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Deutscher in Afghanistan: "Es ist total irrsinnig. Wir werden im Stich gelassen"


Deutscher sitzt in Kabul fest
"Es ist total irrsinnig. Wir werden im Stich gelassen"

Von Patrick Diekmann

19.08.2021Lesedauer: 5 Min.
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"Verzweifelte Augen": So schwierig ist die Evakuierung der Deutschen und Afghanen aus Kabul. (Quelle: Reuters)

Deutsche Staatsbürger warten in Afghanistan weiter auf Rettung. Am Flughafen in Kabul gibt es für einige kein Durchkommen, Hilfe bekommen sie nicht. Ein Betroffener des Chaos berichtet.

Plötzlich ist Markus W.* in einem Krisengebiet gestrandet. Eigentlich war er aus privaten Gründen zu Besuch in Kabul, dann spitzte sich die Lage vor Ort dramatisch zu. Die Taliban übernahmen die Macht. Seine Reise? Ab sofort lebensgefährlich. Deshalb zögerte W. nicht, schrieb sich schnell auf die Listen des Auswärtigen Amtes. Sein einziger Gedanke: schnell raus aus dem Land, weg vom Krieg, den Islamisten, zurück nach Deutschland.

Doch bisher hatte er keine Chance, in eines der Evakuierungsflugzeuge der Bundeswehr zu steigen. Trotz langer Wartezeit, trotz deutschem Pass gab es am Flughafen für ihn mehrfach kein Durchkommen. Zu viele Menschen vor den Toren, Gewalt, Tote. Soldaten schossen mit Maschinengewehren in die Luft.

Auf Unterstützung der deutschen Behörden wartet er bislang vergebens. Markus W. fühlt sich im Stich gelassen.

Die schreckliche Erlebnisse der vergangenen Tage

Eigentlich ist Markus W. nicht sein richtiger Name, auf seinen Wunsch hat t-online seine Identität verändert. Zu groß ist die Angst vor den Taliban, die nun in der afghanischen Hauptstadt das Sagen haben. Wir erreichen ihn Donnerstagvormittag auf dem Handy, er schildert uns seine Erlebnisse. Sie stehen beispielhaft für die Tage des Schreckens in Kabul.

Samstag, 14. August

Die islamistischen Taliban nehmen zahlreiche Städte ein, oft kampflos. Sie stehen nur noch elf Kilometer vor Kabul. "Unsere Lage hier hat sich erst am Wochenende dramatisch zugespitzt", sagt Markus W. "Das kam plötzlich. Der 41-Jährige steht zwar zu diesem Zeitpunkt bereits auf der Krisenvorsorgeliste (Elefand) des Auswärtigen Amtes, doch an dem Tag gibt es keinen Kontakt mit den deutschen Behörden – trotz drohender Gefahr.

Sonntag, 15. August

Der Angriff der Islamisten auf Kabul beginnt und die Hauptstadt fällt ohne Gegenwehr an die Taliban. Die Bundesregierung beschließt die Evakuierung der deutschen Staatsbürger. W. bekommt vom Auswärtigen Amt zunächst eine Bestätigung, dass er auf der Evakuierungsliste steht. In einem späteren Schreiben wird der erste Flug für Montagnachmittag angekündigt.

"Das Auswärtige Amt hat uns am Nachmittag noch geschrieben, dass wir am Sonntagabend nicht zum Flughafen kommen sollen. Wir sollten nicht kommen und warten, bis sie sich wieder bei uns melden", schildert W.

In der Stadt herrscht Angst, viele Menschen fliehen panisch zum Flughafen. Sie hoffen, Afghanistan verlassen zu können. Auch weil die Taliban ab 21 Uhr eine Ausgangssperre verhängen, raten die deutschen Behörden dringend von einer nächtlichen Fahrt zum Flughafen ab.

"Wir haben versucht, mit kommerziellen Flügen aus Afghanistan zu kommen", sagt W. "Aber das war unmöglich."

Montag, 16. August

Die Lage am Flughafen Kabul gerät völlig außer Kontrolle. Verzweifelte Menschen stürmen das Rollfeld, es herrscht ein großes Durcheinander. Markus W. wartet, wie von den deutschen Behörden gewünscht, auf eine Nachricht des Auswärtigen Amtes. "In der vorigen E-Mail hieß es doch schließlich, dass wir warten sollen", so W.

Am Montag spielen sich schreckliche Szenen auf dem Flughafengelände ab. Menschen klammern sich an US-Flugzeugen fest, stürzen wenig später in die Tiefe. Das US-Militär kann lange Zeit die Kontrolle des Rollfeldes nicht wiederherstellen. Ein erster deutscher Rettungsflieger muss ohne Landegenehmigung stundenlang über der Stadt kreisen, dreht darauf nach Usbekistan ab. Ein zweiter Airbus bringt in der Nacht sieben Menschen aus dem Land, W. kann abends wieder nicht zum Flughafen kommen – die Ausgangssperre der Taliban gilt weiterhin.

