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Josef Schuster vom Zentralrat der Juden über Antisemitismus in Deutschland


Zentralratspräsident über Antisemitismus
"Überschreitet die Grenze des Erträglichen"

InterviewVon Florian Harms, Marc von Lüpke

28.02.2024Lesedauer: 7 Min.
Interview
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Das Leo-Baeck-Haus in Berlin-Mitte ist der Sitz des Zentralrats der Juden in Deutschland.Vergrößern des Bildes
Das Leo-Baeck-Haus in Berlin-Mitte ist der Sitz des Zentralrats der Juden in Deutschland. (Quelle: imago images)

Wie sicher können sich Juden in Deutschland fühlen? Der Antisemitismus erstarkt. Josef Schuster vom Zentralrat der Juden in Deutschland erklärt, wie der Judenhass bekämpft werden kann.

Der Antisemitismus in Deutschland ist stark – und wird immer stärker. Auf offener Straße wird in Deutschland Israel im Speziellen und Juden im Allgemeinen der Tod gewünscht, bei Kulturveranstaltungen wie der Berlinale werfen Preisträger Israel einen "Genozid" an den Palästinensern vor. Kein Wort fiel dabei über die Terrorattacke der Hamas vom 7. Oktober 2023, kein Wort über die Geiseln, die sich immer noch in den Händen der Terroristen befinden.

Die Lage ist auch deshalb so ernst, weil die AfD großen Zuspruch findet. In den Reihen von Rechtsextremisten finden sich viele Judenhasser, nicht nur im Osten des Landes, auch im Westen. Kann der Antisemitismus überhaupt erfolgreich eingedämmt werden? Ja, sagt Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, im t-online-Interview. Dabei sind aber nicht nur Politik und Rechtsstaat gefordert, sondern die Gesellschaft als Ganze. Auch der Zentralrat selbst tritt dem Antisemitismus stärker entgegnen, etwa mit der neuen Kampagne "#StopRepeatingStories".

t-online: Herr Schuster, der Antisemitismus in Deutschland erstarkt. Können Juden hierzulande auch in Zukunft gut und gerne leben?

Josef Schuster: Wenn ich dieses Zutrauen nicht hätte, würden wir dieses Gespräch nicht führen. Wir sind nicht wehrlos! Wir sehen aber auch: Der Antisemitismus wird aggressiver und gewalttätiger. Darum hat der Zentralrat kürzlich auch das zweite Video seiner Kampagne "Stop Repeating Stories" veröffentlicht. In dieser Kampagne weisen wir genau darauf hin: dass die Bedrohung durch den Antisemitismus wächst.

Wie sicher können sich Juden in Deutschland fühlen? Infolge der propalästinensischen Proteste kommt es seit Monaten zu Hassattacken und Angriffen.

Es gibt hier zwei Ebenen: Jüdisches Leben ist dank der Polizei in Synagogen und Gemeindezentren möglich. Auch im Privatbereich gibt es kaum Einschränkungen. Anders im öffentlichen Raum, da ist die Situation teilweise extrem. Wer in bestimmten Vierteln von deutschen Großstädten wie Berlin eine Kippa oder einen Davidstern trägt, geht leider ein Risiko ein.

Schon 2015 haben Sie Juden in einem Interview dazu geraten, beim Aufenthalt in Stadtteilen mit hohem muslimischen Bevölkerungsanteil anstelle der Kippa eine andere Kopfbedeckung zu tragen.

Ich war nicht der Erste, der diese Warnung ausgesprochen hat. Deshalb habe ich es nicht verstanden, warum meine Worte für einen öffentlichen Aufschrei sorgten. In jüdischen Kreisen ist es seit Langem eine Binsenweisheit, dass man seine jüdische Identität an bestimmten Orten besser nicht zu erkennen gibt.

