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Gesellschaft in der Krise: Gefühlt lügt einen jeder an


Vertrauenskrise
Gefühlt lügt einen jeder an

MeinungVon Peter Linden

Aktualisiert am 23.02.2022Lesedauer: 7 Min.
Meinung
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Opium für das Volk: Wladimir Putin übt sich in kremltreuen TV-Stationen in prorussischer Propaganda (Archivbild).Vergrößern des Bildes
Opium für das Volk: Wladimir Putin übt sich in kremltreuen TV-Stationen in prorussischer Propaganda (Archivbild). (Quelle: Alexander Ryumin/TASS/imago-images-bilder)

In rasender Geschwindigkeit verliert unsere Gesellschaft den letzten Kitt, der sie zusammenhält: die Fähigkeit, einander zu vertrauen. Woher kommt das? Und ist der Prozess noch aufzuhalten?

Vielleicht war der 18. November 2015 so ein Tag, an dem wieder ein Stück Vertrauen zerbrach.

Mit finstrer Miene und stockender Stimme versuchte der damalige Innenminister Thomas de Maizière auf einer live übertragenen Pressekonferenz die Absage des tags zuvor geplanten Fußball-Länderspiels gegen die Niederlande zu erklären: "Ich verstehe diese Fragen. Aber verstehen Sie bitte, dass ich darauf keine Antwort geben möchte. Warum? Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern."

In das Staunen, die Fassungslosigkeit der Journalisten hinein, fügte er hinzu: "Ich bitte einfach mal die deutsche Öffentlichkeit um einen Vertrauensvorschuss." Es sei nicht möglich, die Einzelheiten so weiterzugeben, dass "die Neugierde" der Menschen befriedigt werde.

Verständliche Fragen. Vertrauensvorschuss. Einfach mal. Neugierde. Als hätte sich ein Kind eben erkundigt, ob es zu Weihnachten auch wirklich das gewünschte Geschenk gibt.

Ja, der 18. November 2015 war so ein Tag, an dem wieder ein Stück Vertrauen zerbrach. Vertrauen, dass die gewählten Vertreter des Volks ihr Volk ernst nehmen. Dass sie auf Augenhöhe mit den Menschen kommunizieren. Dass sie ihre Entscheidungen begründen und belegen. Viele mögen sich in diesem Moment an die DDR erinnert haben, in der noch nicht einmal Pressekonferenzen nötig waren, um den Bürgern zu sagen: Wir da oben wissen schon, was das Beste für euch ist. Also vertraut uns. Seid nicht so neugierig.

Selbst das Selbstvertrauen schwindet

Inzwischen sind sechseinhalb Jahre vergangen, und der Vertrauensvorschuss, wenn es denn je einen gab, ist längst aufgebraucht. In jeder Studie wird deutlich: Das Vertrauen schwindet, es erodiert in wachsender Geschwindigkeit. Im Gefolge der Politiker wird es auch jenen entzogen, die sich in deren Nähe aufhalten.

Der freien Presse. Der universitären Wissenschaft. Der Wirtschaft, den Banken. Den Verbänden, Gewerkschaften, Vereinen. Und wer schon einmal dabei ist, Vertrauen zu entziehen, tut dies bald auch gegenüber Lehrenden, der Familie, den Kirchen und Gott.

Selbstvertrauen? Wenigstens das noch? Wohl kaum, wenn man die vielen Ratgeber betrachtet, die diese letzte Bastion des Vertrauens retten sollen.

Urvertrauen

Dabei beginnt jedes Leben mit nichts anderem als: Vertrauen. Urvertrauen. Ein Säugling hat weder die Wahl noch das geistige Vermögen, das Urvertrauen in seine Mutter infrage zu stellen. Der Säugling vertraut, weil er nicht anders kann. Es lohnt sich, dass die Natur es so eingerichtet hat: In der überwältigenden Mehrheit werden aus den Säuglingen lebensfähige, von den Eltern unabhängige Erwachsene.

Peter Linden, Germanist und Romanist, schreibt und referiert als Autor, Essayist und Coach vor allem zu Themen rund um Sprache und Sprachen. Zuletzt erschien bei audible sein Linguistik-Podcast "Babylonische Verhältnisse". Das Thema "Erosion des Vertrauens" beschäftigt ihn seit vielen Jahren als Journalist, Staatsbürger und Vater.

Es ist, historisch betrachtet, noch nicht lange her, da akzeptierten die Menschen, dass sie auch gegenüber ihren Gottheiten nichts anderes waren als mit Urvertrauen ausgestattete Säuglinge. Dass sie nicht die Wahl und nicht das geistige Vermögen hatten, die Existenz übernatürlicher Kräfte und Wesen infrage zu stellen.

Es gibt ihn sogar noch heute, den von Rousseau und Voltaire beschriebenen und idealisierten "bon sauvage": die letzten von der Zivilisation unberührten Menschen, deren Beziehungsnetze untereinander, zur Natur, zu den Göttern seit Urzeiten stabil geblieben sind, denen Zweifel und Misstrauen fremd sind.

