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Martin Schulz im Interview: "Die Umfragen machen mich nicht depressiv"


Martin Schulz im t-online.de-Interview
"Angela Merkel verweigert die Debatte über die Zukunft des Landes"

  • David Ruch
Ein Interview von Florian Harms und David Ruch

18.09.2017Lesedauer: 15 Min.
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SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz über die AfD: "Gegen diese Leute habe ich mein ganzes politisches Leben lang gekämpft."Vergrößern des Bildes
SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz über die AfD: "Gegen diese Leute habe ich mein ganzes politisches Leben lang gekämpft." (Quelle: t-online)

Sechs Tage vor der Bundestagswahl dümpelt die SPD in den Umfragen bei 20 bis 24 Prozent – weit hinter der Union. Wir haben Kanzlerkandidat Martin Schulz gefragt, ob er Fehler im Wahlkampf gemacht hat, und sprechen mit ihm über die AfD, wahre Gerechtigkeit und den langen Schatten der Hartz-Reformen.

Herr Schulz, eine Woche vor der Bundestagswahl sind Sie und die SPD in den Umfragen abgeschlagen. Infratest dimap sieht die SPD bei 20 Prozent – nur noch 8 Prozentpunkte vor der AfD. Was machen Sie falsch?

Martin Schulz: Die "Forschungsgruppe Wahlen“ sieht uns in der so genannten Projektion jetzt bei 23 Prozent und in der politischen Stimmung bei 28 Prozent. Ich habe keine Zeit, über die Spekulationen der Meinungsforscher zu räsonieren. Denn alle Umfragen haben eines gemeinsam: Ein Rekord-Anteil der Wählerinnen und Wähler ist noch nicht entschieden, wen sie wählen wollen. Das bedeutet für jeden Wahlkämpfer, keine Zeit auf Meinungsforschung zu verschwenden, sondern auf Überzeugungsarbeit.

Trotzdem würde das nicht reichen, um Ihr Ziel zu erreichen: Kanzler zu werden.

Woher wissen Sie das? Das entscheiden die Wähler am 24. September. Wenn so viele Menschen noch nicht entschieden sind, dann ist alles möglich. Denken Sie an Trump. Denken Sie an den Brexit. Auch da lagen die Demoskopen falsch. Die Meinungsforscher entscheiden nicht die Wahlen, sondern die Menschen. In dem Maße, in dem sichtbar wird, wie die extreme Rechte in Deutschland ihr hässliches Gesicht zeigt – denken Sie an die unsäglichen Äußerungen des Herrn Gauland über Stolz auf die Wehrmacht – werden Menschen in Deutschland sich bewusst werden, dass das demokratische Bollwerk in diesem Land die SPD ist.

Anfang des Jahres standen Sie sehr gut in den Umfragen da. Damals gaben Sie etwas darauf – jetzt nicht mehr?

Irrtum! Im Februar lagen wir bei 30-32 Prozent, da habe ich in mein Tagebuch eingetragen: "Dem glaube ich nicht“. Ich bin keiner, der nur auf die Umfragen schaut. Der rapide Anstieg zu Jahresbeginn hat mich ebenso wenig aus der Bahn geworfen wie mich die Umfragen jetzt depressiv machen. Ich ziehe meine Furche von der Politik der sozialen Gerechtigkeit, des Respekts und der internationalen Stabilität durch ein starkes Europa. Und ich bin ganz sicher, dass wir in der Schlussphase dieses Wahlkampfs noch stärker erleben, dass das die Menschen anspricht.

Noch mal: Sie sind Anfang des Jahres furios in den Wahlkampf gestartet, danach hat die SPD zwei Landtagswahlen verloren und ist in den Umfragen zurückgefallen. Was haben Sie auf diesem Weg falsch gemacht?

Wir haben ein gutes Programm erarbeitet. Ich glaube, die SPD hat in ihrer Geschichte seit August Bebel keinen Parteitag mehr gehabt, bei dem sie ein Wahlprogramm so geschlossen diskutiert hat. Und am Ende einstimmig verabschiedet. Nicht weil die Delegierten zustimmen mussten, sondern weil sie zustimmen wollten. Wir haben das am breitesten gefächerte und präziseste politische Angebot in diesem Land. Wir haben eine Menge richtig gemacht, wir beschreiben einen Fahrplan für die Zukunft dieses Landes. Wir haben allerdings, das muss man nüchtern sehen, auf der Strecke dahin zwei Landtagswahlen verloren, darunter in Nordrhein-Westfalen. Das war ein harter Schlag für uns und wir haben auch als Partei die eine oder andere Schwierigkeit zu überwinden gehabt.