Zur Person

Dr. Josef Schuster, 1954 in Haifa geboren, ist seit 2014 Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, der die 23 jüdischen Landesverbände vertritt, in denen insgesamt 104 jüdische Gemeinden mit mehr als 90.000 Mitgliedern organisiert sind. Zugleich ist der Mediziner Vizepräsident des World Jewish Congress und des European Jewish Congress, seit 2020 auch Mitglied im Deutschen Ethikrat. Von 1988 bis 2020 betrieb Schuster als Internist eine Praxis in seiner Heimatstadt Würzburg.

Um welche Orte handelt es sich genau?

Generell ist die Gefahr in Großstädten und in Bereichen mit einem hohen Anteil türkisch- oder arabischstämmiger Menschen, insbesondere Berlin und verschiedene Städte im Ruhrgebiet, größer. Wir sehen, dass auch genau dort die Zahl antisemitischer Vorfälle seit dem 7. Oktober 2023 deutlich zugenommen hat. Der Hintergrund der Täter ist meistens muslimisch beziehungsweise israelfeindlich.

Die israelische Armee plant im Süden des Gazastreifens, wo sich Hunderttausende palästinensische Zivilisten auf engstem Raum drängen, eine weitere Großoffensive. Befürchten Sie eine neue Welle antisemitischer Proteste in Deutschland?

Ich hoffe sehr, dass es nicht dazu kommt. Mittlerweile habe ich das Gefühl, dass sich der Antisemitismus derzeit verlagert: weg von der Straße, hinein in Universitäten und Kultureinrichtungen. Dort war es allerdings immer schon problematisch.

Bei der Abschlussveranstaltung der Berlinale haben Preisträger Israel unwidersprochen einen "Genozid" an den Palästinensern vorgeworfen.

Mit der Berlinale wurde unlängst erneut eine der größten deutschen Kulturveranstaltungen für ideologische Hetze gegen Israel und Juden missbraucht. So darf es nicht weitergehen. Erschreckend ist, dass keiner von der versammelten Politprominenz und den Kulturschaffenden aufgestanden ist und protestiert hat.

Auch die Freie Universität in Berlin ist in die Kritik geraten: Im Dezember besetzten Studierende und Palästina-Aktivisten einen Hörsaal, Anfang Februar wurde der jüdische Student Lahav Shapira von einem pro-palästinensischen Kommilitonen schwer verletzt.

Wer einen jüdischen Menschen beleidigt, bedroht oder angreift, weil er Jude ist oder weil er sich zum Staat Israel bekennt, der überschreitet eine rote Linie. Diese Leute müssen konsequent zur Rechenschaft gezogen werden. Alle.

Passiert das denn?

Ich vertraue dem deutschen Rechtsstaat, aber er muss jetzt zeigen, dass er wirklich durchgreift.

Wie weit darf Kritik an Israel gehen?

Wir leben in einer liberalen Demokratie. Jeder darf frei sagen, was er denkt, auch über den Staat Israel. Wer aber Israel dämonisiert, wer Israel das Existenzrecht abspricht und Doppelstandards anlegt, äußert keine legitime Kritik, sondern überschreitet die Grenze des Erträglichen. Das passiert leider täglich. Was mir außerdem wichtig ist: Eine jüdische Gemeinde in Deutschland ist keine Konsulatsabteilung der israelischen Botschaft.

Bei pro-palästinensischen Protesten in deutschen Städten wünschten Demonstranten Israel und den Juden den Tod. Wie lässt sich dieser grassierende Antisemitismus effektiver bekämpfen?

Eine antisemitische Motivation bei der Begehung einer Straftat wirkt schon jetzt strafverschärfend. Die Gerichte müssen das konsequent durchsetzen. Wir erleben aber immer wieder, dass Gerichte bei arabischstämmigen Straftätern strafmildernde Faktoren wie Fluchterfahrungen, eine schwere Kindheit und dergleichen gelten lassen. So geht jede abschreckende Wirkung verloren. Eine antisemitische Straftat ist eine antisemitische Straftat, Punkt.