Papst, Königin, Stammesfürst

Doch überall sonst begannen Menschen, sich neben Gott, ja über Gott, vor allem aber über andere Menschen zu stellen. Es bildeten sich Hierarchien heraus, die nicht mehr allein auf Urvertrauen und allseits anerkannter Fähigkeit und Überlegenheit beruhten. Das Urvertrauen schwand, an seine Stelle trat das Vertrauen.

Vertrauen kann enttäuscht werden. Und Vertrauen wird enttäuscht. Der Papst, der Kaiser, die Königin, der Herzog, der Stammesfürst, sie alle können Vertrauen rechtfertigen oder enttäuschen. Meist hofften die Menschen, dass der nächste Papst, die nächste Königin es besser machen würde. Die Enttäuschung, die sie durch einzelne Personen erfuhren, führte zunächst nicht dazu, dass sie ganzen Institutionen misstrauten.

Ära der Zweifel

Erst mit dem Zeitalter der Aufklärung änderte sich auch das. Die Wissenschaft bedrängt die Dogmen des Glaubens insgesamt. Soziale Bewegungen bedrängen die Macht der Aristokratie als solche. Republiken werden ausgerufen, Religionen reformiert, die Existenz Gottes infrage gestellt.

Die neue Ära der Zweifel geht einher mit einer Ära der Zweifel am Zweifeln. Teile der Menschheit sehnen sich nach der guten alten Zeit der Gewissheiten. Sie verfluchen die Gottlosen, wünschen Diktaturen herbei. Erzwungenes Vertrauen soll verlorenes ersetzen.

Für einige Jahrzehnte scheint es, als erfüllten sich ihre Wünsche. Dann versinkt das 1.000-jährige Reich, es stürzen die Francos, Salazars, Pinochets, Videlas. Nicht einmal Russland und China vermögen es noch, das Vertrauen ihrer Bürger und Bürgerinnen zu erzwingen. Verstummen ist etwas anderes als zustimmen.

1968 und die Folgen

Im Westen verkehren sich spätestens mit den 1968er-Revolten die Verhältnisse. Anstatt Vertrauen einzufordern, müssen sich die Mächtigen plötzlich rechtfertigen. Und beileibe fordern nicht nur die Bürger die Politik heraus oder Studierende ihre Professoren. In der Pädagogik ersetzen Begründungen Befehle, Begeisterung verdrängt Bestrafung.

Bis hinein ins Werbefernsehen reicht die Umkehr der Paradigmen: Das alternativlose Vertrauen der Konsumentinnen in ein Produkt weicht dem Erklärungsdruck zunehmend demütiger Produzenten.

Vertrauen will, ja muss auf allen Ebenen verdient werden, es wird nicht mehr bedingungslos gewährt, geschweige denn gibt es einen "Vorschuss". Zweifel gilt als aufgeklärt, Vertrauen mehr und mehr als naiv. Vielleicht ist dies eine der nachhaltigsten Folgen der 1968er-Bewegung. Eine der segensreichsten. Und eine der fatalsten.

Zersetzende Zweifel

Denn bald beginnen die Zweifel zu grassieren. So aufgeklärt sie daherkommen, so zersetzend wirken sie. Alles und jedermann steht plötzlich im Generalverdacht, verlogen, hinterhältig, egoistisch zu handeln. Und jeder Einzelfall, in dem sich der Verdacht als berechtigt erweist, unterminiert die gesamte Institution, in deren Rahmen er sich ereignet hat.

Ein Politiker hat gelogen? Alle Politiker lügen. Ein Wissenschaftler hat bei seiner Forschung für Geld Ergebnisse verfälscht? Alle Wissenschaftler fälschen Ergebnisse.

Ein Chefredakteur hat Mitarbeiterinnen sexuell genötigt? Ein Prominenter hat bei seiner Doktorarbeit gemogelt? Ein Schiedsrichter hat ein Spiel verschoben? Ein Vereinsvorsitzender hat Steuern hinterzogen?

Ein Medium ist einer falschen Meldung aufgesessen? Fake News! Fake News! Fake News! Binnen zwei Jahren, von 2019 bis 2021, ist das Vertrauen in die traditionellen Medien von 65 Prozent auf 53 Prozent gesunken. Die große Erosion verschont selbstverständlich auch nicht die sozialen Medien. Deren vertrauensvolle Gefolgschaft sank von 43 auf 35 Prozent.

Die digitale Welt

Vertrauenserosion ist eine Frage der Frequenz. Je öfter man hört, die Mondlandung sei ein Fake, umso wahrscheinlicher erscheint es einem. Das ist ein Fakt. Gehirnforscher haben es bewiesen.