Welche Schwierigkeiten meinen Sie?

Der G20-Gipfel wurde zu einer innenpolitischen Debatte gegen uns gewendet. Wir haben erleben müssen, dass eine Abgeordnete der Grünen in Niedersachsen eine Regierung aus sehr persönlichen Gründen zu Fall bringt. Mit solchen Dingen muss man fertig werden, klar. Das muss man wegstecken. Aber wir sind in einem sehr, sehr guten Kampfmodus und die Partei ist unglaublich geschlossen.

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Es sind also andere Umstände daran schuld. Suchen Sie bei sich selbst auch eine Verantwortung?

Ich bin Parteichef, es ist meine Verantwortung, mit meiner Partei auch über Hürden zu gehen, die mir gestellt werden. Das sind die Dinge, mit denen ich klarkommen muss. Ich frage mich sehr kritisch nach meinen eigenen Fehlern, klar.

Welche wären denn das?

Ich glaube nicht, dass wir große Fehler gemacht haben. Und ich werde auch nicht mit meinen Fehlern um Zustimmung werben, sondern mit einem Plan für die Zukunft dieses Landes.

Das könnte doch authentisch wirken.

Ich will nicht authentisch wirken, ich bin authentisch. Und ich bin ein selbstkritischer Mensch. Ich versuche mir die Welt nicht schön zu malen, aber ich versuche auch nicht, sie schlecht zu reden. In der Politik, insbesondere in Wahlkämpfen, geht es vor allem um eines: zu sagen, was man in der Zukunft tun will. Angela Merkel will die Vergangenheit verwalten. Ich will mit meinem Programm die Zukunft gestalten. Und wenn es uns bis heute noch nicht ausreichend gelungen ist, das klar zu machen, liegt das, glaube ich, nicht an mir. Sondern an einer Politikverweigerung, die Angela Merkel geradezu zum System erhoben hat. Frau Merkel höhlt mit ihrer Politik des permanenten Ungefähren und der Weigerung, sich auf irgendetwas konkret festzulegen, die politische Debatte in diesem Lande aus. Diese Schlaftablettenpolitik, von der sie glaubt, dass sie ihr nutzt, ist meiner Meinung nach unserer Demokratie nicht zuträglich.

Aber warum schaffen Sie es dann nicht, den Abstand zu Frau Merkel zu verkürzen? Sie sagen, dass die Kanzlerin in der Wahrnehmung vieler Menschen bestimmte Themen nicht konkret anspreche. Warum können Sie daraus kein Kapital schlagen?

Woher wissen Sie das, dass ich kein Kapital daraus schlagen kann?

Die Umfragen dokumentieren das.

Aber die Umfragen sind keine Wahlergebnisse. Die politische Stimmung für die SPD ist von 24 auf 28 Prozent in der vergangenen Woche angestiegen. Für die CDU ist sie auf 34 Prozent runtergegangen. Zugegebenermaßen: Auch diese Stimmungen sind noch keine Stimmen. Aber sie spiegeln das wider, was ich auch auf den Straßen erlebe. Auf den Plätzen, auf meinen Veranstaltungen. Großer Zulauf, großes Interesse und eine beeindruckende Leistung meiner eigenen Partei, die sich eben nicht von Umfragen niederducken lässt, sondern überzeugt ist. Glauben Sie mir, ich schaue nach meinen eigenen Fehlern, um daraus zu lernen und nach vorne zu schauen.

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Dann nennen Sie doch mal einen.

Vielleicht hätte ich früher thematisieren sollen, dass Angela Merkel die Debatte über die Zukunft des Landes verweigert.

Waren Sie rückblickend auch im TV-Duell nicht scharf genug?

Selbst Nikolaus Brender, früherer Chefredakteur des ZDF, hat von einer Erpressung durch das Bundeskanzleramt gesprochen. Brender hat gesagt: Dort wurde ein Korsett erzwungen, in dem Merkel sich nicht zu bewegen brauchte und Schulz sich nicht bewegen konnte. Es ist schon ein starkes Stück, wenn diejenige, die dieses Korsett verlangt hat, anschließend bemängelt, es sei nicht genug über Digitales geredet worden. Ich habe Frau Merkel daraufhin zu einem zweiten Duell aufgefordert. Dann schickte ich einen Brief in dieser Angelegenheit an das Bundeskanzleramt und bekam eine Antwort aus dem Konrad-Adenauer-Haus. Erstaunlich, wie das vermengt wird.