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Also was tun?

Ein Richter ist auch nur ein Mensch und kann dementsprechend nicht alles wissen. Wichtig wären Schulungen an den Gerichten, die für eine Sensibilisierung in Sachen Antisemitismus sorgen. Wir sehen da einige vielversprechende Ansätze im Justizwesen, etwa in Bayern: Dort gibt es seit 2021 das Amt des Antisemitismusbeauftragten der Bayerischen Justiz. Auch in Berlin gibt es diesen Beauftragten: Dort leitete die Justiz gegen Mahmud Abbas Ermittlungen ein, nachdem dies zunächst nicht so war. Immerhin.

Der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde hatte 2022 in Anwesenheit von Bundeskanzler Scholz Israel einen "Holocaust an den Palästinensern" vorgeworfen.

Abbas konnte zwar aufgrund seiner diplomatischen Immunität juristisch nicht belangt werden, trotzdem waren die Ermittlungen ein positives Zeichen. So hatte Abbas mit seinem unsäglichen Vergleich nicht das letzte Wort. Ich habe aber grundsätzlich das Gefühl, dass die Mitte der deutschen Gesellschaft den Konflikt im Nahen Osten zwar zur Kenntnis nimmt, aber sich persönlich nicht davon betroffen sieht: Je weiter weg, desto geringer das Interesse.

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Was erwarten Sie seitens der muslimischen Verbände in Deutschland?

Nach dem Hamas-Terrorangriff kam von denen zunächst ein dröhnendes Schweigen. Das war verletzend. Deswegen erwarte ich nun umso klarere Stellungnahmen. Selbstverständlich muss auch das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza thematisiert werden – aber dann möchte ich auch die Ursache thematisiert haben: Die Hamas hat Israel angegriffen, Zivilisten ermordet und verschleppt. Mittlerweile hat es auf Landesebene Gespräche zwischen jüdischen und muslimischen Verbandsvertretern gegeben, in Köln und in Bochum. Aber was ist innerhalb der muslimischen Gemeinschaften darüber kommuniziert worden? Überhaupt nichts!

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Besonders im Internet und in den sozialen Medien ist der Antisemitismus ein gewaltiges Problem. Sollte der Staat stärker eingreifen?

Das sollte er unbedingt. Allerdings sehe ich im Moment noch nicht die juristischen Möglichkeiten. Die Server stehen ja oft im Ausland, wo der Zugriff schwierig ist.

Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz soll Anbieter wie Facebook dazu bringen, konsequenter gegen strafbare Inhalte im Netz vorzugehen.

Der größte Raum für Antisemitismus im Netz ist TikTok. Wir haben hier Kontakt, aber ohne rechtlichen Rahmen ist nichts zu machen. Das Bundesinnenministerium ist an der Sache dran, aber es ist kompliziert.

Sollte der Staat stärker gegen TikTok vorgehen?

Es bringt nichts, allein gegen einzelne Unternehmen vorzugehen. Die Behörden müssten insgesamt aber viel schärfer eingreifen, ja.

Auch indem sie die Plattformen verpflichten, Beiträge schneller löschen zu lassen?

Ja, definitiv. Denn bislang können Täter die antisemitischen Inhalte in Ruhe verbreiten, bis endlich etwas geschieht. Auch als Zentralrat versuchen wir etwas dagegen zu tun, etwa in Form der zu Beginn angesprochenen Kampagne "Stop Repeating Stories" in den sozialen Medien. Sie zeigt, wie sich die Muster von Ausgrenzung und Verfolgung im Nationalsozialismus und im Heute ähneln.

Sie weisen immer wieder darauf hin, dass Bildung der Schlüssel zur Bekämpfung des Antisemitismus ist. Sollte dazu auch ein für Schüler verpflichtender Besuch einer KZ-Gedenkstätte gehören?

