zurücktreten. Das Land ist seitdem gespalten: Während die Brexit-Befürworter feierten, verfiel der Rest des Landes in eine Art Schockzustand. Wirklich gerechnet hatte mit dem Ergebnis kaum jemand.

Doch was führte zu der Niederlage des eigentlich gar nicht so unbeliebten Cameron? Generell hatten viele Briten stets ein Problem damit, Souveränität abzugeben. Doch dieser Wahlkampf war anders. Die EU-Gegner mit dem heutigen Premier Boris Johnson und dem Rechtspopulisten Nigel Farage an der Spitze führten einen Wahlkampf, der auf Lügen und Angst aufgebaut war. Vor allem das Thema Migration nutzte die "Leave-Bewegung", um Europa als Feind von innerer Sicherheit und geregelter Grenzpolitik hinzustellen. Außerdem machten sie den Briten unmögliche Geldversprechen.

Der Lügen- und Angst-Wahlkampf, gepaart mit Halb- und Unwahrheiten, verhalf der Kampagne schließlich zum Erfolg. Für Donald Trump, der ein halbes Jahr später zum US-Präsidenten gewählt werden sollte, war Großbritannien ein Testlauf für seine eigene Kampagne. So war der damalige Chef der ultrarechten Seite "Breitbart News", Steve Bannon, auch beratend an der "Leave"-Kampagne der EU-Gegner beteiligt. Diese nutzen die sozialen Medien in einem vorher nicht gekannten Ausmaß, auch mit Hilfe der dubiosen Firma "Cambridge Analytica", die nach der US-Wahl im November 2016 noch Schlagzeilen machen sollte.

Akt 3: Theresa Mays Pfad des Scheiterns

Nach David Cameron übernahm Theresa May das Steuer als britische Premierministerin. Sie war die Kompromisslösung zwischen Brexiteers und EU-Befürwortern innerhalb der Konservativen Partei. May galt als EU-Skeptikerin, die beim Referendum aber gegen einen Austritt war. Als Premierministerin stand May dann für einen kompletten Austritt, auch wenn sie sich für einen Deal zwischen Großbritannien und der EU nach dem Brexit stark machte.

Doch nach dem Referendum begann eine Zeit der verhärteten Fronten im Land. Die zwei Seiten standen sich unversöhnlich gegenüber, Kompromisse waren kaum mehr möglich. Die gesellschaftliche Spaltung manifestierte sich auch in der Politik und speziell im britischen Unterhaus. Theresa May wird als Premierministerin in die Geschichte eingehen, die oft versuchte, Kompromisse zwischen der Pro- und Anti-Brexit-Bewegung zu finden – und wieder und wieder scheiterte.

Trotzdem brachte May in den Jahren 2017 und 2018 das bürokratische Fundament für den Brexit auf den Weg. Sie brachte das Brexit-Gesetz durch das Unterhaus und reichte in Brüssel das Austrittsgesuch ihres Landes ein. Außerdem handelte sie ein Austrittsabkommen mit der EU aus, das aber dreimal im britischen Unterhaus scheiterte.

May wurde letztlich von den zwei Seiten im britischen Parlament aufgerieben. Sie trat an, um den Brexit zu vollenden und trat im Mai 2019 als Unvollendete unter Tränen zurück. Das britische Unterhaus war in der Brexit-Frage komplett gelähmt und unfähig, Mehrheiten zu organisieren. Die Frage nach einem Austrittsabkommen und die Irland-Problematik war lange Zeit ein unüberbrückbares Problem für die britische Politik. Theresa May fand keinen Ausweg und nach zahlreichen "Order"-Rufen, endlosen Debatten und zwei verschobenen Brexit-Terminen war auch für die britische Premierministerin Schluss.

Nach ihr sollte ein Brexiteer an die Reihe kommen, der schon lange auf seine Chance gewartet hatte.

Akt 4: Der Nutznießer

Nachdem eine Kompromisslösung in dem gespalteten Land nicht zu finden war, griff mit Boris Johnson ein Politiker nach der Macht, der sich im Brexit-Prozess schon früh und lautstark positioniert hatte. Der heutige Premier kämpfte für den EU-Austritt Großbritanniens und mit seiner "Get Brexit Done"-Wahlkampagne sollte Johnson schließlich gelingen, was seiner Vorgängerin verwehrt blieb.

Im Gegensatz zu May bringt Johnson oft einen "harten Brexit" ins Gespräch, meint damit aber einen Austritt Großbritanniens ohne Abkommen mit der EU. Doch diese Drohung scheint für den Premierminister lediglich Verhandlungsmasse, auch Johnson will einen Deal mit der EU. Aber dafür muss er die Backstop-Regelung neu verhandeln, die eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland verhindern soll und die im britischen Parlament keine Mehrheit findet.

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Nach tagelangen und zähen Verhandlungen einigten sich die EU und Großbritannien kurz vor Beginn des entscheidenden EU-Gipfels im Oktober 2019 auf ein neues Austrittsabkommen. Der Backstop ist darin nicht mehr vorgesehen, dennoch soll Nordirland vorerst eine Sonderrolle erhalten, damit eine harte irische Grenze vermieden wird. Noch am selben Tag billigten die übrigen EU-Staaten die Verhandlungsergebnisse und Johnson hatte nun einen Deal, der sich nur in Nuancen von Mays Abkommen unterscheidet.

Doch auch Johnson fehlte die Mehrheit im Unterhaus, aber er konnte Teile der Labour-Partei überzeugen, Neuwahlen am 12. Dezember 2019 zuzustimmen. Bei der Wahl gewannen die Tories die absolute Mehrheit in einem Land, das nach den all den Wahlen und Abstimmungen müde vom Brexit-Chaos war. Danach ging alles ganz schnell: Schon acht Tage später fand Johnsons Deal die Zustimmung im Unterhaus. Großbritannien verlässt die EU am 31. Januar 2020.

Epilog

trotzdem steht Großbritannien auch nach dem Brexit vor zahlreichen Herausforderungen. Johnson hat die Vorarbeit von May genutzt und einen eigenen politischen Erfolg erzielt. Er ist der klassische Abstauber, würde man im Fußball sagen.

Aber das Brexit-Drama ist trotz des Austritts noch lange nicht vorbei. Die Spaltung der britischen Gesellschaft ist nicht überwunden, die wirtschaftlichen Konsequenzen sind noch nicht abzusehen und es bleibt nur wenig Zeit, um zwischen EU und Großbritannien ein Handelsabkommen auszuhandeln.

Das bedeutet vor allem für Boris Johnson viel Arbeit und die britische Politik wäre nicht die britische Politik, wenn Einigungen ganz ohne Dramen abliefen. Auch deshalb wird dieser 31. Januar nicht der letzte Akt gewesen sein.

Verwendete Quellen
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