Warum eigentlich einen Brief? Das wirkt ein bisschen wie ein Bittsteller.

Nein. Ich fände ein zweites Duell eine demokratische Selbstverständlichkeit. Alle vier Sender wollen das, es sind eindeutig wichtige Themen nicht zur Sprache gekommen. Ich bin dazu jederzeit bereit, Frau Merkel lehnt es ab, sie will ihre Positionen im Vagen halten. Aber es ist schon interessant, dass in Deutschland dann über die Form geredet wird und nicht über den Inhalt. Die Tatsache, dass die Antwort aus der CDU-Zentrale gekommen ist, nehmen offensichtlich auch Sie kommentarlos zur Kenntnis.

Wir werden darüber mit Frau Merkel sprechen.

In Frankreich wäre ein solches Verhalten massiv kritisiert worden. Nehmen Sie die Antwort von Frau Merkel in der ZDF-Wahlarena, es würde in Deutschland keine personalisierte Wahl stattfinden – aber schauen sie sich mal auf den Straßen um, schauen Sie sich die Plakate an - alles in der CDU wird personalisiert. Das ganze Programm der CDU ist Angela Merkel. Was für ein eklatanter Widerspruch.

Da Sie gerade Herrn Gauland erwähnten: Sie haben die AfD als „eine Schande für die Bundesrepublik“ bezeichnet.

Ist sie.

Stellen Sie damit auch Anhänger der AfD in eine rechte Ecke, die möglicherweise gar nicht rechtsextrem sind oder rechtsextrem denken? Die möglicherweise auch für die SPD ein Wählerpotential bilden könnten?

Nein, auf keinen Fall. Leute, die aus Verzweiflung irgendwelchen Verführern hinterher laufen, können wir zurückgewinnen. Ich bin sicher, dass nicht alle Wählerinnen und Wähler, die sagen, sie würden die AfD wählen, Hardcore-Rechte sind. Aber Herr Gauland ist ein Rechtsextremist, Herr Höcke und Frau Weidel. Soll ich dazu schweigen, dass ein Spitzenkandidat einer Partei sagt, wir müssten jetzt stolz auf die Wehrmacht sein? Wenn ich darauf hinweise, attackiere ich nicht die Wählerinnen und Wähler der AfD, sondern ich attackiere einen Hardcore-Rechtsextremisten. Und wer die wählen würde, sollte sich genau anschauen, was diese Typen sagen. Solche Leute hat der Deutsche Reichstag schon mal gehabt. Es waren Sozialdemokraten, die sich bis zuletzt den Nazis in den Weg gestellt haben. Natürlich verdamme ich keinen Wähler pauschal. Aber sie können von einem Vorsitzenden der SPD – dem Bollwerk der Demokratie seit mehr als 150 Jahren – nicht erwarten, zu schweigen, wenn erstmals seit 1945 wieder Rassisten und Rechtsextremisten in den Bundestag einziehen könnten. Die AfD ist eine Partei, in der Frauke Petry als gemäßigter Flügel gilt. Dann können wir uns ausrechnen, was wir vom radikalen Flügel zu erwarten haben. Gegen diese Leute habe ich mein ganzes politisches Leben lang gekämpft.

Wie wollen Sie Menschen ansprechen, die dazu tendieren, AfD zu wählen?

Viele Leute fühlen sich in dieser Gesellschaft nicht respektiert. Ich stelle den Respekt vor der Leistung jedes Einzelnen in den Mittelpunkt meines politischen Handelns. Viele fühlen sich von Leuten herabgewürdigt, die sich selbst zu Eliten erklären. Sehen Sie, mir wurde von Leitartiklern der "Charme eines Eisenbahnschaffners“, und die "Ausstrahlung eines Sparkassenangestellten“ unterstellt. Mir ist das egal, aber daraus spricht eine Verachtung gegenüber normalen Menschen. Oder nehmen Sie den Satz dieses Herrn Höcke, das Holocaust-Denkmal in Berlin sei „ein Mahnmal der Schande“, es brauche eine 180-Grad-Wende in der Erinnerungskultur. Das ist die Sprache der 20er und 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Wenn man sich mit den Repräsentanten dieser Partei, mit diesen Hardcore-Rechtsextremisten, auseinander setzt, dann um zu zeigen, dass die, die sie wählen, die Falschen wählen. Um an die Wähler heranzukommen, muss man sich in der Sache mit dieser Hetzer-Partei auseinander setzen.