Einen solchen Besuch einer KZ-Gedenkstätte für Schüler halte ich für gut. Das darf dann aber nicht als reine Pflichtübung geschehen, sondern muss pädagogisch vor- und nachbereitet werden. Es darf nicht heißen: "90 Minuten sind wir jetzt in Dachau, danach gehen wir Burger essen."

Was kann die Gesellschaft als ganze gegen den Antisemitismus unternehmen?

Es kann doch keine Lösung sein, dass jeder Jude mit einer Kippa auf dem Kopf einen Polizisten zur Seite stehen haben muss! Toleranz ist eine Frage des gesellschaftlichen Klimas. Dafür kann man nicht allein die Politik haftbar machen.

Woran fehlt es also konkret?

Ich vermisse in breiten Teilen der Bevölkerung die Zivilcourage. Wenn im Freundeskreis, am Stammtisch oder am Arbeitsplatz antisemitische Aussagen fallen: Dann muss es Einspruch geben. Ich verlange selbstverständlich von niemandem, sich körperlicher Gewalt auszusetzen, doch mehr Widerspruch gegen Antisemitismus würde im gesamtgesellschaftlichen Klima sicher vieles zum Besseren wenden. Seid mutiger!

Fehlte diese Zivilcourage an der Freien Universität in Berlin? Deren Leitung ist nach der Hörsaalbesetzung und dem Angriff auf Lahav Shapira stark kritisiert worden.

Nach der Hörsaalbesetzung hat die Freie Universität letztlich Strafanzeige gestellt. Dass das nicht so richtig wahrgenommen wurde in der Öffentlichkeit, liegt auch an der Unileitung selbst, die sich nicht zu klaren Aussagen durchringen konnte und leider auch von Uniseite keine eigenen Konsequenzen gegen die Hörsaalbesetzer eingeleitet hat – bis heute. Im Fall von Lahav Shapira hat die Leitung der Universität ebenfalls zu lange für ein klares Signal gebraucht, auch kommunikativ. Nun hat sie dem mutmaßlichen Täter zumindest endlich ein Hausverbot erteilt.

Eine Exmatrikulation kann die Universität laut geltendem Hochschulgesetz nicht aussprechen. Sollte diese Sanktionsmöglichkeit wieder eingeführt werden?

Ja, unbedingt. Eine Universität ist in meinen Augen ein Ort des wissenschaftlichen Diskurses, an dem man selbstverständlich anderslautenden Meinungen zunächst zuhört und sie nicht einfach niederbrüllt oder gar zur Gewalt greift. Eine Exmatrikulation sollte in besonders schweren Fällen ausgesprochen werden. Das würde eine Abschreckung entfalten. Wissen Sie, was mich aber an dem Fall von Lahav Shapira besonders schockiert?

Was?

Der Angreifer ist ein Lehramtsstudent! Also jemand, der künftig andere Menschen unterrichten will. Genügt es nicht, dass es in Thüringen schon einen Geschichtslehrer gibt, der andere Menschen aufhetzt?

Sie meinen den rechtsextremen AfD-Politiker Björn Höcke. Was ist die AfD in Ihren Augen?

Die AfD hat eine rechtsextreme Agenda. Einige Landesverbände sind bereits als rechtsextrem eingestuft, ohne dass dies die Bundespartei stört. Diese Tatsache wird auch immer mehr Menschen klar, was sich zumindest im Augenblick in den Umfragen widerspiegelt.

Haben Sie einen Ratschlag für die Bürger vor den anstehenden Wahlen zum Europaparlament und drei Landtagen in Ostdeutschland?

Jeder sollte sich genau überlegen, wem er hinterläuft. Bietet die AfD Lösungen für drängende Probleme an oder agitiert sie nur? Tatsächlich lebt die AfD von Lügen und Hetze.

Herr Schuster, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Josef Schuster
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