Dienstag, 17. August

Nach dem Horror am Montag sollen am Dienstag mehr deutsche Evakuierungsflüge möglich sein. Das US-Militär hat die Kontrolle über das Flughafengelände, das Rollfeld scheint sicher. Auch Markus W. macht sich auf den Weg zum Nordtor des militärischen Bereichs – dahin waren die deutschen Staatsbürger zuvor zitiert worden. Doch vor dem Tor drängen sich Hunderte Menschen.

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"Am Flughafen herrschte Chaos. Im Angesicht dieser großen Menschenmenge wirkten die Soldaten vor Ort hilflos", berichtet W. Die US-Soldaten holten bevorzugt ihre Staatsbürger in den abgesicherten Bereich, deutsche Kräfte seien nicht vor Ort, sagt er.

Vor dem Nordtor wartet eine große Menschenmenge, es gibt kein Durchkommen, auch für deutsche Staatsbürger nicht. "Kinder haben geweint, Frauen geschrien. Dann immer wieder Schüsse. Schrecklich", schildert der Deutsche. Durch das von den Soldaten eingesetzte Tränengas habe er keine Luft mehr bekommen. "Ich habe meinen deutschen Pass stundenlang hochgehalten. Ohne Erfolg."

Nach einem endlosen Martyrium gibt W. auf. "Wir haben es acht Stunden versucht, aber konnten durch die Menschenmenge nicht zu den Soldaten nach vorne kommen. Dann ist die Situation ausgeartet, es fielen andauernd Schüsse und wir sind wieder nach Hause gefahren." Die Evakuierungsflüge müssen am Dienstagabend zeitweise ausgesetzt werden, wieder ist die Lage am Flughafengelände zu chaotisch.

Mittwoch, 18. August

Es gibt erneut Hoffnung. Während es am Dienstag lange Zeit ungewiss ist, wann und ob überhaupt Evakuierungsflüge stattfinden können, bekommt Markus W. am Mittwochmorgen wieder eine E-Mail vom Auswärtigen Amt. "Das North Gate ist wieder geöffnet", heißt es darin. Außerdem kündigt das deutsche Außenministerium gleich vier Evakuierungsflüge an.

W. macht sich auf den Weg zum Flughafen, muss jedoch feststellen, dass vor dem mittlerweile berüchtigten Nordtor noch mehr Menschen stehen als am Dienstag. "Die Menschenmenge war so groß, dass wir gar nicht aus dem Auto ausgestiegen sind", sagt er. "Die Soldaten haben wieder die ganze Zeit geschossen."

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W. erspart sich einen erneuten Versuch, es mache so keinen Sinn. "Ich fühle mich momentan durch die Soldaten am Gate mehr bedroht als von den Taliban."

Für den großen Andrang hat W. auch eine Erklärung: In Kabul habe sich herumgesprochen, dass Kanada viele afghanische Familien aufnehmen möchte. Deshalb würden sich momentan viele auf den Weg machen.

Deutsche hoffen auf Abholung zum Flughafen

Immerhin hat sich die Lage in Kabul bislang nicht weiter verschärft. "Der Weg zum Flughafen war überhaupt kein Problem", versichert W. "Wir sind mehrfach dahin gefahren, auf unterschiedlichen Routen, aber wurden nicht von Taliban kontrolliert." Das wirkliche Problem sei das Chaos am Flughafen.

Mit dem deutschen Krisenmanagement geht W. hart ins Gericht. "Es ist total irrsinnig. Wir brauchen außerhalb des Flughafens Unterstützung, aber uns wird nur gesagt, dass man uns nicht helfen könne", sagt der 41-Jährige. "Wir werden komplett im Stich gelassen, bekommen nicht die richtigen Informationen." Bis zum Donnerstagnachmittag meldet sich das Auswärtige Amt nicht. W. weiß nicht, wie es weitergehen soll.

"Deutschland ist planlos"

Die Geschichte von W. ist kein Einzelfall. Einige Deutsche, die noch in Kabul sind und über ähnliche Probleme klagen, haben sich mittlerweile vernetzt. Für zusätzlichen Unmut unter ihnen sorgt vor allem der europäische Vergleich: "Die Franzosen und die Briten sammeln ihre Staatsbürger an den Botschaften ein und bringen sie sicher zum Flughafen", behauptet W. "Warum kann Deutschland das nicht tun? Wir sind doch nicht viele hier."

Ob Großbritannien wirklich seine Staatsangehörigen zum Flughafen eskortiert, kann bislang nicht bestätigt werden. Eine Anfrage von t-online an die britischen Behörden ist bisher unbeantwortet geblieben. Frankreich holt dagegen die Landsleute mit Eliteeinheiten der Polizei zum Flughafen, wie "Bild" berichtet.

Die Deutschen in Afghanistan müssen offenbar weiter ausharren und hoffen, dass die Taliban vergleichsweise friedlich bleiben. "Wir warten jetzt ab, bis die Menschenmenge kleiner wird, und hoffen, dass Deutschland einen Plan aufstellt", sagt W. "Bislang ist es völlig planlos, so kann es nicht weitergehen. Wir möchten raus aus Afghanistan."

Verwendete Quellen
  • Telefonat mit Markus W.
  • Eigene Recherche
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