Aber dem Image der Kümmerer-Partei werden Sie in den Augen vieler AfD-Wähler offenbar dennoch nicht gerecht.

Wenn Sie schon über Umfragen sprechen wollen: Im Vergleich zu Angela Merkel führe ich in allen Erhebungen in der Frage, wer näher an den Problemen der Bürger ist. Das merke ich auch auf meinen Veranstaltungen. Ich merke das an den vielen Zuschriften, an der Resonanz, die ich von den Leuten bekomme, dass sie sehr wohl mitbekommen, dass ich ein geerdeter Mensch bin, der ihre Alltagssorgen versteht.

Trotzdem hat man den Eindruck, dass die SPD Teile ihres ursprünglichen Milieus nicht mehr erreicht. Was bleibt zwischen Linkspartei und sozialdemokratisierter Union für die Sozialdemokratie?

Ich widerspreche Ihnen, was die Sozialdemokratisierung der CDU angeht. Die CDU hat ein stramm konservatives Programm verabschiedet. Die CDU hat auf ihrem Parteitag Mehrheiten hinter Jens Spahn versammelt, nicht hinter Angela Merkel. Der Etikettenschwindel, den Angela Merkel begeht, so zu tun, als sei sie immer auf der Seite der Sozialdemokraten, ist auch falsch. Ein Beispiel: Das Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit wurde von Frau Merkel persönlich zurückgewiesen, das benachteiligt vor allem Frauen. Wir sind die Partei, die dafür kämpft, dass wir diesen Rechtsanspruch umsetzen.

Ihre Chancen für eine Regierungsübernahme könnten größer sein, wenn Sie es mal mit der Linken probieren würden, die sich wie die SPD soziale Gerechtigkeit groß auf die Fahnen geschrieben hat. Sie gehen aber verbal aber auf Distanz zu dieser Partei. Warum?

Ich werbe allein für meine Partei. Ich habe einen Satz der Fraktionsvorsitzenden der Linken zur Kenntnis genommen: "Ob Raute oder Zottelbart“ das mache keinen Unterschied. Hochinteressant, was für ein Menschenbild dahinter steckt. Die Demokratie lebt von der Gestaltungsfähigkeit und dem Gestaltungswillen. Aber ich sehe natürlich auch Politiker in diesem Lande, die die Haltung einnehmen: "Entweder kriege ich 100 Prozent oder es ist mir egal“. Genau damit erreicht man keinen sozialen Fortschritt.

Apropos soziale Gerechtigkeit: Das ist ihr großes Thema, trotzdem wird in der Wahrnehmung vieler Bürger im Wahlkampf zu wenig über ihre konkreten Sorgen und Nöte gesprochen.

Ich erlebe bei meinen Veranstaltungen sehr stark, dass die Leute kommen und zuhören. Sie hören zu bei den Themen gerechte Löhne, Miete, Alterssicherung, Pflege, Arbeitsplatzsicherheit, Investition in Bildung, Kitas, Ganztagsschulen, die richtig harten Alltagssorgen, das Abgehängtsein auf dem Land, fehlende medizinische Versorgung, Zwei-Klassen-Medizin. Wissen Sie, man kann einen Wahlkampf führen nach dem Motto: "Air Force One hier, Würselen dort“. Meine These war immer: Irgendwann musst du aus der Air Force One aussteigen, und dann wirst du feststellen, dass du in einem Land bist, wo es mehr Würselen gibt als rote Teppiche auf G20-Gipfeln. Ich nehme die Sorgen der Wählerinnen und Wähler sehr ernst und kenne sie. Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit, Gebührenfreiheit in den Kitas, Verschärfung der Mietpreisbremse, Investitionen in Schulen, betreute Ganztagsschulplätze, mehr Schulsozialarbeit, die Aufhebung des Kooperationsverbots, damit der Bund mit seinem milliardenschweren Überschuss bei der Sanierung der Schulen helfen kann. Keine Aufrüstung, nicht 25 bis 30 Milliarden mehr pro Jahr für die Bundeswehr. Abschaffung des Soli, mit Entlastung der mittleren und unteren Einkommen. Spätere Erhebung des Spitzensteuersatzes, um Facharbeiter nicht schon mit dem Spitzensteuersatz zu belasten. Das sind alles Themen, mit denen wir genau diese Alltagssorgen adressieren.