Kein Wunder, dass die Erosion sich zu einem gewaltigen Erdrutsch entwickelt, seit jedermann nur vage begründete oder auch erfundene Zweifel mit ein paar Klicks tausendfach multiplizieren kann. Das Zweifeln wird durch eine Flut an Halbwahrheiten und Lügen genährt, nichts scheint mehr, was es ist. Und irgendwann ist nichts mehr, was es ist. Sogar die Kreationisten haben wieder Zulauf.

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Bubbles. Parallelwelten.

Gefühlte Wahrheiten

An die Stelle des Vertrauens in demokratisch legitimierte Institutionen, an die Stelle der Informationen aus seriösen Quellen treten gefühlte Wahrheiten. Immer häufiger sind Sätze zu hören, in denen "gefühlt" 40 Grad herrschten oder eine Warteschlange "gefühlt" zehn Kilometer lang war. Gefühlt begeht jeden Tag irgendein Ausländer ein Kapitalverbrechen. Gefühlt lügt einen jeder an.

Außer jene handverlesenen Personen, die einem exakt das sagen, was man fühlt. Die beste Ärztin ist nicht mehr die, die eine ehrliche Diagnose erstellt, sondern jene, die sagt, was die Kranken hören möchten. Der beste Virologe der, der vorrechnet, Corona sei eine ganz normale Grippe. Der beste Wissenschaftler der, der die Klimakatastrophe leugnet, zumal draußen gefühlt schon wieder minus zehn Grad herrschen.

Zu den gefährlichsten Begleiterscheinungen der Erosion des Vertrauens gehört die Abkehr von der Wissenschaft. Zumal diese Erosion aus einer zweiten Quelle gespeist wird. Für Jahrhunderte stand Wissenschaft synonym für Fortschritt im Sinne von mehr Freiheit. Die Elektrizität, das Auto, das Flugzeug, Antibiotika – beinahe jeder wissenschaftliche Durchbruch bedeutete mehr Möglichkeiten, mehr Kontrolle über das eigene Leben.

In Zeiten von Überbevölkerung, Klimakatastrophe und Pandemie steht Wissenschaft (auch) für das Gegenteil. Sie prognostiziert Verluste an Lebensraum, an Lebensqualität, an Lebenserwartung. Sie fordert oder prognostiziert Einschränkungen. Gefühlt will die Wissenschaft den Menschen in den reichen Ländern plötzlich den Spaß verderben.

Alle gegen den Staat

Auch der Neoliberalismus hat sich, quasi als Kollateralschaden seiner eigenen Ideologie, an der Zerstörung der Vertrauenskultur beteiligt. Wer den Staat unaufhörlich als gierig (Steuern), bevormundend (Gesetze und Regeln), ineffektiv und aufgebläht (Beamtentum) kritisiert, zerstört mittelbar das Vertrauen in das Gemeinwesen an sich.

Die grundsätzliche Staatskritik suggeriert, ein starkes Individuum sei letztlich immer stärker als das schwache Kollektiv. Und berechtigt, sich über dieses Kollektiv zu stellen.

Und wenn dieses Individuum doch schwächer sein sollte, als es sich fühlt? An wen soll es sich wenden, sobald Zweifel und Misstrauen alle Wege versperrt haben? Sobald sogar die gedruckten Ratgeber und Coachings versagen? In die Arme von Verschwörungstheoretikern?

Oder doch an all jene Bäckerinnen, Schneider, Nachbarinnen, Sanitäter, Polizisten, Lehrerinnen, Presseleute, Bürgermeister, Forscherinnen, die helfen könnten, besser zurechtzukommen in einer zunehmend komplexen und komplizierten realen Welt?

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Vertrauen ist keine Währung

Ja, Vertrauen kann und wird weiterhin enttäuscht werden. Und doch ist Vertrauen die in keinem Grundgesetz der Welt formulierte Präambel, auf deren Basis Gesellschaft überhaupt funktionieren kann. Das Grundelement jeder Zweierbeziehung, Familie, Gruppe, Gemeinschaft. Eine Gesellschaft, die verlernt hat, zu vertrauen, verbittert und verkümmert.

Zunächst mental, dann auch physisch. Wut als Dauerzustand ist wie ein Krebsgeschwür. Sie macht die Seele und den Körper krank. Und sie löst keines der Probleme, gegen die sie sich wendet.

Dies gilt auch und besonders für all jene Machtmenschen, die wie Thomas de Maizière von oben auf diese Gesellschaft zu blicken scheinen. Die es sich herausnehmen, jenen zu misstrauen, von denen sie gewählt worden sind. Die desinformieren und dafür auch noch "Vertrauensvorschuss" fordern. Vertrauen ist kein Deal. Vertrauen ist keine Währung, keine Ware. Vertrauen ist ein Zustand des Gleichgewichts.

So gesehen muss ein Teil von de Maizières Antworten noch heute verunsichern.

Der Terrorverdacht in Bezug auf das Fußballspiel stellte sich im Nachhinein als unbegründet heraus. Weder im noch am Stadion wurde Sprengstoff gefunden.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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