Trotzdem steht die SPD in den Augen vieler Menschen auch immer noch für die Hartz-IV-Gesetze. Ist die Agenda-Politik von Gerhard Schröder heute noch eine Belastung für die SPD?

Ich glaube, dass wir mit der Debatte um das Arbeitslosengeld, mit der Weiterentwicklung der Bundesagentur für Arbeit zu einer Agentur für Arbeit und Qualifizierung, zeigen, dass man in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts die Probleme nicht mit einer Debatte lösen kann, die vor mehr als zehn Jahren stattgefunden hat. Wir müssen uns um die Zukunft kümmern. Als Parteivorsitzender habe ich die Konsequenzen aus dem Richtigen und aus dem nicht Richtigen gezogen. Ich will Ihnen aber eines sagen: Ich bin nicht in diese Regierung eingetreten.

War das ein Nachteil?

Nein. Man muss doch in der Politik bestimmte Prinzipien durchzuhalten. Ich kann mich doch nicht im März diesen Jahres zum Kanzlerkandidaten und zum Parteivorsitzenden wählen lassen und dann in eine Regierung eintreten, die ich ablösen will. Unser Ziel ist es, diese Regierung abzulösen.

Dann ist es also ein Problem im Wahlkampf, dass Ihre SPD in der Bundesregierung sitzt?

Nein. Wir haben zu Beginn dieser Wahlperiode einen Koalitionsvertrag geschlossen. Über diesen Koalitionsvertrag haben wir innerhalb unserer Partei abstimmen lassen. Bei einer Wahlbeteiligung von 78 Prozent der Parteimitglieder haben 76 Prozent zugestimmt. Es ist seriös, diesen Vertrag dann abzuarbeiten – bis zur Wahl – und gleichzeitig zu sagen: Wir wollen diese Regierung ablösen! Ich will nicht vormittags mit Angela Merkel zusammenarbeiten und nachmittags auf die Plätze gehen und sagen: "Die muss aber weg“. Mir wird immer wieder gesagt: "Aber wenn du Minister wärst, dann hättest du doch einen Regierungsapparat zur Verfügung.“ Ich wusste nicht, dass in Deutschland Ministerämter zu Wahlkampfzwecken vergeben werden. Ich überlasse es Frau Merkel, den Regierungsapparat für den Wahlkampf zu nutzen. Ich benutze den Parteiapparat der SPD, mehr nicht. Möglicherweise ist das ein Nachteil, aber es ist ein Prinzip, und an dieses Prinzip halte ich mich. Das finde ich glaubwürdiger, als für sechs Monate in eine Regierung einzutreten.

Glauben Sie, dass die Menschen das verstehen: Sie wollen nicht Teil der Bundesregierung sein - aber Ihre Partei schon?

Ja. Es geht ja um die Frage: "Wie regieren wir Deutschland in den nächsten vier Jahren?“ Einen zukünftigen Regierungschef muss das interessieren: Was ist in den nächsten vier Jahren in Deutschland, in Europa, mit der nächsten Generation? Darum geht es. Schauen Sie sich doch mal Ihre Fragen an: Die beziehen sich alle auf ziemlich formale Vorgänge. Koalition hier, Umfragen, Taktik, verstehen die Leute das da. Wissen Sie, was die Leute haben wollen? Lösungen. Lösungen für die Probleme, die sie jeden Tag haben, und die biete ich an. Diese Lösungen muss ich perspektivisch beschreiben und dafür Mehrheiten gewinnen. Das ist eben der Unterschied zwischen Ihrer Aufgabe und meiner.

Dann kommen wir doch mal zu den Lösungen. Beim Spitzensteuersatz und bei der Reichensteuer planen sie Veränderungen, aber die Vermögensteuer wollen Sie nicht angehen. Warum?

Die Vermögensteuer steht in unserem Grundsatzprogramm.

Im SPD-Wahlprogramm für die nächste Legislaturperiode aber nicht. Würde Sie nun doch eingeführt, sollten Sie Bundeskanzler werden?

Ich verspreche nichts, was ich möglicherweise nicht halten kann. Ich muss abwarten, was die höchstrichterliche Rechtsprechung in diesem Lande zur Vermögenssteuer sagt. Ich nehme nur etwas in das Programm auf, wenn ich weiß, dass ich etwas auch rechtssicher durchsetzen kann. Wenn ich heute hingehe und den Wählern verspreche, "wir führen die Vermögenssteuer ein“ und verstecke mich dann hinter einem Gericht, das nächstes Jahr vielleicht sagt, "ne, kannst du gar nicht“ oder zumindest nicht so, wie du es willst, dann fände ich das unredlich. Deshalb habe ich ganz klar gesagt: "Wenn wir Rechtssicherheit haben, dann komme ich darauf zurück.“, deshalb ist das kein Projekt für die kommende Legislaturperiode. Aber wir müssen große Vermögen stärker besteuern, deshalb konzentrieren wir uns auf den Bereich, der im Moment viel wichtiger ist: die Erbschaftssteuer. Dafür müssen wir in der nächsten Wahlperiode Lösungen finden.

Ein Thema, das viele Menschen in den Städten umtreibt, sind die steigenden Mieten. Justizminister Heiko Maas hat die Mietpreisbremse forciert – aber weil sie viele Lücken lässt, steigen die Mieten in den Städten trotzdem weiter. Warum ist die SPD in diesem Punkt nicht konsequenter gewesen?

Wir wollen die Mietpreisbremse massiv verschärfen, zum Beispiel durch größere Offenlegungspflichten, was die Vormieten angeht, Modernisierungskosten sollen nicht einseitig auf die Mieter umgelegt werden können und vieles mehr – die sogenannte Mietpreisbremse 2. Heiko Maas hat einen komplett fertigen Gesetzesentwurf vorgelegt, mit diesen Verschärfungen. Abgelehnt. Ich habe das im Koalitionsausschuss angesprochen, die Antwort war: "Nein“. Von Frau Merkel. Wir konnten also nicht konsequenter sein, weil unser Koalitionspartner das verhindert hat. Deshalb brauchen wir eine andere Regierung, damit wir das in der nächsten Wahlperiode durchsetzen können. Das ist für mich ein harter Punkt. Wer mit mir koalieren will, der muss diesen Mietwucher, den wir zwischenzeitlich haben, in zwei Formen bekämpfen: Unmittelbare Maßnahmen mit der Verschärfung der Mietpreisbremse wie gerade beschrieben und gleichzeitig eine massive Investition in den geförderten Wohnungsbau.

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Themenwechsel zu Europa: EU-Kommissionspräsident Juncker hat gerade einen Grundsatzplan für ein neues Europa vorgelegt: Alle EU-Länder sollen den Euro übernehmen und in den Schengen-Raum aufgenommen werden. Würden Sie das unterschreiben?

Das ist die Rechtslage. Der EU-Vertrag hat den Artikel 3, Absatz 4, der lautet: "Die Union errichtet eine Wirtschafts- und Währungsunion, deren Währung der Euro ist.“ Großbritannien, das jetzt sowieso die EU verlässt, und Dänemark haben eine Ausnahmegenehmigung. Alle anderen Staaten sind verpflichtet, den Euro einzuführen. Es gibt aber Kriterien, die man einhalten muss, die sogenannten Konvergenzkriterien. Und es gibt mit Ausnahme von Polen zurzeit kein Land, das in der Lage wäre, die Konvergenzkriterien in absehbarer Zeit zu erfüllen. Insofern hat Jean-Claude Juncker nicht mehr getan als die tatsächliche Lage zu beschreiben, wie sie im EU-Vertrag steht.

In unseren Augen war das mehr als eine Lagebeschreibung: Juncker will einen Neustart in Europa. Noch mal: Würden Sie eine Ausweitung der Euro-Zone unterstützen?

Die wirtschaftliche und politische Lage, auch die finanzielle Lage ist so, dass ich eine Erweiterung der Eurozone zum jetzigen Zeitpunkt nicht sehe. Auch für den Beitritt zum Schengen-Raum müssen bestimmte Kriterien erfüllt sein. Da sehe ich zurzeit keine Veränderung gegenüber dem Status quo.

Der Europäische Gerichtshof hat gerade in einem Grundsatzurteil entschieden, dass auch Ungarn und die Slowakei Flüchtlinge aufnehmen müssen. Die ungarische Regierung beharrt trotzdem darauf, keine Flüchtlinge aufzunehmen.

Das ist ein Skandal der Sonderklasse, und dass das in Berlin beschwiegen wird, ist schlimm. Denn der Mann, der das macht, ist ein Parteifreund von Angela Merkel und Horst Seehofer. Viktor Orbán, der autoritäre Ministerpräsident von Ungarn , der die Rechtsgemeinschaft der Europäischen Union offen in Frage stellt. Horst Seehofer lädt ihn als Gast zu Veranstaltungen der CSU ein und lobt ihn ständig. Dass die Regierungschefin dieses Landes zu diesem ostentativen Infragestellen der Rechtsgemeinschaft der EU durch Viktor Orban schweigt, kann ich mir nur mit Parteifreundschaft erklären. Ein weiterer Beweis dafür, dass zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei Frau Merkel eine große Lücke klafft.

Ein weiteres Thema, das viele Menschen umtreibt, ist der Abgasskandal. Sie haben gesagt: "Den Diesel, den wird es noch Jahrzehnte geben“. Dabei ist erwiesen, dass die Stickoxide gesundheitsschädlich sind. Warum sagen Sie nicht: "Wir müssen davon wegkommen“?

Weil es Millionen Menschen in Deutschland gibt, die Diesel fahren und auf Diesel angewiesen sind. Die dürfen doch nicht die Zeche zahlen für das Versagen von Konzernmanagern. Denen ist nicht damit geholfen, dass ich irgendein Ende des Diesel verkünde. Wir brauchen eine Optimierung der Motorentechnologie, um den Diesel sauberer zu machen. Ein praktisches Beispiel: Ich hatte vor drei Wochen Handwerker bei mir zu Hause. Die kamen alle mit Dieselfahrzeugen und hatten nur zwei Fragen: Wird das Ding stillgelegt? Wer bezahlt die Umrüstung? Diese Leute sind darauf angewiesen, diese Leute wird es auch noch Jahrzehnte geben. So zu tun, als könnten wir aus der Dieseltechnologie schnell austeigen, ist wie Sand in die Augen der Leute zu streuen. Es ist viel sinnvoller, den Versuch zu unternehmen, durch Umrüstung und Optimierung der Dieseltechnologie als Übergangstechnologie die Umweltbelastung zu reduzieren. Aber den Leuten zu versprechen, wir könnten zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt, den die Politik oder der Gesetzgeber festlegt, aus der Dieseltechnologie aussteigen, halte ich für falsch. Das ist gar nicht möglich.

Das wichtigste Thema unserer Zeit kommt in Ihrem Wahlprogramm praktisch kaum vor. Wissen Sie, wovon wir sprechen?

Sagen Sie es mir.

Dem Klimawandel und der Erderwärmung. Glauben Sie, dazu wollen die Menschen von der SPD keine differenzierten Antworten hören?

Doch, natürlich. Und vielleicht sollten Sie nochmal in unserem Programm nachschauen, da finden Sie eine Menge sehr klarer Aussagen. Sie haben hier jemanden sitzen, der mit seiner Unterschrift wesentlich dazu beigetragen hat, das Pariser Abkommen ganz schnell in Kraft zu setzen. Mit der Ratifizierung im Europäischen Parlament war die Mindestzahl der Staaten erreicht, die man brauchte. Ich bin stolz darauf. Und dann geht ein amerikanischer Präsident hin und sagt: "Wir treten aus.“ Wie wird gegenüber diesem Präsidenten eigentlich argumentiert? "Die Zeit, wo wir uns auf andere verlassen konnten, ist ein Stück vorbei.“ Für diesen Satz ist Frau Merkel bejubelt worden. Aber was heißt das eigentlich?

Was hätten Sie Trump gesagt?

Der Ausstieg aus diesem Klimaabkommen, Herr Präsident Trump, ist eine Kampfansage an die nächste Generation, und die Bundesrepublik Deutschland wird alles tun, damit die EU die Klimaziele einhält, und wir als Bundesrepublik Deutschland gehen mit unserer Energiewende, die übrigens Gerhard Schröder eingeleitet hat, mit gutem Beispiel voran. Das ist die Antwort, die ich als Bundeskanzler geben würde.

Herr Schulz, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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